9 - Der weiße Teufel
Schnaufend liefen Brya und Azarel in einem gemäßigten Tempo über den Sandweg. Sie hatten beschlossen kein Versteckspiel aus ihrer Reise zu machen, da Azarel die aufkommenden Schergen als Übung für Brya anerkannte.
Ihre Besorgnis, sie würden dann dennoch wissen, wann sie wo waren und wohin sie gehen wollte, tat er damit ab, dass es nun ohnehin zu spät war. Vorsicht schien nicht gerade seine Spezialität zu sein. Die nächsten Stunden verliefen zum Glück ohne besondere Zwischenfälle, so konnte sich Brya also darauf konzentrieren nicht aufzugeben, da der Lauf ihrer Ausdauer einiges abverlangte.
Sicher war ihre Kondition gut ausgeprägt, doch sie war noch nie länger als eine Stunde tatsächlich gelaufen.
Ihre schwachen Muskeln flehten sie beinahe an stehenzubleiben und rissen an ihrem Geist. Sich diesem Gefühl hinzugeben wäre vielleicht erleichternd, doch wollte sie keineswegs ihre Schwäche mehr preisgeben, als sie es schon getan hatte. Azarel sah eine Menge in ihr, was genau, wusste sie nicht.
Letztendlich war sie vermutlich bloß seine Eintrittskarte in das Reich der Altelfen, doch es könnte noch mehr dahinterstecken. Diese Vermutung wollte Brya zunächst für sich behalten. So freundlich gesinnt er auch schien, es könnte sich schnell ändern.
Auch als das Licht der schwachen Morgensonne sich einen Weg durch die Blätter bahnte, machten sie keinen Halt. Einige Male, als Brya in den Himmel gesehen hatte, erkannte sie in der Ferne das leicht leuchtende rote Inferno in der Ferne. Der Riss.
Zum Glück schien Azarel dennoch gnädig zu sein und ersparte ihr das ständige Laufen mit einigen Schrittpausen.
Nach einigen Stunden war der Tag schon weit vorangeschritten.
Der erste Tag ihrer viertägigen Reise war nun also fast beendet und der Weg, den sie liefen, erstreckte sich durch die Tiefen der Wälder.
Azarel blieb plötzlich stehen und drehte sich zu ihr um. Erleichtert blieb auch Brya stehen und atmete einige Male heftig durch.
»Wenn wir weiterhin so langsam sind, brauchen wir doch fünf Tage bis wir am Fuß des Gebirges angekommen sind.«
Schnaufend und die Hände auf ihren Beinen abgestützt richtete sie ihren Kopf zum Boden.
»Was schlägst du also vor? Noch schneller laufen?« Sie hoffte inständig darauf, dass er dies verneinte. Schneller würde sie umbringen.
»Nun das wäre eine Option, allerdings sehe ich, dass dein verweichlichter Menschenkörper das nicht schaffen würde.«
Es war schön zu wissen, dass er ihre Schwäche auch ohne ihre Hilfe erkannt hatte, sehr schön.
»Nicht weit von hier ist ein Dorf mit Stallungen. Wir werden uns bei Anbruch der Nacht zwei Pferde borgen.«
Brya schnaufte auf.
»Du meinst stehlen.«
»Wenn du es so sagst, klingt es so böse.«
Nachdem Brya sich aufgerichtet und sich eine ihrer Strähnen hinters Ohr geklemmt hatte, runzelte sie die Stirn: »Nun, es ist böse den Menschen etwas zu entwenden.«
Mit einer Kopfbewegung bedeutete Azarel ihr zu folgen. Die kleinen Kiesel knirschten unter ihren Stiefeln, während er seinen Plan erklärte.
»Es ist durchaus wichtig, dass wir schnell vorankommen. Je schneller wir reisen, desto eher sind wir bei den Altelfen und können diesem Chaos ein Ende setzen. Manchmal muss man das kleinere Übel wählen, um das Große zu verhindern.«
Brya dachte einige Sekunden über das nach, was er ihr gesagt hatte.
Der Notstand einer Bauernfamilie durch den Verlust zweier Pferde stellte also das kleine Übel dar, während die zu späte Ankunft im schwarzen Gebirge das große Übel darstellte?
