5 - Ein Moment der Ruhe
Nachdem Brya gefühlte tausende Stufen erklommen hatte, konnte sie endlich etwas Licht sehen. Der Mond schien durch den von Ranken verhangenen Torbogen der Ruine. Hinter dem Gestrüpp konnte sie Azarels Silhouette erkennen, also drängte sie sich zwischen den Ästen hindurch und stellte sich neben ihn.
»Wir sollten uns ein Lager für die Nacht suchen. Nicht weit von hier gibt es ein kleines Gasthaus an einer Weggabelung.«
Während sich die beiden durch den Wald bewegten, lauschte sie dem raschelnden Laub und den knatschenden Ästen. Tatsächlich hatte sie das Gefühl, jetzt alles noch klarer wahrzunehmen. Nach einer Weile des Laufens tat sich der Weg vor ihnen auf und Brya erkannte am Wegesrand den Fluss, der sie schon auf dem Weg zu der Hütte begleitet hatte. Bryas Kopf warnte sie unentwegt und so ließ sie Azarel nie aus den Augen, achtete auf jede seiner Bewegungen, doch ihr Bauch wirkte mehr als nur unbesorgt. Ihre Schritte waren behutsam und sie zögerte jedes Mal eine Sekunde, wenn Azarel einen Blick auf sie warf. Dieser wiederum lächelte dann bloß und ging stumm weiter.
Ohne überhaupt irgendeinen Wortwechsel gingen sie schnellen Schrittes Richtung Norden, bis man schon vom Weiten hören konnte, wie in dem Gasthaus geredet und getrunken wurde.
Vor ihnen zeigte sich eine nett beleuchtete Hütte, die vom Krieg wohl nicht viel abbekommen hatte. Zusammen gingen sie hinein und wurden gar nicht beachtet, als sie in den großen Speisesaal traten. Sofort stieg der Geruch von Bier und warmen Essen in ihre Nase, was ihren Magen ein ordentliches Konzert veranstalten ließ.
Hier standen mehrere runde Tische an denen trinkende Männer saßen, die teilweise Karten spielten oder einfach nur grölten. Wobei ihr Blick sich eigentlich eher auf die Schüsseln mit dampfenden Eintopf richtete.
Während Brya stehen blieb und versuchte die Lage abzuschätzen, schritt Azarel zum Tresen und redete mit der Wirtin. Neben diesem Tresen befand sich eine massive Holztreppe, die wohl zu den Zimmern führte. Es war einige Zeit her, seit Brya so viele Menschen auf einem Haufen gesehen hatte, die noch dazu glücklich zu sein schienen. Eine Seltenheit, die durchaus merkwürdig wirkte.
»Entschuldigung, Schätzchen.«
Brya zuckte zusammen und sah neben sich eine wunderschöne Frau stehen. Sie trug ein knielanges Kleid mit einem unglaublichen tiefen Ausschnitt, der ihren Busen wirklich hervorhob. Ihr Körper hatte Kurven und ihr Gesicht war schön, aber diese Oberweite.
Brya fragte sich, ob sie auch so schön sein könnte, wenn sie täglich etwas Ordentliches zu essen bekäme.
»Ich muss hier durch«, sie lächelte und deutete auf einen Tisch, den sie mit ihrem Tablett voller Bierkrüge bedienen wollte.
»O-oh natürlich«, stotterte Brya und trat beiseite. Schwungvoll rauschte die Magd an ihr vorbei und stellte im Vorbeigehen die Krüge ab, um dann direkt weiterzurauschen. Brya war beeindruckt von dieser Frau.
Alle Männer starrten ihr hinterher, wobei das etwas war, was sie nicht beneidete. Die gierigen Blicke wollte sie keineswegs auf sich Wissen. Auf einmal stand Azarel vor ihr.
»Es gibt nur ein Doppelzimmer, aber ich überlasse dir das Bett, sofern ich eines der Kissen bekomme.«
Bryas Magen drehte sich bei dem Gedanken um, mit einem Fremden in einem Zimmer zu schlafen und so beschloss sie, dass sie eines ihrer goldenen Augen offenzuhalten.
