Kapitel 3
Den restlichen Tag verbrachten Caya und ich gemeinsam. Wir schlenderten an den zahlreichen Ständen vorbei, wo diverse Clubs und Mannschaften für sich warben, naschten von leckeren Essensständchen, die extra für den heutigen Tag errichtet wurden und Caya zwang mich sogar, auf der berühmten grasgrünen Wiese des Old Campus' zu den Songs, die das Yale Orchester zum Besten gab, zu tanzen. Unter normalen Umständen, wäre ich niemals auf die Idee gekommen, als einzige hier inmitten auf dem Rasen das Tanzbein zu schwingen. Doch Cayas offene und lebenslustige Art war ansteckend. Noch nie zuvor hatte ich jemanden wie sie getroffen. Jemand, der so herzlich war und bei dem ich das Gefühl hatte, ihn schon ewig zu kennen - und das obwohl wir uns heute Morgen zum ersten Mal begegnet waren.
Caya nahm mich bei der Hand und wirbelte mich durch mehrere Drehungen, was mir ein Lächeln nach dem anderen aufs Gesicht zauberte.
Schon lange hatte ich mich nicht mehr so frei und lebendig gefühlt, wie in diesem Moment. Bisher hatte mein ganzes Leben nur daraus bestanden, Lernen, außerschulischen Aktivitäten und Klinikaufenthalte unter einen Hut zu bekommen. Doch hier, auf der Wiese des Old Campus' und an Cayas Seite, fühlte sich plötzlich alles unbeschwert und leicht an. Denn ich war angekommen. Ich war endlich angekommen. Ich hatte es tatsächlich nach Yale geschafft. Nur mit Mühe konnte ich in diesem besonderen Augenblick die Tränen unterdrücken.
Ich war glücklich.
Ich lebte.
Kurz legte ich mir die Hand aufs Herz.
Es schlug.
Eins, zwei.
Eins, zwei.
Eins, zwei.
Caya beförderte mich in eine weitere Pirouette und ich lachte aus tiefster Seele. Ich liebte das Tanzen. Schon immer. Früher hatte ich in einer Tanzschule Contemporary Dance getanzt. Aufgrund meiner Herzerkrankung jedoch musste ich meine Leidenschaft auf Eis legen. Das hatte mich schwer getroffen. Aber hier, auf dem Rasen der Yale University, spürte ich meine frühere Leidenschaft wieder aufflammen. Spürte, wie sehr ich es vermisste, mich zu bewegen, der Musik hinzugeben, den Beat zu fühlen.
Leider ging mir viel zu schnell die Kraft aus. Mein Herz schlug wie verrückt, der Schweiß begann mir über die Stirn zu rinnen und allmählich kündigten sich auch die ersten Kreislaufprobleme an.
»Was ist los? Hast du keine Ausdauer, du faule Socke?«, lachte Caya, aber natürlich entging ihr meine heftige Reaktion auf das bisschen Tanzen keineswegs, dazu war sie viel zu aufmerksam.
»Hey, ist alles in Ordnung?«, sie zog die Stirn kraus und ein besorgter Ausdruck huschte über ihr Gesicht, als mich ein heftiger Hustanfall packte. Ich litt unter der sogenannten Linksherzinsuffizienz, die durch einen genetischen Defekt hervorgerufen wurde. Dies hatte zur Folge, dass meine linke Herzkammer nicht mehr in der Lage war, das Blut adäquat in meinem Körper zu verteilen. Dadurch kam es zu einem Rückstau des Blutes, das bis zur Lunge reichen konnte. Dem Körper fehlte es dadurch an Sauerstoff und so entstanden typische Symptome wie Husten, Atemnot, verminderte Leistungsfähigkeit und Kreislaufprobleme. Alles Symptome, die ich nur allzu gut kannte. Tja, und deshalb stand ich nun hier und keuchte mir die Seele aus dem Leib. Dieses verdammte Herz gönnte mir aber auch nicht einmal einen klitzekleinen Moment der Freude...