Oder darstellen könnte.
»Es ist nicht gewiss, ob wir nicht vielleicht sogar mehr bezwecken, wenn wir den edleren Weg gehen und nicht stehlen.«
»Edel?«, Azarel lachte, »In dieser Welt gibt es den Gedanken an edle Taten schön längst nicht mehr. Du kannst mir nicht erzählen, dass du in deinem Leben nicht schon einmal Essen gestohlen hast.«
Empört blieb Brya stehen: »Ich wäre verhungert!«
»Richtig. Du stahlst Brot, um zu überleben. Du wähltest das kleinere Übel.«
~
Langsam, aber sicher, kehrte Ruhe in das Dorf ein und die Menschen schlossen ihre Fenster. Neben ihr hockte Azarel und beobachtete jeden Winkel des kleinen Dorfes, in dem sich nur fünf Häuser befanden.
Sie mussten leise vorgehen. Wenn die Pferde sich erschraken, würden die Dorfbewohner sicherlich auf die Straße kommen, um nach dem Rechten zu sehen. »Schleich du dich in die Stallungen, ich halte vor dem Tor Wache und werde dir ein Zeichen geben, wenn du verschwinden musst.«
Beinahe hätte Brya ihre Aufgabe abgelehnt, doch sie bedachte, dass Azarels Sinne sehr viel ausgeprägter schienen als ihre und er somit die bessere Wache spielte.
Ohne ein weiteres Wort schlichen sie in gebückter Haltung aus ihrem Versteck und teilten sich auf. Durch eines der Fenster kletterte Brya in die hölzerne Stallung und landete auf einem Heuballen. Die Pferde schnauften aufgeregt, als sie sie erblickten.
Es gab fünf von ihnen, das war gut. Das stehlen würde ihr noch schwerer fallen, wenn das Dorf nur zwei Gäule zu bieten hätte.
»In Ordnung, dann wollen wir mal«, flüsterte sie zu sich selbst, als sie sich dem Gestell mit Sätteln und Trensen.
Brya hatte noch nie zuvor ein Pferd aufgesattelt, daher hatte sie einige kleinere Bedenken. Als sie einen Sattel und eine Trense herausgesucht hatte, blickte sie zu den Pferden.
Sie waren alle wunderschöne Geschöpfe und schienen gut gepflegt zu sein.
»Melden sich zwei von euch freiwillig?«
Keines der Pferde machte einen Laut, sondern starrten Brya bloß an.
»Okay, dann... wähle ich eben selbst.«
Als sie näher zu den einzelnen Boxen der Pferde trat, beäugte sie jedes genauestens, bis ihr ein Kriterium einfiel. Sie wollte dafür sorgen, dass mindestens eine Stute und ein Hengst im Stall blieben.
So könnte der Schlag die Bauern doch nicht allzu schwer treffen. Beim Eintreten in die Box des ersten ausgewählten Pferdes, versuchte Brya vorsichtig das Pferd zu berühren.
Die weiße Stute schnaubte und roch an ihrer Hand als diese sich den Nüstern näherte.
Störrisch schüttelte das Tier den Kopf und legte die Ohren an.
»Das ist für uns beide unangenehm. Also lass es uns einfacher hinter uns bringen, okay?«
Während sie den Sattel mitsamt einer gestrickten Decke auf den Rücken des Pferdes legte, zuckte das Tier zusammen und trampelte ein wenig. Sie schien alles andere als erfreut.
Das Festzurren des Gurtes war eine brenzlige Angelegenheit, da die Stute unentwegt versucht Bryas Kopf mit einem ihrer Hinterhufe zu treten.
»Tut mir leid, tut mir leid«, stotterte sie ununterbrochen, um das Tier zu beruhigen.
Als sie fertig war, schnauften beide. Was eine Tortur. Nun folgte also die Trense.
Sollte dieses Metallstück wirklich in den Mund des Gauls?
Vorsichtig hielt sie es an den Mund der Stute und forderte sie mit Blicken auf, es in den Mund zu nehmen.
