Bonus Chapter II
- Julian -
Ich lenkte meine heiß und innig geliebte Yamaha R1 auf den für mich reservierten Parkplatz in der Nähe des New Haven Greens und stieg ab.
Motorsport war neben dem Boxen eines meiner liebsten Hobbys. Schon als Kind hatte mein Dad mich immer Spazieren gefahren. Relativ früh kam ich dann auch auf die Idee - sehr zu Moms Missfallen - den Motorradführerschein zu machen. Als ich schließlich sogar begonnen hatte, Motorradsport professionell im Verein zu fahren, hatte sie beinahe einen halben Herzinfarkt erlitten. Mom hasste das Motorradfahren. Sie sah es als das, was es war - gefährlich, riskant, lebensbedrohlich.
Aber das waren nun einmal nicht die einzigen Dinge, die dieses Hobby ausmachten. Nein, es verlieh einem auch das Gefühl von Ausgleich. Von Schwerelosigkeit. Von Freiheit. Dieses eine, ganz besondere Gefühl, wenn einem der Fahrtwind ins Gesicht wehte oder man die Maschine unter den Beinen vibrieren spürte. Es war mehr als nur ein Hobby, es war eine Leidenschaft. Und es verband mich mit meinem Dad. Auch heute noch unternahmen wir viele gemeinsame Motorradtouren.
Mit einem verliebten Blick strich ich einmal über den schwarzen Lack, ehe ich mich zu Fuß auf den Weg machte. Ich schlenderte über das frisch gemähte Gras des Old Campus', auf dem es nun von Studenten nur so wimmelte. Es herrschte reges Treiben, als hätte der Teufel seinen Sack ausgeschüttet. Aufregung und Euphorie lagen in der Luft und luden sie elektrisch auf. Die Vorfreude war beinahe mit Händen greifbar. Die Yale University hatte für die Erstsemestler einige Events auf Lager und besonders die Freshmen waren stets hellauf begeistert von den angebotenen Aktivitäten.
Da die Yale First Year Olympics zu einen der ersten Events gehörten, waren sie natürlich eine Peremiere und somit etwas ganz Besonderes unter den Neulingen.
Das College unterschied sich stark von der High School. Für viele Schüler war es der erste Schritt in Richtung Berufswelt. Ein neuer Lebensabschnitt. Mit dem einen Bein stand man noch in der Adoleszenz, während man sich mit dem anderen bereits im Erwachsenenalter befand, obgleich die meisten Studenten noch ordentlich grün hinter den Ohren waren. Besonders das männliche Publikum. Alles, um was sich deren Leben drehte, waren Partys, Mädchen und Alkohol. So mancher mochte das als natürlich bezeichnen. Als normalen Lauf der Dinge. Jungs mussten sich während der College Zeit eben die Hörner abstoßen. Ihre Jugend genießen. Das traf vielleicht auch auf den Großteil der Kerle zu. Auf mich jedoch nicht. Weder damals noch heute.
Ich war noch nie der Typ gewesen, der sich von einer Liebschaft in die nächste hangelte, was wohl eher der Tatsache geschuldet war, dass ich schon seit der High School mit Daphne zusammen gewesen war. Das hieß jedoch nicht, dass ich auf der High School ein Engel gewesen war. Nein, bevor ich Daphne kennengelernt hatte, gab es da schon das ein oder andere Mädchen, dem ich das Herz gebrochen hatte.
Bis Daphne mir vor zwei Jahren meines brach.
Seither führte ich ein relativ einsames Leben. Oder zumindest würde so mancher das als einsam beschreiben, sich hin und wieder mal mit einer Frau zu treffen, ohne wirkliche Absichten auf eine Beziehung zu hegen. Aber ich war ziemlich zufrieden mit meiner Lebensführung.
Zumindest war ich das gewesen.
Bis sie aufgetaucht war.
Wie aufs Stichwort machten meine Augen sie inmitten des Getümmels aus und meine Schritte verlangsamten sich, als ich sie entdeckte.
Laney Taylor.
Das Objekt meiner Begierde.
Die pure Sünde.
Eine Versuchung.
Meine ganz persönliche Hölle.
Und gleichzeitig der Himmel auf Erden.
Dieses Mädchen war die Ausgeburt des Teufels, denn sie stellte meine Selbstbeherrschung auf eine harte, harte Probe. Eine Probe, bei der ich schon zwei Mal fast gescheitert wäre. Naja, um ehrlich zu sein war ich bereits gescheitert. Meine zehn Jahre jüngere Studentin zu küssen, war alles andere als fast gescheitert.
Es war ein Desaster.
Ein riesengroßer Fehler.
Eine Katastrophe.
Und ich wollte es wieder tun.
Seit sie mich in meiner Küche zum ersten Mal geküsst hatte, seit ich ihre weichen Lippen gespürt hatte und ihr Körper, der sich gegen meinen presste, konnte ich an nichts anderes mehr denken.
Es hatte sich in mein Hirn gebrannt und trieb mich in den Wahnsinn. Nun ja, immerhin hatte ich es geschafft, nicht mit ihr im Bett zu landen, wenngleich vor zwei Wochen nicht viel gefehlt hätte, um auch diesen Fehler zu begehen.