»Alles gut, geht gleich wieder. Ich habe mich nur etwas übernommen«, verharmloste ich die Situation. Caya warf mir einen skeptischen Blick zu. Einen Blick, der viel zu scharfsinnig war. Nun gut, es war auch nicht sonderlich schwierig zu erraten, dass mit mir etwas nicht stimmte, wenn mir gerade mal nach einer Minute schon die Puste ausging. Auch wenn ich mein Bestes gab, um mir nichts anmerken zu lassen. Ich wollte keine Sonderbehandlung, nur weil ich todkrank war.
»Komm, setz dich mal«, Caya führte mich zu einer Bank ganz in der Nähe, wo ich eine kleine Verschnaufpause einlegen konnte. Ich versuchte ruhig zu atmen, während ich mir immer wieder die Hand aufs Herz presste, um meinen Herzschlag zu fühlen.
Eins, zwei.
Eins, zwei.
Eins, zwei.
Allmählich beruhigte sich meine Atmung wieder. Ich wandte mich an Caya, die mich noch immer mit durchdringendem Blick beobachtete.
»Puh, an mir ist sicherlich keine Sportskanone verloren gegangen«, scherzte ich und versuchte somit die angespannte Stimmung aufzulockern. Caya hob zweifelnd die Brauen und schob sich eine rote Haarsträhne, die sich aus einem ihrer Buns gelöst hatte, hinters Ohr.
»Vielleicht solltest du dich mal durchchecken lassen«, riet sie mir.
»Ich gehe regelmäßig zum Arzt«, ich lächelte schwach. Das war nicht einmal eine Lüge. Schließlich hatte ich in der Tat alle zwei Wochen einen Termin bei Dr. Heyck, meinem Kardiologen, zur Kontrolle. Außerdem führte ich auch sehr akribisch mein Herz-Tagebuch, in welchem ich jeden Morgen meinen Blutruck, mein Gewicht und mögliche Symptome eintrug. Ich war eine Vorzeige-Herzinsuffizienz-Patientin, wie sie im Buche stand.
Nachdem ich auf möglichst subtile Art und Weise vom Thema abgelenkt hatte, ließ ich mich von Caya dazu überreden, noch ein wenig den Campus zu erkunden, ehe es mit der Begrüßungsfeier weiterging. Wir besuchten zahlreiche Kunstwerke vom Old Campus, bis zum Sciene Hill, vom Brandford College bis zur Memorial Hall. Besonders interessant fand ich auch die vielgeliebte Bronzestatue des ehemaligen Yale Präsidenten, Theodore Dwight Woolsey, die auf einem Sockel inmitten des Old Campus' thronte. Sie besaß eine kraftvolle Präsenz und diente als ein Symbol für Lernen und Weisheit. Ich hatte unendlich viel Spaß.
Am Mittag wurden wir schließlich vom Präsidenten in Form einer sehr fesselnden Rede und dem berühmten Yale Yule Log Kuchen - ein riesiger Kuchen in Y-Form - höchstpersönlich willkommen geheißen.
Während ich den Worten von Peter Salovey lauschte, überkam mich eine tiefe Dankbarkeit, insbesondere meinen Eltern gegenüber. Obschon es mein eigener Verdienst war, von Yale angenommen worden zu sein, so verdankte ich es dennoch meinen Eltern, hier studieren zu dürfen. Die Studiengebühren waren für einen jungen Menschen wie mich nahezu unbezahlbar und lagen definitiv im oberen Preissegmont, weshalb Mom und Dad mir ihre finanzielle Unterstützung zugesichert hatten. Natürlich war es ein seltsames Gefühl zu wissen, dass man auf die eigenen Eltern angewiesen war, dass sie für all die anfallenden Spesen meiner Ausbildung aufkamen. Dennoch milderte die Tatsache, dass sie es gerne und aus Liebe taten, mein schlechtes Gewissen etwas ab. Davon abgesehen stürzten sich die beiden mit ihrem überaus guten Einkommen als erfolgreiche Juristen nicht gerade in Unkosten.
