Kapitel 21
Songempfehlung: Sia - Angel By the Wings
»Komm schon, Laney!«, feuerte Caya mich an, während ich verbissen versuchte, die Wassermelone in meinen Händen nicht fallen zu lassen. Unglücklicherweise erleichterte mir die Vaseline, mit der das Obst eingeschmiert war, die Arbeit überhaupt nicht. Stattdessen rutschte mir dieses blöde Ding immer wieder aus den Händen und fiel mit einem dumpfen Geräusch in das frische, grüne Gras des Old Campus', der zu einem Sportturnier umfungiert worden war. Es gab mehrere Stationen, die es zu bewältigen galt und bei denen die Erstsemestler der vierzehn verschiedenen Residential Colleges gegeneinander antraten.
Ich warf einen hastigen Blick zu meiner Linken, wo Charlotte ein paar Schritte Vorsprung hatte.
Mist.
Ich schickte mich an, die Wassermelone wieder aufzuheben und zwang meine erschöpften Beine dazu, schneller zu laufen. Schweiß stand mir auf der Stirn und hätte mich vor ein paar Monaten noch jemand gefragt, hätte ich niemals angenommen, heute bei den Yale First Year Olympics teilzunehmen. Auch noch an einem Wassermelonen-Staffellauf.
Mein Blick richtete sich nach vorne zur Ziellinie. Nur noch ein paar Meter.
Mein Herz klopfte wild in meiner Brust.
Das Atmen fiel mir schwer.
Vielleicht war meine Teilnahme an dem Sportfest eine ganz blöde Idee gewesen.
Vielleicht hätte ich es einfach bleiben lassen sollen.
Doch Aufgeben kam für mich nicht infrage. Jedenfalls seit dem Zeitpunkt nicht mehr, als ich gesehen hatte, dass Professor Julian fucking Wright - wie Caya so schön zu sagen pflegte - die Olympics organisierte und sogar als Spielrichter fungierte.
Meine Augen waren förmlich an ihm kleben geblieben, als er in einer knielangen, dunklen Sporthose und einem hautengen grauen Under Armour T-Shirt aufgetaucht war. Das Outfit betonte seinen sehnigen Körper, an dem kein einziges Gramm Fett zu finden war. Selbst seine Beine waren wohlgeformt, athletisch und gerade. Auch sein Oberkörper mit der typischen V-Statur, bestehend aus breiten Schultern und einer schmalen Taille, waren ein äußerst erfreulicher Anblick. Am meisten beeindruckten mich jedoch seine kräftigen, muskulösen Arme. Arme, die mich schon gehalten hatten. Die ich schon berührt hatte. Oh ja, ich wusste nur zu gut, wie fest sie sich unter meinen Handflächen anfühlten. Wieder einmal fragte ich mich, welche Art von Sport er wohl trieb. Denn einen solchen Körper zu haben, ohne aktiv etwas dafür zu tun, grenzte an einem Ding der Unmöglichkeit. Obwohl ich Julian schon berührt hatte, hatte ich seinen Körper noch nie so deutlich gesehen und es verschlug mir buchstäblich die Sprache. So sehr, dass Caya mir ihren Ellbogen in die Seite rammen musste, um mich wieder ins Hier und Jetzt zu befördern. Weg aus den Paralelluniversen, in denen ich mir Julian Wright gerade vorstellte - ohne Kleidung wohl angemerkt.
Als müsste ich mich nicht ohne seine Anwesenheit schon wahnsinnig konzentrieren.
Ich versuchte die Gedanken an einen nackten Julian zu verbannen und konzentrierte mich wieder auf meine Mission. Mein Residential College stand gewaltig im Rückstand, während die Branfords in Führung lagen.
Und das war meine Schuld.
Meine Ausdauer glich der eines übergewichtigen Faultiers und obwohl ich gerade mal an dem Frisbee und nun an dem Wassermelonenlauf teilgenommen hatte, schwitzte ich schon, als hätte ich einen Marathon hinter mir. Ich fühlte mich schlecht und verantwortlich dafür, dass das Jonathan Edwards im Rückstand lag. Auch wenn Caya mir immerzu versicherte, dass das Ganze doch nur ein Spiel war und es auf den Spaß ankam, konnten ihre lieben Worte den Unmut auf den Gesichtern der anderen nicht wett machen.