Laney Taylor hatte die Macht, all meine Prinzipien, meine Selbstbeherrschung und meine Disziplin mit einem Fingerschnippen außer Kraft zu setzen und ich wusste nicht, warum. Um ehrlich zu sein machte es mich verrückt, nicht zu wissen, warum ich derart auf sie reagierte und manchmal hasste ich sie dafür sogar ein kleines bisschen.
Die Philosophie bedeutete mir die Welt.
Mein Job bedeutete mir die Welt.
Ich hatte alles daran gesetzt und mein menschenmögliches getan, um schon mit meinen gerade mal neunundzwanzig Jahren dort zu sein, wo ich jetzt war. Nur um all das für ein Mädchen aufs Spiel zu setzen. Für ein Kind. Nun ja, so ganz stimmte das wohl doch nicht. Denn genau hier lag die Wurzel des Übels. Laney war kein Kind mehr. Sie war anders, als die meisten Mädchen am College. So ganz anders. Sie war selbstbewusst, klug, wunderschön und... tiefgründig. Ich hatte es im Unterricht bemerkt. An der Art und Weise, wie sie über die Philosophie sprach. Wie sie in ihren Aufsätzen über das Leben sinnierte. Über den Tod. Sie besaß eine offene und nüchte Denkweise, die mich schlicht und ergreifend faszinierte.
Es fiel mir schwer, mich von ihr fernzuhalten und spätestens, als wir damals im Park spazieren gewesen waren und sie mir mehr über sich erzählte, wusste ich, dass ich sie haben musste. Sie besitzen musste. Obwohl mir doch gleichermaßen klar war, dass das nicht ging.
Ja, Laney war etwas ganz Besonderes, das hatte ich schon in der Sekunde begriffen, als sie mich damals auf dem Flur angequatscht und nach dem Vorlesungssaal gefragt hatte.
Doch so sehr mich Laney Taylor auch faszinierte, so sehr ich sie auch bewunderte, sie begehrte und sie in Besitz nehmen wollte... Ich konnte nicht. Nicht nur aus ethisch-moralischen Gründen, sondern auch, weil ich es mit meiner Prinzipientreue und meinem Ehrgefühl niemals hätte vereinbaren können.
Aber all das war leichter gesagt, als getan. Denn als meine Augen über sie hinwegglitten, überfiel mich urplötzlich wieder dieses tiefe, tiefe Verlangen.
Laney strich sich gerade eine Strähne ihres blonden, schulterlangen Haar aus dem Gesicht. Es war ein herzförmiges Gesicht mit sanften, liebevollen Gesichtszügen, das in mir den Wunsch weckte, es mit Stift und Papier einzufangen, obwohl ich miserabel im Zeichnen war. Ihre vollen, üppigen Lippen, verzogen sich zu einem süßen Lächeln, als sie über etwas lachte, das ihre beste Freundin Caya ihr gerade erzählte. Laneys Augen, deren Farbe nicht ganz braun, aber auch nicht ganz grün waren, funkelten heller als der Polarstern am Himmel und waren schöner, als alles was ich jemals gesehen hatte.
Ich wollte mich davon abhalten, meinen Blick weiter an ihr hinab wandern zu lassen, da ich das nicht tun sollte, da ich sie nicht auf diese Weise anschauen sollte, aber ich tat es trotzdem.
Sie trug eine lockere, kurze Sporthose und ein T-Shirt mit dem Logo YALE OLYMPICS, wie alle anderen Studenten. Lediglich Farbe und Schriftzug auf dem Rücken signalisierten, welchem Residential College sie angehörte. Obwohl man Laney weder als sonderlich groß noch auffällig kurvig beschreiben würde, war ihr Körper in meinen Augen perfekt. Wunderschön. Anbetungswürdig.
Ich zwang mich dazu, meine Augen wieder ein paar Zentimeter höher gleiten zu lassen, um mich von schmutzigen Gedanken abzulenken, als Laney den Kopf in meine Richtung wandte. Als hätte sie meine Blicke bemerkt, schaute sie zu mir rüber. Unsere Blicke kreuzten sich und es war, als würde ein Stromschlag durch meinen Körper zucken.
Eine Welle an Emotionen brandeten über ihr Gesicht, während ich von dem unbändigen Verlangen überfallen wurde, zu ihr rüber zu gehen. Ich wollte mit ihr reden. Mit ihr lachen. Sie berühren. Aber es ging nicht. Es war falsch. So, so falsch.
Davon einmal abgesehen hatte Laney mir klargemacht, dass das, was zwischen uns vorgefallen war, dieser Kuss, nicht hätte passieren dürfen.
Es war ein Fehler. Ein Fehler, über den sie sich weigerte zu sprechen. Wenngleich es wohl das Vernünftigste gewesen wäre, diese Sache wie Erwachsene zu händeln und zu klären, wie wir nun damit umgehen sollten. Wie wir uns gegenüber verhalten sollten. Denn uns gegenseitig zu ignorieren und das Zuwerfen von heimlichen, unsicheren Blicken, wenn der andere gerade nicht schaute, war einfach nur lächerlich. Obwohl die Sache mit dem Ignorieren wohl auf meine Kappe ging. Es hatte mich tierisch aufgeregt, dass Laney sich weigerte, Klartext mit mir zu sprechen. Es war eine völlig kindische Reaktion. Eine Reaktion, die ich spiegelte, indem ich sie einfach mit Missachtung strafte. Schließich war es doch das, was sie wollte, oder nicht? Den Kuss zu vergessen. Mich zu vergessen.