Jap, meine Eltern waren ein beispielgebendes Power-Pärchen. Doch obwohl sie so hart arbeiteten, hatte es mir nie an Zeit oder Zuwendung ihrerseits gefehlt. Ihre Tochter hatte schon immer an erster Stelle gestanden. Womöglich hatte ich mir deshalb in den Kopf gesetzt, an den Ort zu gehen, an dem sich die beiden kennengelernt hatten. Hier, in Yale. Am Tag des First-Year Tanzes.
Der First-Year Tanz wurde jedes Jahr im Januar für die Erstsemestler veranstaltet. Es war Tradition, dass man sich als Mitbewohner gegenseitig ein Date organisierte. Das Lustige an der ganzen Sache jedoch war, dass man die Identität seines Dates erst am Abend das Tanzes herausfand - und das auch noch durch eine äußerst lustige und kreative Aufgabe. Bei meinen Eltern war es so, dass beide ein Puzzleteil erhielten, die zusammengehörten. Moms Mitbewohnerin war jedoch schlau genug, um einer Gruppe anderer Studenten ebenfalls Puzzleteile zuzustecken und so waren Mom und Dad den ganzen Abend über damit beschäftigt, ihr passendes Puzzlestückchen und Partner zu finden. Die beiden hatten sich vorher noch nicht gekannt und so war dieser Ball ihr erstes Date - jedoch nicht ihr Letztes, denn ich war der lebende Beweis dafür.
Ich wusste nicht, wie oft ich Mom und Dad dazu überredet hatte, mir ihr Kennenlernen zu erzählen. Hunderte Male reichten bei Weitem nicht aus. Die Geschichte war einfach zu romantisch...
Nachdem ich damit fertig war, in Erinnerungen zu schwelgen und die Begrüßungszeremonie ihr Ende gefunden hatte, spazierten Caya und ich noch etwas über den New Haven Green, eine riesige private Parkanlage, die auch als Festivalplatz diente und sich direkt neben dem Old Campus befand. Sie war bekannt dafür, ein Zufluchtsort für viele Studenten zu sein, die sich hier entweder die Sonne auf den Pelz scheinen ließen, sich zum Picknicken verabredeten oder aber auch zum Lernen. Insbesondere im Sommer war der Park ein beliebtes Ziel vieler Anwohner.
Wir waren im Begriff, uns ein gemütliches Plätzchen zu suchen, als aus dem Nichts eine Frisbeescheibe auf uns zuflog.
»Achtung, ducken!«, hörte ich eine aufgeregte männliche Stimme rufen. Ich konnte nicht schnell genug reagieren, dafür schien Caya jedoch ein ausgesprochen gutes Reaktionsvermögen zu besitzen. Blitzschnell hob sie die Hand und fing die Frisbeescheibe ein paar Millimeter vor meiner Nase ab. Erschrocken blinzelte ich ein paar Mal.
»Puh, das war echt knapp«, ein hübscher Junge mit braunen Augen, die perfekt mit seinem dunklen Hautton harmonierten, kam lächelnd auf uns zu. Unmittelbar vor Caya und mir kam er zum Stehen und schenkte uns ein strahlendes Lächeln, das eine Reihe weißer Zähne entblößte. Zwar war der Junge nur ein paar Zentimeter größer als wir, dafür aber ziemlich gut gebaut. Er trieb sicherlich jede Menge Sport, ich tippte auf Football.
»Hey, ich bin Noah«, er richtete sich seine graue Snapback Cap von New Era, die falsch herum auf seinem Kopf saß und ich erhaschte dabei einen kurzen Blick auf kurzrasierte, schwarze Haare.
»Hey Noah, ich bin Laney«, ich erwiderte sein Lächeln und wartete darauf, dass auch Caya sich vorstellte. Doch Caya war verstummt. Als ich einen Blick in ihre Richtung warf, wusste ich auch weshalb.