Von draußen vermachte sie Azarel, der flüsterte: »Was dauert denn da so lange?«
»Ich habs ja bald!«
Das Pferd versuchte nach Brya zu schnappen, erwischte allerdings nur das Mundstück, sodass Brya das Pferd auftrensen konnte.
»Gut, gut. Nun das Nächste.«
Sie führte die Stute aus der Box und ließ sie im Gang stehen, um zum nächsten Pferd zu gehen. Auch eine Stute und zum Glück wesentlich freundlicher. Sie ließ sich mühelos satteln und auftrensen, ja, sie nahm das Mundstück sogar ganz von allein ins Maul.
Auch dieses Pferd, ein wunderschönes Fuchsfarbenes, führte sie in den Gang. Sie würde dieses Reiten, Azarel solle sich ruhig mit dem weißen Teufel von zuvor abgeben. Mit einem Mal öffnete Azarel die Tore des Stalles, und zwar so schnell, dass sie laut gegen die Wände knallten und die Pferde vor Schreck ihre Vorderläufe anhoben.
»Schnell!«
Hinter Azarel sah man die Fackeln einiger Dorfbewohner.
Mit einem eleganten Sprung setzte er sich auf die fuchsfarbene Stute und trieb sie an, sodass diese losschoss, als wäre der Teufel hinter ihr.
Nun ja, der weiße Teufel, auf dem Brya nun reiten musste.
»Bitte friss mich nicht auf«, war alles, was sie sagte, als sie ihren Fuß in einen der Steigbügel setzte.
Noch nie saß sie auf einem Pferd und jetzt musste es ausgerechnet so ein Biest beim ersten Mal sein. Der Kopf der Stute schoss zu Brya und biss ein Loch in ihre Hose, als sie sich gerade hoch schwingen wollte.
»Verdammt!«
Das Pferd schüttelte den Kopf und Brya stieg auf. Der Sattel war sogar recht bequem.
»Los!«
Doch nichts rührte sich am Pferd. Auch nachdem Brya mehrere Male ihre Fersen an den Bauch des Tieres tippen lassen hatte, blieb es stur stehen. Die Dorfbewohner schrien auf, als Azarel an ihnen vorbeiritt und liefen dann auf Brya zu.
»Scheiße!«, schrie sie.
»Nun komm schon du dummer Gaul! Wir müssen hier weg.«
Dennoch bewegte sich dieses sture Tier keinen Millimeter vorwärts, nein sie ging rückwärts!
»Scheiße, nein!«
Instinktiv griff sie nach einem der Lederbänder am Sattel und schlug dem Pferd damit einmal auf das Hinterteil. Wiehernd sprang es nach vorne und preschte los.
Beinahe fiel Brya rücklings vom Pferd, konnte sich aber mit ihrem Unterschenkel gerade noch am Pferd festklammern.
Der Galopp dieser Stute war holprig und sie buckelte unentwegt, doch Brya schaffte es sie durch die Menge der Dorfbewohner zu lenken und so Azarel in den Wald zu folgen.
Nach wenigen Sekunden hatte sie zu ihm aufgeholt und er lachte sie tatsächlich aus. Sie wusste, dass ihre Reithaltung zu wünschen übrigließ, denn sie stieß ständig mit ihrem Schambein gegen das Horn am Sattel, an dem sie sich zugleich festhielt.
»Passe dich dem Rücken des Pferdes an!«
»Soll ich etwa auch ununterbrochen herumhüpfen?«, schrie sie ihm entgegen, als der weiße Teufel wieder anfing zu buckeln.
»Zeig ihr, dass du ihre Herrin bist, sonst wird das junge Ding dir nie gehorchen.«
Brya, die Herrin des weißen Teufels. Ein beeindruckender Titel, wenn man außer Acht ließ, dass es sich hierbei lediglich darum handelte, dass sie es auf die Reihe bekam ein verfluchtes Pferd zu bändigen.
Der weiße Teufel war ein verdammt stürmischer Gaul und das trieb Brya in den Wahnsinn. Das Tier versuchte immer noch Brya vom Rücken zu werfen, doch mit ihrem immer eiserner werdenden Willen, zerbrach jegliche Chance darauf.