Ich musste mich mehr anstrengen.
Erneut biss ich die Zähne zusammen und lief schneller. Leider nicht schnell genug.
Charlotte erreichte knapp vor mir die Ziellinie. Sie ließ die Melone fallen und hüpfte freudig in die Luft. Dann streckte sie mir die Zunge raus.
»Du musst schon schneller sein, um mich zu schlagen, Laney.«
Ich wollte etwas erwidern, aber meine Lungen ließen es nicht zu. Stattdessen atmete ich wie ein Walross, was Charlotte ein lautes Lachen entlockte.
»Einen Punkt für die Branfords«, hörte ich Julian hinter mir sagen und zuckte erschrocken zusammen, während er etwas auf seinem Klemmbrett notierte. Dann schaute er hoch.
»Gute Arbeit, Miss Brown.«
Charlotte lächelte freudig und Julian wandte uns wieder den Rücken zu.
Als er Anstalten machte, die nächste Runde zu betreuen, begann sich etwas in mir zu regen. Es war Wut.
So ging das schon die ganze Zeit.
Er ignorierte mich.
Sah mich nicht einmal an.
Sprach kein einziges Wort mit mir.
Nichts.
Noch weniger als Nichts.
Für ihn war ich Luft.
Sein Verhalten machte mich rasend. Es verletzte mich. Es verletzte mich mehr, als es sollte. Ich wollte, dass er wieder mit mir redete. Mit mir lachte. Mit mir scherzte. Ich wünschte mir sogar unsere alten Schlagabtausche zurück. Alles war mir recht, nur nicht diese schwerfällige Ignoranz, die er in meiner Gegenwart an den Tag legte. Allerdings hatte ich mir das wohl selbst eingebrockt. Denn schließlich war Julian derjenige gewesen, der letzte Woche um ein Gespräch gebeten hatte und ich war diejenige gewesen, die abgeblockt hatte. Die einen Nervenzusammenbruch erlitt. Die sich kindisch verhielt. Und nun bereute ich mein Verhalten.
Es wäre mir lieber gewesen, vor meinen Kommilitonen wieder zusammengestaucht zu werden, als mit Missachtung gestraft zu werden.
Das war so viel schlimmer.
Während er sich mit anderen Studenten unterhielt, sie anfeuerte oder lobte, hatte er für mich nicht einmal einen Blick übrig. Also strengte ich mich bei der nächsten Runde nur noch mehr an, weil ich ihm eine Reaktion entlocken wollte. Als ich sogar gewann - was zwar nicht zählte, weil ich gegen einen Jungen antrat, der noch langsamer war als eine Schnecke - drehte ich mich an der Ziellinie erwartungsvoll zu Julian um. Er schaute nicht einmal in meine Richtung, sondern notierte sich etwas auf seinem Klemmbrett. Es kränkte mich. Machte mich traurig und wütend zugleich. Von Mal zu Mal steigerten sich diese Gefühle in meinem Innern, bis ich sie kaum mehr unter Kontrolle hatte.
Julian Wright brachte mich zur Weißglut.
Ich hasste ihn.
Abgrundtief.
So sehr, dass ich seit ganzen sieben Tagen an nichts anderes mehr denken konnte, als an ihn.
Als ich ein weiteres Mal einen Sieg erzielte, Julian aber wieder mal nur dastand und auf dieses verfluchte Klemmbrett kritzelte, das ich ihm mittlerweile am liebsten aus der Hand schlagen würde, konnte ich mich nicht mehr zurückhalten. Und da ich nun einmal war, wie ich war, verselbstständigte sich meine spitze Zunge.