Mit offenem Mund und weit aufgerissenen Augen stand meine neu gewonnene Freundin neben mir und starrte Noah an, als käme er von einem anderen Planeten.
»Ähm«, Noah schien Cayas Starren wohl nicht zu entgehen, denn er räusperte sich verlegen. »Alle Achtung, gut gefangen!«, zollte er ihr Anerkennung.
Noch immer kam kein einziges Wort über Cayas Lippen, woraufhin ich ihr einen Ellbogen in die Rippen stieß. Dies schien sie aus ihrer unhöflichen Starre zu lösen. Sie blinzelte ein paar Mal und lief dann bis zu den Haarwurzeln rot an.
»D-danke«, piepste sie.
Ich warf ihr einen belustigten Blick zu. Ich hätte nicht damit gerechnet, dass Caya so schüchtern sein konnte. Noah lächelte.
»Und hast du auch einen Namen?«, fragte er sie neugierig.
»Caya«, erwiderte sie leise.
»Schön euch kennenzulernen, Laney und Caya«, er neigte leicht den Kopf. »Sorry für den kleinen Unfall mit der Frisbeescheibe, Yuki ist keine besonders talentierte Spielerin«, lachte er und deutete hinter sich auf ein Mädchen, das gemeinsam mit einem anderen Jungen ein paar Meter entfernt stand und schuldbewusst in unsere Richtung schaute.
»Ach was, Caya hat mich schließlich gerettet, nicht wahr?«, ich legte meiner Freundin einen Arm um die Schulter und warf ihr einen eindringlichen Blick zu, um sie zum Reden zu animieren.
Sie nickte lediglich und ihre Wangen röteten sich erneut.
»Na gut ähm«, Noah kratzte sich am Hinterkopf. »Habt ihr Lust euch vielleicht anzuschließen?«
Ich sah Caya fragend an, um herauszufinden, wie sie zu Noahs Angebot stand. Ihre leuchtenden Augen waren Antwort genug. Da ich mir allerdings denken konnte, dass sie den Teufel tun würde, um Noahs Vorschlag anzunehmen, übernahm ich das Reden.
»Klar, sehr gerne!«, ich grinste. »Leider habe ich aber nicht die beste Ausdauer, weshalb ich hin und wieder ein Päuschen einlegen muss«, machte ich gleich zu Beginn deutlich, da ich mir sicher war, dass mein Kreislauf nach ein bisschen Bewegung sofort wieder rebellieren würde.
»Das ist schon in Ordnung«, Noah lachte. »Yuki ist auch eine absolute Bewegungslegasthenikerin.«
Er bedeutete uns mitzukommen. Ich hakte mich bei Caya unter und zog sie mit mir.
»Was tust du da?«, zischte sie leise, sodass Noah, der voranging, uns nicht hören konnte.
»Wonach sieht es denn aus? Ich tue dir einen Gefallen. Er gefällt dir doch, oder?«
»Du blamierst mich, Laney!«, sie betrachtete Noahs Rücken.
»Das tust du schon selbst« erwiderte ich trocken. »Du starrst ihn sabbernd an ohne ein einziges Wort zu sagen.«
»Ich habe gesabbert?«, entfuhr es ihr entgeistert und ihre braunen Augen weiteten sich geschockt. Hastig befühlte sie ihren Mund, was mir ein lautes Lachen entlockte.
Wir erreichten Noahs Freunde, mit denen er uns sogleich bekannt machte. Yuki, das Mädchen, das mich mit der Frisbeescheibe beinahe einen Kopf kürzer gemacht hätte, war ein recht schüchternes Mädchen mit asiatischen Wurzeln und beneidenswert feinen Gesichtszügen, die von pechschwarzem Haar umrahmt wurden. Sie war noch kleiner und schmächtiger als ich, was fast schon ein Ding der Unmöglichkeit war. Doch das tat ihrer Schönheit in keinster Weise Abbruch. Ganz im Gegenteil, sie wirkte so fein und anmutig, dass sie mich an eine zarte, kleine Elfe erinnerte.