Ich verstand ihr Problem nicht.
Hatte sie Angst, dass ich sie zurückwies? Zugegeben, wenn sie ein kleines Fünkchen Menschenverstand besaß, dann wusste sie, dass mir nichts anderes übrig blieb. Aber es war ja nicht so, dass ich Spaß daran empfand, sie abzuweisen. Und das hätte ich ihr auch genauso gesagt, wenn sie nicht ständig davonlaufen würde. Wäre Laney ein Graduate, würden die Dinge anders liegen. Dann wäre sie ein paar Jahre älter und der Altersunterschied zwischen uns wäre gar nicht mehr so signifikant. Verdammt, womöglich hätte ich sie dann schon längst um ein Date gebeten.
Aber in dieser Realität hatte Laney nun einmal noch keinen Abschluss, was bedeutete, dass das Machtgefälle zwischen uns zu groß war. Genauso wie die Gefahr, dass ich meine Position ausnutzte. Natürlich würde ich so etwas niemals tun, aber das interessierte den Dekan und die Aufsichtsbehörde herzlich wenig. Ich war nicht blöd, ich wusste, wie es ablaufen würde, wenn die Aufsicht Wind von unserem Verhältnis bekäme. In deren Augen wäre ich der Antichrist, der die arme Studentin verführte.
Der Gedanke daran, wie falsch das alles war und daran, dass ich mich bereits auf ganz dünnem Eis bewegte, brachte mich wieder einigermaßen zu Vernunft.
Abrupt wandte ich den Blick von Laney ab.
Es mochte mir vorgekommen sein, als hätten wir uns eine Ewigkeit angesehen. In Wahrheit jedoch war es nicht mehr als nur ein flüchtiger Blick. Wenn überhaupt.
Ich musste mich auf den Wettbewerb konzentrieren.
Bereits früh heute Morgen war ich schon einmal hier gewesen und hatte beim Aufbau sowie den Vorbereitungen geholfen, schließlich fungierte ich, genauso wie einige andere Professoren, als Koordinator und Leitung der Yale First Years Olympics.
Als ein lauter Knall ertönte und den Beginn der Spiele verkündete, ging ich wieder dazu über, Laney die kalte Schulter zu zeigen. Zum einen, weil ich noch immer sauer über ihr Verhalten war und zum anderen, weil es mir dabei half, mich von den Gefühlen abzulenken, die sie in mir hervorrief.
Hin und wieder jedoch musste ich sie leider beobachten, um ihre Leistung zu bewerten. Laneys Aussage damals, dass sie keine Ausdauer besitzen würde, glich tatsächlich einer wahrlichen Untertreibung. Schon bei der kleinsten Anstrengung schnaufte sie, als hätte sie soeben den Mount Everest bestiegen und der Schweiß rann ihr in Strömen über die Stirn. Ihr Gesicht war leichenblass, sogar noch blasser als sonst und es war ihr anzusehen, dass sie vollkommen überfordert war.
Laney war nicht gesund.
Das wusste ich.
Ich erinnerte mich daran, dass sie mir von ihren Herzrhythmusstörungen erzählt hatte, wenngleich mich hin und wieder - insbesondere wenn ich sie jetzt so ansah - das Gefühl beschlich, dass sie mir etwas verschwieg. Ein kurzer Anflug von Sorge überkam mich, den ich jedoch geflissentlich beiseite schob. Laney war alt genug. Sie würde wissen, wo ihre Grenzen lagen. Sie war sicherlich nicht so blöd, ihre Gesundheit einem unnötigen Risiko auszusetzen. Außerdem konnte sie es auf den Tod nicht ausstehen, bevormundet zu werden, das hatte ich schon das ein oder andere Mal bemerkt.
Als mir bewusst wurde, dass ich schon wieder über Laney nachdachte, biss ich verärgert die Zähne zusammen und mahnte mich zur Vernunft. In der nächsten Stunde gelang es mir mehr schlecht als recht, Laneys Anwesenheit auszublenden. Jedoch schaffte ich es, ihr weder heimliche Blicke zuzuwerfen noch ihr hinterherzuschauen, wie ein notgeiler Sack. Dafür jedoch sah Laney mich an. Immer wieder spürte ich ihre Blicke auf mir, fast so, als erwartete sie, dass ich auf sie zuging. Ihre Blicke erwiderte. Mit ihr sprach. Dabei hatte sie doch mehr als deutlich gemacht, dass sie nicht mit mir sprechen wollte. Ich tat also nichts anderes, als ihrem Wunsch nachzukommen.
Als sie schließlich gegen eine ihrer Kommilitoninnen, Charlotte Larson, verlor und ich das Mädchen sogar noch lobte, schien Laney kurz vorm Explodieren zu sein.
Es war grausam von mir, aber auf eine absurde Art und Weise gefiel es mir, Laney aus der Reserve zu locken. Sie zu ärgern. Sie zur Weißglut zu bringen. Ich mochte diese leichte Zornesröte, die ihre Wangen jedes Mal überzogen wie die Farbe von sanften Rosenblättern. Ich mochte den leicht verkniffenen Gesichtsausdruck und die kleine Zornesfalte, die zwischen ihren Brauen entstand. Oh ja, wütend zu sein, stand Laney. Es machte sie sexy.