»Hey Professor«, rief ich mit vor Aufregung klopfendem Herzen. »Haben Sie meinen Sieg notiert? Sie wissen ja, Chancengleichheit und so.«
Meine Stimme hätte fest klingen sollen. Scherzhaft. Mehr wie Laney. Doch leider klang sie wie die Stimme eines verunsicherten, kleinen Mädchens, das nach einem Strohhalm zu greifen versuchte.
Erbärmlich.
Julian hob den Blick und sah mich an. Zum ersten Mal seit einer Woche der puren Ignoranz hefteten sich seine wunderschönen grünen Augen auf mich. Es raubte mir den Atem. Ein Ausdruck huschte über sein Gesicht, den ich nicht zu deuten vermochte. Es schien, als wirkte er für einen klitzekleinen Moment überrascht darüber, dass ich ihn ansprach.
Schnell fing Julian sich jedoch wieder und wandte sein Gesicht von mir ab.
»Das war kein Sieg«, erwiderte er ruhig und mit kalter Stimme. »Das war Glück.«
Ich spürte einen Stich im Herzen.
»Glück?«, wiederholte ich und hob eine Braue.
Er fuhr sich in einer lässigen Geste durch sein braunes Haar, als wäre er genervt und könnte es kaum erwarten, diesem Gespräch endlich ein Ende zu bereiten.
»Ja, Sie sind grottenschlecht«, sagte er distanziert, ohne mich anzuschauen. »Strengen Sie sich mehr an, wenn Sie keine Schande für das Jonathan Edwards sein wollen.«
Mit diesen Worten wandte er mir erneut den Rücken zu und ging zur Startlinie, um die nächste Runde zu betreuen.
Unterdessen verharrte ich noch wie festgewachsen an der Ziellinie.
Ich gab es nur ungern zu, doch seine Worte verletzten mich. Ich brauchte niemanden, der mir auch noch aufs Brot schmierte, dass ich ein absoluter Sportlegastheniker war. Dass meine Ausdauer sozusagen nicht vorhanden war. Dass ich eine Enttäuschung für mein Residential College war.
Das wusste ich auch so.
Doch es von Julian noch einmal zu hören, tat weh.
Wenn man sich im dritten Stadium einer akuten Herzinsuffizienz befand, war die sportliche Betätigung und die Kondition eben nicht mehr das, was sie einmal war. Im Grunde genommen hätte ich gar nicht an dem Fest teilnehmen dürfen. Dr. Heyck hatte es mir letzte Woche ausdrücklich verboten. Aber ich hatte es satt, immer auf die sonnige Seite des Lebens verzichten zu müssen. Ich hatte es satt, immer den Kürzeren zu ziehen und den anderen dabei zuschauen zu müssen, wie sie den Spaß ihres Lebens hatten. Ich wollte dazugehören. Ich wollte wissen, wie es war, ein Teil von etwas zu sein. Ich wollte auch Spaß haben. Ich wollte nicht immer auf alles verzichten und das kranke Mädchen sein. Die Außenseiterin.
»Ignorier ihn«, hörte ich Caya neben mir sagen. »Wenn du eine Pause brauchst, sag Bescheid, ja?«
Ein Ausdruck von Sorge legte sich über ihr Gesicht. Ich hatte ihr und Yuki anvertraut, was bei meinem Besuch bei Dr. Heyck rausgekommen war, auch wenn ich es nur sehr ungern getan hatte. Denn Caya und Yuki versuchten mich schon tagelang davon abzuhalten, an dem Sportfest teilzunehmen. Da ich jedoch einen Dickkopf besaß, hatten sie sich an mir die Zähne ausgebissen und schließlich kapituliert.
»Es geht schon«, erwiderte ich mürrisch und ging zurück zur Startlinie, wo Noah und Luan sich zu Yuki gesellten. Die beiden Jungs waren zur moralischen Unterstützung gekommen. Da sie bereits im dritten Semester waren, lagen ihre eigenen Yale Olympics schon ein ganzes Jahr zurück.
Caya und ich grüßten die beiden. Caya errötete unter Noahs Blicken und mir wurde bewusst, dass wir schon länger nicht mehr über ihr Liebesleben gesprochen hatten. Ich war so sehr mit mir selbst beschäftigt gewesen, dass ich gar nicht auf die Idee gekommen war, nachzuhaken.