»Hallo Ladys«, säuselte Luan, wie er sich uns vorstellte, der Typ, der neben Yuki stand. »Lust auf eine Runde körperliche Betätigung?«, er zwinkerte uns zu. Luan war das Abbild eines typischen Surferboys. Blondes Haar, blaue Augen und ein charmantes Lächeln auf den Lippen.
Ich war beeindruckt davon, wie unterschiedlich diese kleine Truppe war. Doch ich erinnerte mich daran, dass es genau das war, wofür Yale stand. Für die Vielfalt. Yale wollte Menschen von überall auf der Welt eine Chance auf die bestmögliche Ausbildung bieten. Ganz gleich welche Herkunft, Ethnie oder Hautfarbe. Yale war ein Ort der Diversität, der Akzeptanz und des Respekts.
Hier war jeder Mensch gleich.
»Luan«, Noah seufzte. »Vertreib die beiden nicht gleich wieder mit deinen einfallslosen Anmachsprüchen.«
»Du hast gut reden«, konterte Luan schlagfertig. »Hast du etwa eine Freundin, huh? Das letzte Mädchen, das dir gefallen hat, stand auf Frauen.«
Caya neben mir schnappte laut nach Luft.
»Autsch«, Noah verzog schmerzvoll das Gesicht und griff sich theatralisch an die Brust. »Das tat weh.«
In der nächsten Sekunde ging Noah auf Luan los und nahm ihn in den Schwitzkasten. Die beiden rangelten lachend miteinander. Das Verhalten der Jungs entlockte Yuki einen leisen Seufzer.
»Sind die beiden immer so?«, fragte ich sie, was sie mit einem schüchternen Nicken quittierte.
Sie schien keine Person der großen Worte zu sein.
Nachdem sich die beiden Jungs wieder voneinander lösten, gingen wir zu unserem eigentlichen Vorhaben über - Frisbee spielen. Es war nahezu eine unausgesprochene Tradition, auf dem New Haven Green Frisbee zu spielen. Es hieß, wer das nicht mindestens einmal in seiner Studienzeit tat, war kein richtiger Yalie.
In dem Moment, als ich mit Caya, Noah, Luan und Yuki zu spielen begann, verstand ich den Wirbel um diesen Brauch - es machte verdammt viel Spaß! Ich kam gar nicht mehr aus dem Lachen heraus, während wir wie die Verrückten einer Frisbeescheibe hinterher jagten. Der krönende Abschluss war, als Caya und ich zusammenstießen und beide mit dem Hintern auf der Wiese landeten.
Unglücklicherweise musste ich danach schon wieder Pause machen, da mir etwas schwummerig vor Augen wurde. Während Noah und Luan mich damit aufzogen, was ein Waschlappen ich doch sei, ließ ich mich ins Gras sinken und verfolgte ihr Spiel lieber nur noch als Zuschauer.
Auch wenn mich ihre Verhöhnungen auf gewisse Art und Weise verletzten, nahm ich es ihnen nicht übel. Schließlich wussten sie nichts von meiner Krankheit. Zu gerne wäre ich weiter mit ihnen über den Rasen geflitzt, aber ich durfte nicht. Ich hatte meinen Körper heute schon mehr als genug strapaziert - und dies forderte nun seinen Tribut.
Zwanzig Minuten später ging Caya überraschenderweise als Sieger hervor, sehr zu Luans Missfallen. Noah ließ sich selbstverständlich keine Gelegenheit entgehen, um seinen Freund damit aufzuziehen. Caya kam auf mich zu und ließ sich neben mir ins Gras fallen. Die anderen taten es ihr gleich. Als Noah sich dicht neben sie setzte, versteinerte sie und setzte sich kerzengerade auf. Ihre Reaktion amüsierte mich, passte es doch so gar nicht zu den großspurigen Kommentaren, mit denen sie mich vorhin noch in Bezug auf Professor Wright aufgezogen hatte.