Ihr Blick richtete sich auf die Wirtin hinter dem Tresen. Die alte und etwas dickere Frau hatte etwas Seltsames an sich.
Ob es ihre schimmernden Augen waren oder die Tatsache, dass sie Brya anstarrte, wusste sie nicht. Aber es ließ sie allemal unwohl fühlen.
»Wir sollten zuerst etwas essen. Du könntest eine ordentliche Mahlzeit gebrauchen.«
Grummelnd nickte Brya, während sie ihm zu einem Tisch in der Ecke folgte.
Stillschweigend setzten sie sich und wurden nach einigen Sekunden schon von der Magd begrüßt: »Guten Abend ihr Hübschen. Was darfs denn bei euch sein?«
Azarel schaute Brya kurz an und orderte dann das größte Mal, das sie anzubieten hatten. Zweimal. »Darf ich euch dazu noch Bier bringen? Oder Wein?«
Bei der Erwähnung von Wein nickte er und die Magd eilte durch eine Tür, die vermutlich in die Küche führte. Brya hatte noch nie Wein getrunken, geschweige denn irgendeine Art von Alkohol.
Nervös, wegen der wohl neuen Erfahrung, fummelte sie an dem Saum ihres Mantels, während Azarel eine Karte aus seiner Tasche holte. Sie zeigte den gesamten Kontinenten.
Betrachtete man dieses Stück Papier, so fiel gar nicht auf, dass diese Lande von einer Invasion geplagt waren.
Im Süden sah man die Steppen, die goldenen Anhöhen. Dieses von Plateaus geprägte Landstück war die Heimat von dem Nomadenvolk der Madari. Soweit Brya wusste, reisten sie mit Tieren, die weder Pferd noch Esel waren. Man sagte sich, sie würden zwei Höcker tragen, doch derartige Wesen hatte sie noch nie gesehen, ebenso wenig wie einen der Madari selbst.
Folgte man dem Land weiter nördlich, sah man im Nordwesten die Grünlande. Wie der Name schon sagte, war dieser Ort von grell-grünem Gras durchzogen und bot vor der Apokalypse das Hauptackerland.
Jetzt war von dem grünen Gras wohl kaum noch etwas übrig, wenn man bedachte, dass Auria an der Westküste lag.
Von dort breitete sich der Tod immer weiter über das Land aus. Zum Augenblick befand Brya sich glücklicherweise auf der anderen Seite des Kontinentes, weit weg von der Stadt der Dämonen, wie Auria nun genannt wurde.
Allerdings war die Verderbnis der Dämonen schon weit gekommen, was nach 16 Jahren auch nicht anders zu erwarten war.
In Gedanken zeichnete Brya eine Linie auf der Karte. Wenn sie richtiglag und der Tod gleichmäßig über das Land hergefallen war, dann müsste sogar schon etwas über die Hälfte von ganz Iopix verdorben sein.
Das Gebiet in dem sich Brya nun wiederfand, war ihr aktueller Standort. Die östliche Wildnis.
Oder auch der Arsch von Iopix, wie manche sagten. Grund für diesen Titel war, dass der Osten durchzogen von Sümpfen und dunklen Wäldern war. Die meisten Dörfer hielten sich hier mit der Zucht von Vieh oder der Fischerei über Wasser. Zu mehr war dieses Land allerdings auch nicht mehr zu gebrauchen.
Man sagte sich, dass es dortzulande so aussehe, weil die Menschen diesen Ort zum Land der Toten gemacht hatten. Und das stimmte auch. Wenn man bedachte, dass nur in diesem Teil des Kontinentes riesige Ruhestätten für gefallene Soldaten zu finden waren, passte die traurige Ödnis doch ziemlich gut. Natürlich gab es auch Friedhöfe in den Grünlanden, doch dort waren es ausschließlich Adelige oder bedeutende Ritter, die begraben waren.