Sofort fühlte ich mich mies. Ich war eine schlechte Freundin. Ich beschloss, all das nachzuholen, sobald wir zurück im Wohnheim waren.
»Na? Ich hoffe ihr verteidigt die Ehre des Jonathan Edwards und tretet den Branfords ordentlich in den Hintern?«, hakte Noah nach und zwinkerte uns spielerisch zu.
»Naja«, gestand ich ehrlich. »Wie ihr wisst, ist an mir absolut keine Sportskanone verloren gegangen.«
»Mach dir nichts draus«, meldete Luan sich zu Wort und fuhr sich durch seine blonde Surferfrisur. »Yukis Sportgeist ist auch so gut wie nicht vorhanden. Hat mich eh gewundert, dass sie dran teilnimmt. In Sportklamotten sieht sie einfach lächerlich aus.«
Er lachte laut, als fände er seinen eigenen Witz urkomisch. Dann sah er Yuki spöttisch an und seine Augen streiften flüchtig über ihre Sporthose und das dazu passende T-Shirt.
Um ehrlich zu sein fand ich, dass Yuki wie immer atemberaubend aussah. Die lockere Kleidung wirkte lässig und sportlich an ihrem schlanken Körper.
Es gefiel mir nicht, dass Luan sich auf ihre Kosten amüsierte. Es mochte womöglich einfach nur als Scherz gemeint sein, aber in Anbetracht meines kürzlich erlangten Hintergrundwissens, dass er Yuki so übel mitgespielt hatte, sah ich ihn seither mit anderen Augen.
Auf den ersten Blick wirkte es, als ließe Luans Aussage Yuki kalt, als wäre ein solcher Spruch eben typisch Luan. Doch bei genauerem Hinsehen erkannte man, dass es ihr unangenehm war. Ich erkannte es daran, dass sie kaum merklich die Zähne zusammenbiss. Erkannte es an dem kurzen Anflug von Traurigkeit und Wut, der über ihr Gesicht huschte. Und dann war dieser Ausdruck verschwunden. Sie schluckte ihre Gefühle herunter. Verdrängte sie. So wie sie es immer tat.
Mich überkam das Bedürfnis, sie zu verteidigen.
»Yuki ist gut so, wie sie ist!«, sprach ich stumpf die Worte aus, die mir auf der Zunge lagen. Eine Sekunde später spürte ich Yukis Augen auf mir. Ich wagte es jedoch nicht, in ihre Richtung zu schauen. Ob sie sauer darüber war, dass ich sie verteidigt hatte? Oder freute sie sich darüber, dass endlich mal jemand Partei für sie ergriff?
»Das finde ich auch«, erklang plötzlich eine Stimme hinter uns.
Überrascht drehten wir uns der Reihe nach um.
Hinter uns stand niemand Geringeres als Ren.
Der Ren, den wir auf der lahmen Party im Branford College kennengelernt hatten.
Ren war komplett in schwarz gekleidet. Er trug eine locker sitzende Chinohose mit Gürtel, was er zu einem Hemd kombinierte, dessen Kragen und oberste Knöpfe offen standen. Eine Silberkette blitzte darunter hervor. Die Ärmel des Hemdes waren hochgekrempelt und gaben freien Blick auf zwei tätowierte, sehnige Unterarme.
Sein schwarzes Haar war etwas durcheinander und einige Strähnen fielen ihm auf die Stirn. Wie ein Teufel lächelte er diabolisch unter dichten schwarzen Wimpern auf Yuki herab.
»Hallo kleine Spinne«, säuselte er und ging ein paar Schritte auf sie zu. Yuki erstarrte zur Salzsäule und erwiderte seinen Blick, ohne ihn ihrerseits zu grüßen.
Ungeniert wanderten seine Augen an ihr auf und ab, als wollte er sie verschlingen. Als wollte er sie jeden Moment einfach packen und geradewegs mit sich zurück in die Hölle verschleppen, von wo er gekommen war.