In den Folgerunden schien sie sich noch mehr anzustrengen und ich war mir nicht sicher, ob sie es nur tat, um einfach etwas Dampf abzulassen oder ob sie mir damit eine Reaktion entlocken wollte. Doch als sie mich nach einem weiteren Sieg plötzlich direkt ansprach, wusste ich, dass letzteres der Fall war.
»Hey Professor, haben Sie meinen Sieg notiert? Sie wissen ja, Chancengleichheit und so«, rief sie mir zu. Ihre Stimme hatte einen seltsam zittrigen, fast schon nervösen Unterton.
Überrascht hob ich den Blick zu sah sie an.
Ihr Anblick raubte mir wie jedes Mal regelrecht den Atem und ich hatte alle Mühe, die Gefühle, die sie in mir hervorrief, hinter einer kühlen, distanzierten Maske zu verstecken. Doch so sehr ich mich auch darüber freute, dass sie mit mir sprach, verstand ich gleichermaßen nicht, was sie damit bezweckte. Sie wollte schließlich nicht mit mir reden. Oder etwa doch? Blitzartig erinnerte ich mich an ihre Worte in meinem Vorlesungssaal.
»Wir werden über gar nichts reden«, fauchte sie. »Weil es nämlich nichts zu bereden gibt.«
Die Erinnerung an unser Gespräch ließ sofort wieder Wut in mir aufflammen. Wut darüber, dass Laney sich so kindisch verhielt, wo es doch um so viel mehr ging, als nur um diesen blöden Kuss. Es ging um ihre Karriere. Und um meine Karriere. Um unseren Ruf. Verstand sie das denn nicht?
Schnell fing ich mich wieder und wandte den Blick von ihr ab.
»Das war kein Sieg«, erwiderte ich ruhig und mit kalter Stimme. »Das war Glück.«
Verdammt, ich war ein Arschloch. Ein riesiges Arschloch.
»Glück?«, wiederholte sie und hob die Brauen. Ich brauchte ihr nichts ins Gesicht zu blicken, um zu wissen, dass meine Worte sie gekränkt hatten.
Rastlos fuhr ich mir mit der Hand durchs Haar. Wenn ich dieses Gespräch nicht bald beendete, würde es wieder in einem Streit enden und ich war mir nicht sicher, ob wir beide etwas sagen würden, dass wir hinterher bereuten.
»Ja, Sie sind grottenschlecht«, antwortete ich distanziert, ohne sie anzuschauen. »Strengen Sie sich mehr an, wenn Sie keine Schande für das Jonathan Edwards sein wollen.« Mit diesen Worten wandte ich ihr erneut den Rücken zu und ging zur Startlinie, um die nächste Runde zu betreuen.
Fuck. Ich bin wirklich ein riesiges Arschloch.
♥
Die nächste Runde verlor Laney wieder.
Sie strengte sich mehr und mehr an, wirkte regelrecht verbissen, Siege einzufahren und scheiterte doch immer wieder kläglich. Sie tat mir ein bisschen leid und ich kam nicht umhin, mir selbst die Schuld dafür zu geben, dass sie sich nun derart verausgabte.
Meine Worte hatten sie verletzt und nun wollte sie sich selbst etwas beweisen.
Wir waren gerade in der zweiten Runde des Völkerballs, als sie mit einem Ball abgeworfen wurde und zur Seitenlinie treten musste. Zur Seitenlinie, in dessen Nähe ausgerechnet ich stand und das Spiel beobachtete.
Mit einem grimmigen Gesichtsausdruck bezog Laney Stellung und drehte mir den Rücken zu. Ich versuchte mich auf das Spiel zu konzentrieren, aber irgendwie wollte mir das nicht so ganz gelingen. Immer wieder triftete mein Blick ab. Zu Laney. Ich erwischte mich dabei, wie meine Augen über sie hinwegglitten, sie betrachteten. Sie...
Stopp.
Gott, ich verhielt mich wie ein pubertärer Teenager. Das war ja nicht mehr auszuhalten.
Gerade, als ich den Blick wieder abwenden wollte, fiel mir auf, dass sie sich ihre Hand auf die Brust legte und die Augen schloss, fast so, als würde sie ihren Herzschlag zählen.
Hatte sie wieder Probleme mit ihrem Kreislauf?
Plötzlich überkam mich eine unbändige Sorge. Und Wut.
Obwohl Laney Taylor für ihre neunzehn Jahre bereits verdammt reif war, war sie gleichermaßen naiv. Absolut verantwortungslos, wenn es um ihre Gesundheit ging. Sie spielte ihren Zustand herunter. Auch in Bezug auf mich verhielt sie sich kindisch. Es machte mich rasend, dass sie nicht mit mir sprechen wollte.
Ich wollte mit ihr reden. Und das würde ich. Und sei es nur drum, wieder mit ihr zu streiten...
»Du sollst dich frei werfen und nicht herumstehen und Löcher in die Luft starren«, hörte ich mich selbst sagen, angetrieben von Zorn und Verzweiflung.
Laney zuckte erschrocken zusammen.