Professor Wright.
Allein der Gedanke an ihn schaffte es, meine Stimmung auf den absoluten Nullpunkt sinken zu lassen.
Postwendend verbannte ich ihn aus meinem Kopf und konzentrierte mich auf das Gespräch mit den anderen.
Noah erzählte, dass er aus Seattle kam und nach seinem Abschluss an der Garfield High ein Sportstipendium hier in Yale angeboten bekommen hatte, um College-Football zu spielen. Nebenher studierte er Wirtschaft im dritten Semester. Meine erste Vermutung war also richtig - Footballer. Er und Luan hatten sich letzten Herbst hier am College kennengelernt, während Yuki und Luan sich schon von Kindestages auf kannten. Sie waren zusammen aufgewachsen. Yuki war jedoch ein Jahr jünger, als Luan, weshalb sie ihm erst dieses Semester nach Yale folgen konnte.
»Welche Position beim Football spielst du?«, fragte Caya plötzlich an Noah gewandt. Allem Anschein nach schien sie ihre Stimme endlich wiedergefunden zu haben, was sie wohl unserem kleinen Frisbeetunier zu verdanken hatte.
»Quarterback natürlich«, Noah lächelte stolz. »Kennst du dich aus mit Football?«
»Klar. Mein Dad und ich schauen uns jedes Spiel zusammen an.«
Caya überraschte mich immer wieder aufs Neue. Ich hätte niemals gedacht, dass sie sich so sehr für Sport begeisterte.
»Lieblingsmannschaft?«, Noah kniff erwartungsvoll die Augen zusammen, als würde Cayas Antwort auf seine Frage darüber entscheiden, ob er sie mochte oder nicht.
»Was für eine Frage, natürlich die Patriots«, erwiderte sie mit einer Selbstverständlichkeit, die mich fast schon überzeugte, dass es ebenfalls meine Lieblingsmannschaft sein könnte, hätte ich mich denn für Football interessiert.
»Lieblingsspieler?«, Noahs Inquisition war noch nicht vorüber.
»Ich bitte dich«, erwiderte Caya trocken und hob eine Braue. »Tom Brady, wer denn sonst?«
»Braves Mädchen«, Noah nickte anerkennend und schien zufrieden mit Cayas Aussage zu sein, was ihr ein Grinsen entlockte.
Na also, das Eis zwischen den beiden schien gebrochen zu sein!
»Ich verstehe nur Bahnhof«, entgegnete Yuki kopfschüttelnd und nahm sich einen Apfel aus ihrem Rucksack.
»Ach komm schon, du bist doch selbst ein Nerd, Yuki!«, Luan lachte und brachte Yuki somit zum Erröten.
»Was studierst du?«, fragte ich sie.
»Informatik im ersten Semester«, antwortete sie knapp und polierte sorgfältig ihren Apfel, bis er glänzte. Yuki schien sehr speziell und zurückhaltend zu sein, aber aus unerfindlichem Grund mochte ich sie. Sie machte Anstalten, in ihren Apfel beißen zu wollen, als Luan ihn ihr vor der Nase wegschnappte. Ein provokantes Lächeln huschte über sein Gesicht, während er lautstark kaute.
Falls Yuki sich über Luans Unverschämtheit ärgerte, so ließ sie es sich jedoch nicht anmerken. Stattdessen ignorierte sie ihn und richtete ihre Aufmerksamkeit auf etwas anderes.
»Okay, was studiert ihr?«, verlangte Noah von Caya und mir zu wissen.
»Wir studieren beide Philosophie«, entgegnete ich und spürte sogleich wieder den Stolz in meiner Brust anschwellen.
»Ah!«, Noah lächelte. »Philosophie. Die Mutter der Wissenschaft.«
»Touché«, Caya grinste und kurz hatte ich das Gefühl, als würde es zwischen ihnen funken.