Sein Lächeln verzog sich zu einem anzüglichen Grinsen.
»Ich hab dich vermisst, nachdem du letztes Mal so schnell verschwunden bist.«
Ich sog scharf die Luft ein und damit war ich nicht die Einzige. Rens Worte enthielten eine gewisse Zweideutigkeit. Wären Caya und ich nicht dabei gewesen, als die beiden sich kennengelernt hatten, hätte man annehmen können, dass Ren von etwas ganz anderem sprach.
»'Siehst gut aus in den Sportklamotten«, er zwinkerte ihr zu, während seine Augen sich verdunkelten und erneut an ihr hinauf und wieder hinab glitten. Dann machte er Anstalten, noch einen Schritt näher an sie heranzutreten.
»Verzieh dich, Rochana!«, erklang plötzlich Luans Stimme, der sich nun schützend vor Yuki aufbaute, als wollte er verhindern, dass Ren ihr zu Nahe kam.
Ren quittierte Luans Auftauchen nur mit einer hochgezogenen Braue. Das Silber seines Augenbrauenpiercings glitzerte in der Sonne.
»Geh mir aus dem Weg, Cane«, kommentierte Ren gelangweilt und machte eine wegwerfende Bewegung mit seiner ringbesetzten Hand, als wollte er Luan einfach wie eine Fliege wegwischen. Kannten die beiden sich etwa, da sie sich mit dem Nachnamen angesprochen hatten?
»Lass deine Finger von Yuki. Sie geht dich nichts an«, knurrte Luan. Noch nie hatte ich ihn so wütend gesehen. Für gewöhnlich war er der scherzhafte, flirtende Junge, der immer einen Spruch auf Lager hatte. Doch dieser Kerl hier war nicht Luan. Was war in ihn gefahren?
»Und das entscheidet wer? Du?«, Ren lachte laut. »Ich denke, Yuki kann für sich selbst sprechen.«
Luan und Ren standen sich gegenüber und funkelten sich böse an. Sie waren fast gleich groß. Doch während Luan eher hochgewachsen und schlank war, bestand Rens Körper aus wohlgeformten Proportionen.
Es schien, als ging es hier um so viel mehr, als nur um Yukis Ehre und erneut beschlich mich das Gefühl, dass die beiden sich womöglich schon kannten.
»Das ist lächerlich«, hörte ich Yuki plötzlich murmeln. Im nächsten Moment machte sie auf dem Absatz Kehrt und lief einfach davon. Sie ging zur Startlinie für eine andere Station und reihte sich in die Schlange ein. Überrascht sahen wir ihr nach.
Manchmal bewunderte ich Yuki dafür.
Sie zog einfach ihr Ding durch und ließ sich von nichts und niemandem beirren.
Ich machte bereits Anstalten, ihr hinterherzugehen. Doch Ren, der sich ebenfalls in Bewegung setzte, kam mir zuvor. Erneut wollte Luan sich ihm in die Quere stellen. Aber Noah bekam seinen Freund am Arm zu greifen.
»Hey Mann, er hat Recht. Yuki ist alt genug. Lass sie das selbst regeln.«
In diesem Moment hätte ich Noah am liebsten für seine Geistesgegenwärtigkeit bejubelt. Endlich mal jemand, der Frauen nicht behandelte, als bräuchten sie ständig und überall einen Ritter in goldener Rüstung. Wir konnten für uns selbst sprechen.
Während Luan vor Wut schier kochte, was ich zugegebenermaßen irgendwie seltsam fand, da er Yuki ja einen Korb gegeben hatte, schaute ich daraufhin zu Ren und Yuki.
Er hatte sie fast erreicht. Yuki schien ihn zu bemerken und drehte sich langsam zu ihm herum. Sie blinzelte gegen die Sonne an und schaute zu ihm hoch. Es war verrückt. Er schien fast zwei Köpfe größer zu sein als sie, was allerdings keine Kunst war, denn Yuki war ziemlich klein. Klein aber anmutig und bildschön. Es verwunderte mich nicht, dass Ren sich in den Kopf gesetzt hatte, sie zu erobern.