Sobald man allerdings einen dieser Adeligen nicht mehr identifizieren konnte, wurde er ebenfalls mit dem breiten Volk in der östlichen Wildnis begraben und somit vergessen. Wenn man bedachte, dass Brya ein kleines Kind war, als die Dämonen kamen, so war es doch durchaus erstaunlich, dass sie so viel über die alte Welt wusste. Doch sie konnte sich daran erinnern, dass ihre Eltern sie das Lesen gelehrt hatten. Und sie war überaus wissbegierig. Diese Begierde änderte sich nicht, als die Welt am Ende war.
Jedes Buch, das das kleine Mädchen in der Asche der Stadt finden konnte, brachte sie in ihren zerstörten Unterschlupf, um jede Seite in sich aufzusaugen.
Das war zu dieser Zeit das einzige, was sie ablenkte. Aber schon bald musste sie die Stadt verlassen. Tag für Tag streiften mehr Dämonen durch die Straßen und Gassen der Hauptstadt, also war es für eine kleine Achtjährige nicht mehr sicher.
Seufzend richtete Brya ihren Blick in den Norden, auf das riesige Gebirge. Die Kette erstreckte sich über die gesamte nördliche Küste, aber in der Breite gesehen, nahm das Schwarze Gebirge beinahe den größten Teil des Kontinents Iopix ein.
Auf der Karte waren lediglich mehrere Berge gezeichnet, doch so schön sie auch aussahen, so sehr bezweifelte Brya auch, dass nur einer von ihnen realitätstreu war.
Niemand hatte die Schwarzen Berge wieder verlassen, nachdem er sich auf die Tortur des Bergsteigens gewagt hatte.
»Wenn wir hier entlanggehen«, Azarel zeigte mit seinem Finger eine Strecke an der Ostküste entlang, »dann brauchen wir vermutlich eine Woche bis wir am Fuß des Gebirges ankämen. Allerdings ist dies auch eine beliebte Route für Flüchtlinge, wir haben dort also mit Überfällen zu rechnen.«
Brya nickte recht selbstsicher, da sie es gewohnt war Räubern auszuweichen und die Banditen zu umgehen.
»Wenn wir uns von den Wegen fernhalten, sind wir allerdings um einiges schneller. Möglicherweise machen wir so einen oder zwei Tage wett«, warf sie somit ein.
Azarel schüttelte den Kopf und fuhr sich konzentriert durch sein glänzendes Haar.
»Du hast natürlich nicht unrecht. Aber es gibt einen weitaus schnelleren Weg.«
Brya lehnte sich vor, doch schaute auf, als die Magd das Essen und die Getränke brachte. Sie zwinkerte beiden zu und ging mit schwingenden Hüften wieder davon. Wenn Brya sich an ihr Becken fasste, so stieß sie direkt auf ihren Hüftknochen.
»Guten Appetit«, sagte Azarel und begann seinen lecker duftenden Eintopf zu essen.
Ohne Vorsicht stürzte auch sie sich auf ihre erste richtige Mahlzeit seit langem, wagte sich vorerst allerdings nicht an den Wein. Azarel wiederum schien durchaus angetan von dem roten Getränk und schwenkte die stark riechende Flüssigkeit umher, ehe er einen genüsslichen Schluck nahm. Das Essen schmeckte außergewöhnlich gut.
Sie konnte sich gar nicht mehr erinnern, wann sie zuletzt etwas gegessen hatte, das auch gut gewürzt und warm war.
Obwohl sie von trockenem Brot genug haben sollte, tunkte sie die beigelegte Scheibe ständig in den Eintopf, um dann abzubeißen. Man könnte sogar meinen, dass sie regelrecht stöhnte, weil das Essen so gut schmeckte.
»Was ist mit deinem Wein?«
»Ach, ja«, brachte sie bloß hervor und starrte auf den Becher.
Sie nahm ihn in die Hand und roch erst einmal. Sofort verzog sie ihre Nase und bekam die Gänsehaut ihres Lebens.
»So etwas trinkst du?«
Entsetzt starrte sie Azarel an.