Offenbar hatte sie nicht erwartet, dass ich mit ihr sprechen würde. Ihr ganzer Körper verspannte sich. Ich sah es an ihrer Hand auf dem Brustkorb, an ihren Schultern, die sich plötzlich zusammenzogen. An ihrer Haltung.
Ein ganzer Augenblick verstrich, bis sie mir endlich antwortete.
»Macht es dir Spaß, mich zu quälen?«, fragte sie leise, ohne sich zu mir umzudrehen. So leise, dass nur ich es hören konnte. Ich sog scharf die Luft ein und schluckte den Kloß in meinem Hals herunter, der bei ihren Worten entstand.
Ich quälte sie? Ernsthaft? Sie war diejenige, die sich weigerte mit mir zu reden, wie Erwachsene es tun würden... Kurz herrschte Schweigen zwischen uns, während ich nach einer Erwiderung suchte. Aber es wollte mir nichts einfallen.
»Ich weiß nicht, was du meinst.« Teilnahmslos ließ ich meine Augen über das Geschehen wandern.
Laney wirkte mit einem Mal zornig und nun drehte sie sich doch herum. Aus zusammengekniffenen Augen funkelte sie mich böse an.
»Ach nein?«, fragte sie herausfordernd.
Ich nahm meine Augen von dem Geschehen auf dem Spielfeld und richtete sie auf Laney.
Wie konnte man nur so schön sein?
»Nein.«
Sie biss die Zähne zusammen und ballte ihre Hände an den Seiten zu Fäusten.
»Wie wäre es damit: Erst ignorierst du mich und nun beleidigst du mich schon das ganze Spiel über?«, half sie mir auf die Sprünge.
»Ich beleidige dich nicht. Ich sage nur die Wahrheit. Du hast den Sport eben nicht erfunden«, ich zuckte betont lässig mit den Achseln, was sie nur noch rasender zu machen schien.
Ich wusste, dass ich mich selbst verhielt wie ein absoluter Vollidiot. Laney hatte das nicht verdient, ganz gleich wie kindisch sie sich letzte Woche in meinem Vorlesungssaal verhalten hatte.
Es war nicht Wut, die mich dazu brachte, solch verletzende Dinge zu ihr zu sagen.
Es war auch nicht, weil ich Laney aus der Reserve locken wollte.
Es war schlicht und ergreifend verletzter Stolz.
»Was ist dein scheiß Prob -«, Laney hielt mitten im Satz inne und erstarrte. Ein ächzender Laut kam über ihre Lippen und schlagartig taumelte sie ein paar Schritte rückwärts.
Ihre Hände verkrampften sich um das T-Shirt über ihrer Brust.
»Laney?«, rief ich geschockt und mein Körper war mit einem Mal in Alarmbereitschaft.
Laney schien mich gar nicht mehr wahrzunehmen. Ihr Gesicht war mit einem Mal leichenblass, ihre Pupillen erweitert und ein leerer Ausdruck trat ein.
Ich verringerte den Abstand zwischen uns. Mit ein paar schnellen Schritten stand ich vor ihr und ergriff ihre Arme.
»Laney? Was ist los?«, meine Stimme wurde hektisch. Panisch. Mein Körper spannte sich an und Angst kroch über mich hinweg wie eine Flut. Was zum Teufel war los mit ihr? Hatte sie wieder Herzrhythmusstörungen? Hatte ihr Defibrillator einen Schock abgegeben?
Meine Augen wanderte über sie hinweg, als könnte ich so die Ursache ihres Zustandes ausmachen. Als ich ihre Lippen in Augenschein nahm, riss ich entsetzt die Augen auf.
»Deine Lippen sind ganz blau! Laney, was ist los?«, meine Stimme wurde lauter, so laut, dass nun auch andere Studenten und Professoren auf uns aufmerksam wurden.
Laney japste immer wieder erschrocken nach Luft zu, aber ihr Körper schien ihr nicht mehr zu gehorchen. Er funktionierte nicht mehr. Statt zu atmen, kamen nur noch vereinzelte, erstickte Laute aus ihrem Mund.
Und dann kniff sie erneut schmerzverzerrt die Augen zusammen. Ihre Finger krallten sich regelrecht in den Stoff ihres Shirts und wieder taumelte sie ein paar Schritte von mir zurück. Mein Griff um ihre Arme wurde fester im verzweifelten Versuch, sie auf den Beinen zu halten.
Laney drohte das Bewusstsein zu verlieren.
Ihre Augen wanderten suchend über mein Gesicht, bis sie die meine fanden. Und was ich sah, schnürte mir die Kehle zu.
Panik. Angst. Furcht.
Laney kämpfte mit aller Macht gegen etwas an, das ich nicht einmal ansatzweise verstand. Es war, als versuchte sie in meinem Blick Halt zu finden.
Jäh knickten ihre Knie ein und sie krallte sich an meinen Armen fest. Doch sie schaffte es nicht mehr, sich zu halten und sackte zusammen. Vorsichtig ließ ich mich mit ihr ins Gras sinken, während sich ein weiteres Ächzen über ihre Lippen stahl.
Im Augenwinkel erkannte ich, wie ihre Freundinnen sich neben mir ins Gras sinken ließen.
»Laney? Laney? Sprich doch mit mir! Was ist los?«, rief ich entsetzt, doch Laney hing nur schlaff in meinen Armen, halb über mir und halb auf dem Rasen. Ihr Gesicht war kreidebleich und immer wieder schien sie verzweifelt nach Luft zu ringen, als ersticke sie.