Ren schien etwas zu ihr sagen, was sie erröten ließ. Hastig wandte sie das Gesicht ab und starrte stur in eine andere Richtung. Ich fand es irgendwie niedlich, dass Ren es schaffte, sie so sehr aus der Reserve zu locken. Zwar schaffte Luan das ebenfalls, aber bei ihm hatte sie sich unter Kontrolle. Sicher war sie geübt darin, ihre wahren Gefühle für ihren besten Freund gut zu verstecken.
Im nächsten Augenblick bat Ren einen Lehrer, der in unmittelbarer Nähe stand nach einem Stift. Dann griff er nach Yukis Hand und schrieb etwas auf ihren Arm. Aus meiner jetzigen Entfernung konnte ich es nicht erkennen.
Seine Nummer vielleicht?
Zum ersten Mal verstand ich Cayas unbändige Neugierde wegen Julian und mir. Denn auch ich war verdammt interessiert daran zu erfahren, was Ren da gerade tat. Was sich zwischen den beiden abspielte. Am liebsten wäre ich näher herangepirscht, um Mäuschen zu spielen.
Als Ren sich wieder in Bewegung setzte und davon ging, ließ er Yuki völlig zerstreut zurück. Ein paar Augenblicke lang stand sie einfach nur da und starrte auf ihren Arm. Sobald Caya und ich jedoch auf sie zuliefen und sie mit Fragen bombardierten, schob sie nur den Ärmel ihrer Weste über Rens Handschrift und strafte uns mit Schweigen.
♥
Die nächste Runde verlor ich wieder.
Streng dich mehr an.
Noch mehr.
Ich wollte meinem Residential College beweisen, dass ich keine Versagerin war.
Ich wollte Caya und Yuki beweisen, dass ich es schaffen konnte, dass ich trotz meiner Krankheit immer noch stark war. Dass ich innere Stärke besaß.
Ich wollte es Julian beweisen. Wollte ihm beweisen, dass ich keine Schande für das Jonathan Edwards war.
Aber vor allem wollte ich es mir selbst beweisen. Dass ich es hinbekam, wenn ich nur wollte.
Und so hängte ich mich richtig rein. Ich rannte so schnell ich konnte beim Wassermelonenlauf. Beim Tauziehen beschwor ich all meine Kraft herauf und beim Völkerball spielte ich mit all der Energie, die ich aufbringen konnte. Ich ignorierte meine müden Glieder. Ignorierte meinen Körper, der mir zuschrie, dass er eine Pause brauchte. Ignorierte mein Herz, das immer angestrengter in meiner Brust schlug, trieb es an seine Grenzen, bis Sternchen vor meinen Augen tanzten und darüber hinaus.
Ich würde nicht aufgeben.
Ich konnte es schaffen, das wusste ich.
Wir waren gerade in der zweiten Runde des Völkerballs, als ich mit einem Ball abgeworfen wurde und zur Seitenlinie treten musste. Zur Seitenlinie, in dessen Nähe ausgerechnet Julian stand und das Spiel beobachtete.
Grimmig bezog ich Stellung und drehte ihm den Rücken zu, versuchte mich ebenfalls auf das Spiel zu konzentrieren und irgendwie an den Ball zu gelangen, um mich frei zu werfen.
Doch Julians Nähe raubte mir jeglichen Sinn für Konzentration. Mein Rücken kribbelte und es fühlte sich an, als würde sich sein Blick in meinen Hinterkopf bohren, wenngleich ich mir ziemlich sicher war, dass er mich definitiv nicht ansah. So wie er es schon seit einer Woche nicht mehr tat.
Erneut schob ich die Gedanken an ihn geflissentlich beiseite und beobachtete das Spiel vor mir. Tatsächlich war es mir ganz recht, eine kurze, erzwungene Verschnaufpause an der Seitenlinie bekommen zu haben.
Eins zwei. Eins zwei. Eins zwei. Eins zwei.
Eins zwei. Eins zwei. Eins zwei. Eins zwei.
Eins zwei. Eins zwei. Eins zwei. Eins zwei.