Sie würde dieses Biest treiben, bis es nicht mehr vergessen würde, wer es aus dem Stall geholt und geritten hatte. Und je länger der Ritt war, desto weniger sträubte sich der weiße Teufel gegen ihren Sitz, der doch immer noch so unsicher und unglaublich unbeholfen aussehen musste. Ihr Becken stieß an einigen Stellen hart auf dem Sattel auf und Brya musste sich zusammenreißen, um dabei nicht jedes Mal laut zu fluchen.
Azarels Sitz sah so sicher aus. Wobei man erwähnen musste, dass er gar nicht wirklich saß, sondern in seinen Steigbügeln stand und sich nach vorne lehnte, die Arme in einem rechten Winkel und der gesamte Körper mit einer unglaublichen Muskelspannung.
Wäre er so gekleidet wie in der Taverne, nur mit Hose und Stiefeln, dann würde er einen noch beeindruckenderen Anblick liefern.
Nach Betrachtung seiner Haltung, beschloss Brya, sie auch zu versuchen, um den Schmerzen zu entgehen. Also hob sie ihr Becken an und stand in den Steigbügeln.
Zuerst war es wackelig und sie wollte sich am liebsten wieder hinsetzen und die Schmerzen einfach ertragen. Doch als sie für einen kurzen Moment die Augen schloss, spürte sie das Pferd.
Nicht nur die Bewegung, sondern die Kontraktionen jedes einzelnen Muskels.
Das Füllen der Lungenflügel machte sich an ihren Schenkeln bemerkbar und der Herzschlag des Pferdes pulsierte in ihren eigenen Adern.
Als Brya ihre Augen wieder öffnete, war sie eins mit dem weißen Teufel.
Ihre Körper bewegten sich im Einklang zueinander und dieser Fluss an Energie war das unfassbarste, was Brya jemals gespürt hatte.
Auch die Stute begann sich an diese Verbindung heranzuwagen und wurde zunehmend aufmerksamer auf das, was ihre Reiterin von sich gab, was ihr nächster Befehl werden würde. Brya lächelte und trieb das Pferd an, sie wollte noch schneller reiten.
Und es gehorchte, sodass der feuchte Wind der Wälder ihren Körper umschloss.
~
Die Äste, die im Feuer lagen, knackten im wärmenden Licht, während wieder einmal ein kleines Kaninchen geröstet wurde. Es war erstaunlich, wie gut Azarels Jagdfallen sein mussten. Schon nach wenigen Minuten ging er zurück in den Wald und holte aus einer der Schlingen eines der Geschöpfe.
»Meinst du, dass die Gylvanan uns helfen werden?« Azarel stocherte mit einem Ast in der Glut herum, an der Brya ihre Füße aufwärmte.
»Sie müssen.«
Bryas Blick war auf ihre Stiefel gerichtet.
»Sie haben doch geschworen für sich zu bleiben. Warum also sollten sie sich auf einmal dafür entscheiden, dass Hilfe angebracht sei?«
»Du bist eine von ihnen, Brya. Du könntest sie überzeugen. Du hast das Leid gesehen und gespürt. Wenn es jemand kann, dann du.«
Der weiße Teufel und die fuchsfarbene Stute schnaubten, während sie grasten und wirkten tatsächlich ein wenig glücklich, dass sie nicht im Stall standen.
Bevor sie allerdings etwas erwidern konnte, sprach Azarel weiter: »Die Gylvanan sind nicht unschuldig an dem, was passierte. Ja, sie haben die Menschen ausgenutzt und versklavt. Doch gleichzeitig gewährten sie Schutz vor allem Bösen, was in die Welt der Menschen eindringen konnte. Und als sie in die Berge gingen, da war auch ihr Schutz gegangen. Es stand den Menschen nun frei zu wählen und zu handeln. Daraus mögen große Städte geboren sein, aber das Streben nach mehr wurde immer größer. Bis der Mensch einen Fehler machte und seine schwächste Seite der Dunkelheit offenbarte.«
»Seine schwächste Seite?«
Azarel nickte und betrachtete ebenfalls die Pferde, ehe er mit festem Blick in Bryas Augen sah. »Gefühle.«
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