Laney so zu sehen, war entsetzlich. Grauenvoll. Furchtbar.
Aber dann, wie aus dem Nichts, formten ihre Lippen ein Lächeln.
Ein kleines, friedliches Lächeln, das mir das Blut in den Adern gefrieren ließ.
Dann verlor sie komplett das Bewusstsein und begann zu krampfen. Ihre Augen rollten nach hinten und ihr gesamter Körper wurde von heftigen Anfällen gepackt. Unaufhörlich begann sie zucken. Ihre Arme. Ihre Beine. Ihr Oberkörper. Schaum lief ihr aus dem Mund und sie zappelte hektisch, während sich an ihrer Hose ein nasser Fleck ausbreitete.
Das hatte nichts gutes zu bedeuten.
Absolut nicht.
»Fuck«, fluchte ich panisch und es fiel mir schwer, dem Drang zu widersprechen, Laney zu halten, während ihr Körper erschüttert wurde. Doch ich wusste, dass man Menschen, die einen Krampfanfall erlitten, nicht festhalten durfte, um Verletzungen zu vermeiden. Blitzartig wandte ich mich an die umstehenden Leute. Hatte etwa noch niemand Hilfe gerufen?
»Worauf wartet ihr? Ruft einen Rettungswagen!«, brüllte ich sie an. Kurz darauf schien einer der Professoren zum Telefon zu greifen. Ich hörte, wie er telefonierte. Doch all das nahm ich nur am Rande wahr. All meine Aufmerksamkeit lag auf dem Mädchen in meinen Armen, das mich die schlimmste Zeit meines Lebens nochmal durchleben ließ.
Ruhelos wanderten meine Augen über sie hinweg, während ich nicht den geringsten Schimmer hatte, wie ich ihr helfen sollte. Was ich tun konnte...
Vor meinem inneren Auge spielten sich Bilder ab. Bilder, die ich nie wieder sehen wollte und doch trieben sie jede Nacht in meinen Träumen ihr Unwesen. Suchten mich heim. Ließen mich nicht mehr los...
»Laney hat Herzschwäche im dritten Stadium. Sie braucht ein Spenderherz und hatte letzte Woche erst Kammerflimmern. Ich glaube ihr Defibrillator schafft es nicht.« Eine von Laneys Freundinnen war neben mir auf die Knie gesunken. Ich hob den Blick und sah das asiatische Mädchen an, deren Blick nun völlig starr auf Laney lag.
Als ihre Worte langsam aber sicher durchsickerten und meinen Verstand erreichten, hatte ich das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren.
Laney hatte Herzschwäche?
Sie brauchte ein Spenderherz?
Noch immer lagen meine Augen leer auf Laneys Freundin, während ich zu begreifen begann. Dann wanderte mein Blick langsam zu Laney, deren Krämpfe allmählich nachließen.
Entsetzen breitete sich in mir aus, als sich die Puzzlestücke nacheinander zusammensetzten.
Laneys Kreislaufprobleme. Der Defibrillator. Ihre Unsportlichkeit. Ja, sogar die Bucket List und ihre immerwährende Blässe. Der Grund, weshalb sie sich weigerte, mit mir zu reden...
Laney Taylor war todkrank.
Und dann, als hätte sich ein Schalter in mir umgelegt, schaltete mein Körper auf Überlebensmodus. Auf Autopilot. Ich musste überprüfen, ob sie einen Herzstillstand hatte. Also legte ich zwei Finger an ihr Handgelenk und fühlte ihren Puls. Dann hob ich mein Gesicht über ihres und lauschte nach Atemgeräuschen. Aber da war nichts. Noch weniger als nichts...
»Und?«, hakte ihre Freundin beunruhigt nach und griff nach Laneys Hand.
»Nichts«, erwiderte ich stumpf. »Kein Puls.«
»Eine Herz-Lungen-Wiederbelebung«, erklang plötzlich die Stimme ihrer anderen Freundin Caya neben uns. Im nächsten Moment ließ sie sich zu uns auf die Knie sinken.
»Sie hat mir letzte Woche erklärt, dass man in so einem Fall eine Herz-Lungen-Wiederbelebung machen muss. Dreißig Kompressionen und zwei Mal Beatmen«, die Hände des Mädchens zitterten, als sie sie auf Laneys leblosen Körper legte.
»Oh Gott«, flüsterte sie und Tränen rannen ihr über die Wangen. Ihr Blick wanderte zu Laneys Gesicht. »Bitte Laney, mach die Augen auf. Mach einfach die Augen auf!«
Sie schaffte es nicht.
Sie stand viel zu sehr unter Schock, was ich ihr nicht verübeln konnte. Sicher hatte sie so etwas dramatisches noch nie erlebt. Im Gegensatz zu mir.
»Ich mache das«, Ich schob Cayas Hände beiseite, womöglich etwas zu ruppig, und legte meine eigenen auf Laneys Brust. Dann begann ich sie zu reanimieren, wie ich es schon einmal getan hatte.
Eins. Zwei. Drei. Vier. Fünf. Sechs. Sieben. Acht. Neun. Zehn. Elf. Zwölf. Dreizehn. Vierzehn. Fünfzehn. Sechzehn. Siebzehn. Achtzehn. Neunzehn. Zwanzig.