Meine Hand über meinem Herzen verriet mir, dass es wie wild schlug. Es raste. Natürlich war mir dementsprechend schwindlig. Mein Körper wurde nicht mit ausreichend Sauerstoff versorgt, da die Leistung meines Herzens zu schwach war. Mir war unwohl, übel und meine Knie waren weich wie Butter. Wenn ich nicht langsam die Handbremse anzog, würde ich geradewegs auf die Bewusstlosigkeit zusteuern. Das war so sicher wie das Amen in der Kirche.
Ich brauchte dringend eine Pause.
»Du sollst dich frei werfen und nicht herumstehen und Löcher in die Luft starren«, erklang plötzlich eine tiefe Stimme hinter mir.
Julian.
Bei seinen Worten zuckte ich erschrocken zusammen. Ich hatte nicht erwartete, dass er mit mir redete, wenn es nicht unbedingt notwendig war. Wenn man jedoch seine Wortwahl bedachte, machte es meine anfänglich Freude darüber, dass er überhaupt mit mir sprach, sofort wieder zunichte.
»Macht es dir Spaß, mich zu quälen?«, fragte ich, ohne mich zu ihm umzudrehen. So leise, dass nur er es hören konnte.
Kurz herrschte Stille und ich glaubte schon, keine Antwort mehr zu erhalten. Doch dann erhob er hinter mir die Stimme. Ganz leise.
»Ich weiß nicht, was du meinst.«
Zorn stieg in mir auf und nun drehte ich mich doch herum. Aus zusammengekniffenen Augen funkelte ich ihn böse an. Eine innere Unruhe überkam mich und meine Hände wurden kaltschweißig.
»Ach nein?«, fragte ich herausfordernd.
Julian nahm seine Augen von dem Geschehen auf dem Spielfeld und richtete sie auf mich. Ein gewaltiger Kälteschleier lag über seinem Gesicht.
»Nein.«
Ich biss die Zähne zusammen und ballte meine Hände zu Fäusten.
»Wie wäre es damit: Erst ignorierst du mich und nun beleidigst du mich schon das ganze Spiel über«, half ich ihm auf die Sprünge.
»Ich beleidige dich nicht. Ich sage nur die Wahrheit. Du hast den Sport eben nicht erfunden«, er zuckte betont lässig mit den Achseln, was mich nur noch rasender machte.
So rasend, dass mir die Luft wegblieb. Mein Puls raste in Rekordgeschwindigkeit durch meine Adern, verbreitete die Wut und den Ärger in meinem gesamten Körper und ließ ihn erzittern. Ich spürte, wie mir Schweiß über die Stirn rann. Über meine Lippen. Über mein Kinn.
»Was ist dein scheiß Prob -«, ich hielt mitten im Satz inne und erstarrte. Ein ächzender Laut kam über meine Lippen, als ich den Elektroschock in der Brust spürte. Es war wie ein gewaltiger Schlag mitten auf meinen Brustkorb.
Schmerzhaft. Zerreißend. Heftig.
Sofort wanderten meine Hände zu meiner Brust und krallten sich in den Stoff meines Shirts, auf dem in großen Lettern Yale Olympics gedruckt stand.
»Laney?«, Julians Stimme drang nur noch gedämpft an meine Ohren. Ein stetiges Piepen stellte sich ein. Ein Rauschen, als wäre ich in Watte gepackt. Ich nahm ihn kaum mehr wahr. Mit ein paar schnellen Schritten stand er plötzlich vor mir und ergriff meine Arme.
»Laney? Was ist los?«, seine Stimme wurde hektisch. Seine Augen, seine schönen grünen Augen, die mich nun mit blanker, entsetzlicher Panik anstarrten, weiteten sich, wanderten ruhelos über mein Gesicht und blieben an meinem Mund hängen.
»Deine Lippen sind ganz blau! Laney, was ist los?«, seine Stimme wurde lauter, als sei er ergriffen von Angst. Ich nahm kaum wahr, wie auch andere Studenten und Professoren auf uns aufmerksam wurden. Wie sie innehielten mit ihrem Tun und sich Julian und mir näherten.