»Also ich studiere Jura im Dritten«, protzte Luan und versuchte die Aufmerksamkeit wieder auf sich zu lenken. Ganz offensichtlich stand er gerne im Mittelpunkt.
»Wie langweilig«, stichelte ich. »Studiert nicht jeder in Yale Jura?«
Noah und Caya brachen in schallendes Gelächter aus und selbst Yukis Lippen zierten ein leichtes Lächeln.
»Hey!«, empört verschränkte er die Hände vor der Brust. »Yale ist bekannt für diesen Studiengang und gilt als die führende Law School in den ganz USA!«, brüstete er sich.
»Wenn ich es mir so Recht überlege... Er hat tatsächlich Ähnlichkeiten mit Mike Ross aus der Serie Suits, oder was meint ihr?«, verspottete ich ihn. »Aber warte! Der hat doch gar keinen College Abschluss!«
»In der sechsten Staffel wird er von der New York State Bar zum offiziellen Anwalt ernannt!«, rechtfertigte Luan sich und outete sich somit als Suits-Fan.
»Okay, okay«, ich hob beschwichtigend die Hände. »Sollte ich jemals rechtliche Hilfe in Anspruch nehmen müssen, wende ich mich an dich.«
Luan hob eine Braue, ließ es allerdings auf sich beruhen.
»Na schön, was hält ihr davon, noch etwas trinken zu gehen?«, fragte Noah in die Runde. »Direkt da vorne um die Ecke in der Chapel Street ist ein ziemlich cooles Café.«
»Oh, meinst du das Book Trader?«, Caya warf ihm einen fragenden Blick zu.
»Ja!«, Noahs Gesicht erhellte sich. »Warst du schon einmal dort?«
Caya nickte. »Heute Morgen vor meiner Ankunft, der Kaffee war köstlich.«
»Na dann«, ich lächelte in die Runde. »Nichts wie hin.«
♥
Kurze Zeit später saß ich gemeinsam mit Noah, Luan, Yuki und Caya im Café und nippte an meiner Tasse. Das Book Trader Café war nur einen kleinen Fußmarsch von fünf Minuten vom Old Campus entfernt - und der Kaffe war in der Tat köstlich. Doch das dunkle Gebräu war es nicht, das mich in Staunen versetzte, jedenfalls nicht nur. Es war vielmehr das Ambiente und die Atmosphäre hier. Die Wände bestanden aus rotem Ziegelstein und wurden gesäumt von einem Bücherregal nach dem anderen, wie der Name des Cafés bereits versprach. Das Dach und die Frontseite waren verglast, ebenso wie die Wand zur Rechten innerhalb des Cafés, die auf eine gemütliche Terrasse hinaus führte. Da wir schönes Wetter hatten, waren die heiß begehrten Plätze draußen alle gar besetzt, weshalb wir mit einem Tisch im Innern des Cafés vorlieb nehmen mussten.
Es stellte sich heraus, dass Noah durchaus eine Person mit Entertainmentqualitäten war, denn er gab eine Geschichte nach der anderen zum Besten. Unterdessen schmachtete Caya ihn die ganze Zeit über mit glänzenden Augen an, Luan gab hin und wieder einen unnötigen Kommentar ab und Yuki verfolgte das Ganze stumm. Lediglich ihre Mimik verriet hin und wieder, dass sie unseren Gesprächen überhaupt folgte. Sie sprach nicht viel.
»Und jetzt sind die beiden einfach verlobt!«, Noah schüttelte ungläubig den Kopf. »Könnt ihr euch das vorstellen?«, er berichtete gerade von irgendwelchem Klatsch und Tratsch seiner alten Schule, der Garfield High School in Seattle, bei dem es um eine Liebesbeziehung zwischen einem ehemaligen Lehrer und dessen Schülerin ging. Da ich nur mit halbem Ohr zuhörte, bekam ich nur mit, dass es sich bei besagter Schülerin wohl um die Exfreundin seines besten Freundes handelte. Leider besaß ich kein gutes Namengedächtnis, weshalb ich das meiste der Story gar nicht richtig mitbekam.