Wie in Trance führte ich immer und immer wieder dieselbe Bewegung aus. Ich spürte nicht einmal die Anstrengung, die mit einer Reanimation einherging. Alles, was in diesem Moment zählte, war es, ihr Leben zu retten. Sie durfte nicht sterben.
Aus weiter Ferne erklangen die Sirenen eines Rettungwagens. Zumindest glaubte ich das.
Einundzwanzig. Zweiundzwanzig. Dreiundzwanzig. Vierundzwanzig. Fünfundzwanzig. Sechsundzwanzig. Siebenundzwanzig. Achtundzwanzig. Neunundzwanzig. Dreißig.
Ich unterbrach das Eindrücken ihres Brustkorbs und streckte Laneys Kopf nach hinten. Dann legte ich meine Lippen auf ihre und beatmete sie. In einer anderen Situation, hätte ich womöglich die Weiche ihrer Lippen wahrgenommen, die Wirkung, die Laney schon von der ersten Sekunde an auf mich hatte. Aber in diesem Moment war alles was zählte, sie nicht sterben zu lassen.
Nach dem Beatmen, begann ich von Neuem.
Ich reanimierte Laney so lange, so unerbittlich, bis der Rettungsdienst endlich eintraf.
Mit ihren Taschen kamen sie über den Rasen gerannt und ließen sich vor Laney auf die Knie sinken.
»Neunzehnjähriges Mädchen«, begann ich unaufgefordert zu reden, ohne die Reanimation zu unterbrechen. Eine Frau in blauer Uniform hörte mir aufmerksam zu, während sie selbst Laneys Puls und Atmung kontrollierte. »Ihr Name ist Laney Taylor. Sie leidet an Herzinsuffizienz im dritten Stadium. Keine Atmung und keinen Puls. Ich reanimiere seit drei Minuten.«
»Wir übernehmen«, die Frau nickte wissend und trat an meine Stelle. Für einen kurzen Moment zögerte ich, aber dann gab ich Laney frei, woraufhin die Notfallsanitäterin Laneys Shirt aufschnitt und die Reanimation direkt fortsetzte.
Es fiel mir unglaublich schwer, meine Hände von ihrem Brustkorb zu nehmen. Mit dem Versuch aufzuhören, ihr das Leben zu retten. Ihr Leben in die Hände anderer Menschen zu geben. Doch mir blieb nichts anderes übrig.
Erst jetzt bemerkte ich, wie anstrengend es gewesen war, Laney ganze drei Minuten lang zu reanimieren. Der Schweiß stand mir auf der Stirn und mit leerem Blick starrte ich auf meine zittrigen Hände.
Plötzlich waren sie voller Blut.
Überall Blut.
Wo kam das Blut her?
Ich hob den Blick und starrte auf einen leblosen Körper. Ein Körper, der nicht Laney gehörte, sondern jemand anderem.
Mit einem Mal war ich wieder an dem Ort vor elf Jahren.
Ein dunkler, grausamer Ort, der mich nahezu jede Nacht heimsuchte.
Ich schluckte schwer und versuchte die Bilder zu vertreiben.
»Beginne mit der HLW«, erklärte die Frau, die anscheinend das Sagen hatte und riss mich somit wieder ins Hier und Jetzt. »Wir benötigen Defibrillator und Sauerstoffbeutel. Ein Milligramm Adrenalin.«
Keine Sekunde später zückte ihr Kollege eine rote Tasche. Im Eiltempo befestigte man Elektroden auf Laneys Brust und legte ihr einen intravenösen Zugang. Der Blick der Rettungshelferin wanderte auf den Bildschirm des Geräts, auf dem nun Laneys Herzfunktionen angezeigt wurden.
»Kammerflimmern. Schock empfohlen«, hörte ich die Frau sagen. »Achtung, alle weg von der Patientin.«
Im nächsten Moment wurde Laneys Körper von einem heftigen Beben erfasst. Danach legten sich die Hände der Frau sofort wieder auf Laneys Brust und sie führte die Reanimation fort. Das Ganze wiederholten sie ganze drei Mal.
Erfolglos.
Ich schluckte schwer. Mein Mund fühlte sich so trocken an, wie die Wüste.
»Wir verlieren sie«, sagte die Notfallsanitäterin, während ihr gehetzter Blick auf den Bildschirm des Geräts flog. »Dreihundert Milligramm Amiodaron.«
In Windeseile verabreichte der Kollege Laney ein Medikament, während die Frau noch immer unerbittlich um Laneys Leben kämpfte.
»Schock empfohlen, weg von der Patientin.«
Erneut wurde Laneys Körper von einem Beben erfasst. Der Blick der Notfallsanitäterin wanderte hektisch zum Bildschirm, von dem ein seltsames Piepen aus erklang.
Ihr Kollege folgte jeder ihrer Anordnungen, während die Frau unaufhörlich Laneys Brust eindrückte. Laneys Freundin Caya begann bitterlich zu schluchzen und griff nach der Hand des asiatischen Mädchens, klammerte sich regelrecht daran fest, als wäre es der einzige Anker, den sie in dieser trostlosen Stunde fand. In der Stunde, in der Laneys Leben auf Messers Schneide stand.