Erschrocken versuchte ich nach Luft zu schnappen, aber mein Körper funktionierte nicht mehr. Er wollte mir nicht mehr gehorchen, als würden meine Lungen kollabieren. Als hätte man mir die Luftröhre durchgeschnitten. Statt zu atmen, kamen nur noch vereinzelte, erstickte Laute aus meinem Mund.
Und dann spürte ich einen weiteren Schock.
Ich taumelte ein paar Schritte rückwärts und begriff, dass mein Körper seinen Dienst zu versagen drohte. Dass mein Herz seinen Dienst zu versagen drohte.
Ich hatte Kammerflimmern.
Und mein Defibrillator scheiterte.
Vor meinen Augen breitete sich eine bittersüße Dunkelheit aus. Eine Dunkelheit, die mich mit ihren Rufen und Gesängen anlockte. Eine Dunkelheit, die mir versprach, dass alles gleich vorbei sein würde, all die Schmerzen und das Leid. Dass es ganz schnell gehen würde. Doch ich versuchte mich an Julians Augen zu orientieren, an diesen grünen Augen, die nicht aus meinem Blickfeld verschwanden.
Ich kämpfte mit aller Macht gegen die Bewusstlosigkeit an, wenngleich die Versuchung, einfach loszulassen verdammt groß war. Meine Knie drohten einzuknicken und ich krallte mich an Julians Armen fest. Doch ich konnte mich nicht mehr halten. In seinen Armen sackte ich zu Boden.
Und wieder spürte ich einen Schock in meiner Brust.
Mein Defibrillator kämpfte mit allen Mitteln, mit allem, was er besaß. Tapfer und mutig.
Traurig, dass selbst dieses kleine Gerätchen in meiner Brust mutiger war, als ich. Denn langsam aber sicher schaffte ich es nicht mehr, gegen die Dunkelheit anzukämpfen. Mich zu wehren. Es war so mühsam und die beschämende Wahrheit war, dass ich nicht mehr dagegen ankämpfen wollte.
Nein. Was ich wirklich wollte, war Frieden.
Ich wollte einfach nur ein bisschen Frieden.
Ein Wörtchen, das mir bis dato völlig fremd war.
Ob ich ihn nun finden würde? Meinen Frieden?
Ich hoffte es.
Genauso wie ich hoffte, dass Mom und Dad nicht allzu traurig sein würden. Dass Josh mir verzeihen würde. Dass Caya und Yuki mich in Erinnerung behalten würden...
Obwohl ich so oft über meinen Tod nachgedacht hatte, hätte ich mir niemals ausgemalt, dass er mich auf diese Weise ereilen würde. Hier. In Yale. Mitten auf dem Old Campus' und in Julians Armen.
Doch es gab schlimmere Schicksale, dachte ich mir, als in Julians Armen zu sterben. Oder? In den Armen des Mannes, der etwas in mir zum Leben erweckte, das ich nicht fühlen wollte. Etwas, dem ich mich entsagt hatte. In den Armen des Mannes, der mein kaputtes Herz ein allerletztes Mal schlagen ließ.
Julian schien noch etwas zu sagen, aber ich hörte es nicht. Meine Augen rollten zurück und mein Körper wurde von heftigen Krampfanfällen gepackt, begann unaufhörlich zu zucken. Schaum trat mir aus dem Mund und ich zappelte, wie ein Fisch am Haken. Wahrscheinlich nässte ich mich auch ein. Ich wusste es nicht.
Dies war der Moment, ich dem ich nicht mehr viel mitbekam.
Ich verlor das Bewusstsein.
Hello ihr Lieben!
I'm so sorry, dass das Kapitel so spät kommt, aber ich habe noch gearbeitet heute & wollte es vorher nochmal Probe lesen! Ich hoffe es gefällt euch!
Was denkt ihr, wie es nun weitergehen könnte? :o Bin schon wahnsinnig auf eure Reaktionen gespannt!!!
Ganz viel Liebe ♥️
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