»Irre!«, bestätigte Caya, die Noah regelrecht an den Lippen hing. Dann wandte sie sich mir zu. »Hast du das gehört, Laney? Lehrer-Schüler-Beziehungen sind gar nicht so abwegig«, sie zwinkerte mir zu. Ich hob eine Braue und warf ihr einen spöttischen Blick zu.
»Vielleicht hat sie ja gute Noten bekommen«, erwiderte ich sarkastisch.
»Vielleicht bekommst du ja auch die Möglichkeit, gute Noten bei Professor Wright zu schreiben«, konterte sie anzüglich.
Bei der Erwähnung meines Professors sanken meine Mundwinkel rapide nach unten und ein grimmiger Ausdruck trat auf mein Gesicht.
»Professor Wright?«, mischte sich Luan neugierig ein. »Den hatte ich letztes Semester in Rechtsethik.«
»Ich kenne Wright auch«, ließ Noah verlauten. »Cooler Typ!«
»Ich schätze Laney sieht das anders«, Caya gluckste.
»Hast du ihn denn schon kennengelernt? Ich dachte die Vorlesungen beginnen erst am Montag?«, Noah wirkte verwirrt.
»Ich habe vorhin die Räumlichkeiten für die Vorlesungen am Montag aufgesucht, um mich besser zurechtzufinden«, erklärte ich. »Bedauerlicherweise bin ich ihm da über den Weg gelaufen.«
»Bedauerlicherweise?«, hakte Luan nach und lachte. »Klingt als wäre es keine nette Begegnung gewesen.«
»Oh nein, das war es nicht«, bekräftigte ich und so erzählte ich ihnen von dem unerfreulichen Kennenlernen mit Professor Wright.
»Puh, scheint als hättet ihr wirklich keinen guten Start gehabt«, äußerte sich Noah und Mitleid huschte über sein Gesicht. Höchstwahrscheinlich dachte er dasselbe wie ich - mein zukünftiger Unterricht bei Professor Wright würde kein Zuckerschlecken werden.
»Naja, aber was du zu ihm gesagt hast, war schon ziemlich herablassend«, warf Luan ein.
»Ach komm«, verständnislos sah ich ihn an. »Er hat mich genauso beleidigt, als er gesagt hatte ich würde zu der Sorte Mensch gehören, die wohl einen Augenblick früher spricht, als sie denkt!«, ich hob fassungslos die Hände. »Wie anmaßend ist das bitte?«
Ich redete mich so sehr in Rage, dass ich gar nicht bemerkte, wie Noah und Luan große Augen bekamen und an mir vorbeischauten.
»Laney, ich denke es ist besser jetzt still zu sein«, zischte Noah hastig, doch ich dachte nicht einmal daran.
»Nein, wieso sollte ich nicht ehrlich sagen dürfen, was ich denke? Professor Dr. Wright ist ein arroganter, anmaßender und überheblicher Mistkerl!«
Kaum waren die Worte über meinen Lippen, sollte ich sie auch schon wieder bereuen.
Noch immer starrten Noah und Luan benommen an mir vorbei.
»Was ist?«, blaffte ich die beiden unwirsch an, da ich nicht nachvollziehen konnte, wie sie sich nur auf die Seite von diesem aufgeblasenen Idioten stellen konnten.
»Vielleicht...«, flüsterte Luan benommen. »Vielleicht solltest du dich mal umdrehen.«
In diesem Moment erklang hinter mir ein Räuspern.
Und noch ehe ich ihrem Rat nachkam, wusste ich, wer da hinter mir stand.
Ich erkannte es an den entsetzten Gesichtern von Noah und Luan.
Ich erkannte es an dem tiefen, kehligen Räuspern hinter mir.
Und ich erkannte es an den stechend grünen Augen, die sich geradewegs in meine bohrten, als ich mich umdrehte.
»Oh verdammt...«, fluchte ich. »Nicht schon wieder.«
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