Ich hingegen saß einfach nur stumm daneben und sah zu.
Unfähig etwas zu tun.
Unfähig, zu helfen.
Obwohl ich es versucht hatte.
Doch ich hatte es nicht genug versucht. Ich war gescheitert.
Wieder rasselten Bilder vor meinem inneren Auge auf mich herab.
Bilder an eine regnerische Nacht. Die Tropfen liefen an der Windschutzscheibe hinab und eine laute Stimme hallte in dem Auto wider. Es war meine eigene Stimme. Sie war energisch. Aufgebracht. Wütend. Und im nächsten Moment saß ich am Straßenrand, meine Hände voller Blut, das nicht meines war...
Schuldgefühle überfielen mich und breiteten sich in mir aus, wie pures Gift.
War es meine Schuld, dass Laney um ihr Leben kämpfte? Hatte ich sie mit meinen gemeinen Kommentaren dazu getrieben, sich über ihre Gesundheit hinaus zu verausgaben? Hatte ich mich wieder einmal nicht genug angestrengt, sie zu retten? Der Gedanke schnürte mir die Kehle zu.
Wenn es um Leben und Tod ging, waren uns die Hände gebunden. Selbst das Wissen, dass jeden Tag fast zweihunderttausend Menschen starben, während knapp vierhunderttausend geboren wurden, dass dieser Vorgang etwas ganz Natürliches war, half mir nicht dabei, den Tod eines nahestehenden Menschen zu akzeptieren.
Wieder einmal wurde mir bewusst, wie klein der Mensch doch eigentlich war. Wie unbedeutend. Und obwohl Laney kein Familienmitglied war und ich ihr auch nicht besonders nahestand, ließ der Gedanke, sie nie wieder lachen zu sehen, mein Herz erstarren.
Nie wieder tiefgründige Gespräche mit ihr zu führen.
Nie wieder mit ihr zu diskutieren.
Nie wieder in diese wunderschönen braun-grünen Augen zu sehen.
Sie nie wieder zu berühren.
Nie wieder zu küssen.
Ich schloss die Augen im Versuch mich zu beruhigen, aber stattdessen plagten mich quälende Erinnerungen und Schuldgefühle.
Eines war sicher: Wenn Laney das nicht überlebte, würde ich eine weitere Person auf dem Gewissen haben. Ich würde es mir nicht verzeihen können.
Und als hätte Gott oder irgendeine höhere Macht meine Gedanken erhört und wollte mir ein Leben in Reue ersparen, begann die Notfallsanitäterin die erlösende Worte zu sprechen.
»Wir haben wieder einen Rhythmus«, stieß die Frau atemlos hervor. »Sie muss sofort ins Krankenhaus! Bereit machen für den Transport.«
Fassungslos riss ich die Augen auf und richtete sie auf den Bildschirm, der Laneys Herzaktivität anzeigte. Und tatsächlich, er zeichnete wieder einen einigermaßen gleichmäßigen Rhythmus auf. Erleichterung überflutete mich wie ein Tsnumai und ich stieß die angehaltene Luft aus, von der ich gar nicht bemerkt hatte, dass ich sie anhielt.
Mein gesamter Körper stand unter Strom, während ich begriff, dass heute der Tag war, an dem ich das Trauma, das ich vor elf Jahren erlitten hatte, noch einmal durchleben musste.
Mit dem Unterschied, dass es dieses Mal gut ausgegangen war.
Ich konnte mich insofern wieder fangen, dass ich den Rettungsdienst darum bat, mitfahren zu dürfen. Ich wollte Laney nicht alleine lassen. Nicht nachdem sie in meinen Armen zusammengebrochen und fast gestorben wäre.
Und während ich in dem Rettungswagen saß und sie auf dem Weg ins Krankenhaus begleitete, kam ich nicht umhin zu begreifen, wie absolut paradox der Mensch doch war. Wie paradox ich war.
Zwar hatte ich Philosophie studiert, weil ich die Welt schon immer ein wenig anders gesehen hatte, als meine Mitschüler und weil ich schon immer fasziniert gewesen war, von den verschiedenen Weltanschauungen der großen Dichter und Denker. Aber das war nicht der einzige Grund. Ich hatte Philosophie auch studiert, weil ich auf diese Weise den Tod und den Sinn es Lebens zu verstehen versuchte. Weil ich eine vernünftige Erklärung für das finden wollte, was nach dem Tod kam. Weil ich die Gewissheit gesucht hatte, dass alles aus einem Grund geschah. Vor allem aber, weil ich lernen wollte, den Tod zu akzeptieren.
Ich hatte jahrelang studiert.
Ich hatte Bestnoten erbracht.
Ja, ich hatte sogar meine Doktorarbeit über den Tod und das Leben geschrieben.
Und doch hatte ich heute gelernt, dass ich noch weit davon entfernt war, den Tod zu akzeptieren, während ein Mädchen von gerade mal neunzehn Jahren ihn mit einem friedlichen Lächeln und offenen Armen willkommen geheißen hatte...
Hello ihr Lieben!
Sorry für das verspätete Kapitel. Die Arbeit spannt mich aktuell extrem ein! Ich habe jedoch mein Bestes gegeben & hoffe das Kapitel gefällt euch trotzdem.
Ich freue mich schon sehr darauf, von euch zu hören <3
Eure Lora
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