»Wein ist eben nur etwas für Kenner. Ich trinke ihn sonst, wenn du nicht willst.«
Sie sollte ihm den Becher vermutlich reichen, doch ihre Sturheit ließ es nicht zu. Eher brachte dieser sie dazu einen kräftigen Schluck zu nehmen. Ohne, dass auch nur eine Sekunde vergangen war, bereute sie diesen Schritt, schluckte aber dennoch.
»Scheiße, schmeckt das widerlich!«
Sie schob ihm den Becher zu und hustete einige Male. Sich schüttelnd entschloss sie sich den üblen Geschmack mit dem Eintopf herunterzuspülen, was ihr allerdings erst nach beinahe fünf Löffeln gelang. Schmunzelnd schob Azarel seine Schüssel an die Seite und deutete auf die Karte. Auch Brya lehnte sich über das Papier und suchte den schnelleren Weg, den er erwähnt hatte.
»Der einzig schnellere Weg wäre hier entlang«, sagte sie sarkastisch und zeichnete mit dem Zeigefinger eine Linie, die mitten durch das verseuchte Gebiet ging.
»Richtig.«
»Du machst doch Witze?«
Azarel schmunzelte und nahm einen Schluck ihres Weines.
»Wir können jeden Tag gebrauchen. Bei dieser Route sind wir höchstens vier Tage unterwegs.«
Bryas Blick könnte sich durch Wände brennen, wenn ihre Augen Feuer wären, so finster musste sie gerade schauen.
»Was? Hast du etwa Angst?«
Sie lachte auf.
»Ja und das völlig zu Recht! Dort ist alles tot, dort sind Dämonen!«
Ein Knall erklang und Brya schaute zusammenzuckend zum Tresen. Die Wirtin hatte einen Bierkrug auf das Holz geschlagen und schaute sie böse an. Langsam begann sie dann, diesen abzutrocknen. Auf dieses Wort reagierte sie wohl allergisch.
»Pass auf was du hier sagst, kleine Brya.«
Sie nickte, während sie versuchte unter dem durchdringenden Blick der Wirtin nicht zu sterben.
»Wir nehmen diese Route. Keine Sorge, ich weiß, wie man mit den Kerlen umgeht.«
Er klopfte ihr einmal sanft auf die Schulter.
Wie man mit diesen Kerlen umging? Durch Bryas Kopf schossen mehrere grausame Szenarien, in denen sie diesen Monstern ausgeliefert war. Niemand wusste mit ihnen umzugehen. Warum sollte er es also schaffen?
Ihr Misstrauen wuchs, denn dieser Mann verbarg etwas, was Brya nervös machte. Dennoch wollte sie sich lässig geben, denn es wäre sicherlich von Vorteil, wenn er denken würde, sie würde ihm trauen. So würde er es vielleicht nicht kommen sehen, wenn sie ihm den Garaus machte.
Zumindest, falls das nötig war.
Sie wusste selbst nicht so genau, was das Beste sein würde.
»Wenn wir sterben, gebe ich dir die Schuld.«
Azarel lächelte mit seinen strahlend weißen Zähnen.
»Sicher. Du darfst es mir gerne jeden Tag vorhalten, wenn wir im Jenseits hocken.«
»Gut«, sagte sie bloß stumpf.
~
Natürlich gab es nur ein Doppelzimmer, wie sollte es auch anders sein. Oben angelangt öffnete Azarel eine Tür und hielt sie für Brya offen, während er ihr mit einer Geste bedeutete einzutreten. Verwirrt trat sie ein, da sie diese Art von Freundlichkeit nicht gewohnt war. Was natürlich auch daran liegen konnte, dass sie nie wirklich mit Leuten redete oder länger Zeit mit ihnen verbrachte.
Er versuchte wohl ihr Vertrauen zu gewinnen, doch ob Brya diese durch das Offenhalten einer Tür so einfach hergeben würde?
Sie meinte bewusst Leute, statt Menschen, da sie sich nicht mehr sicher war, was Mensch und was Nicht-Mensch war. Vielleicht war die Wirtin, die so kritisch auf Dämonen reagiert hatte, auch ein Nicht-Mensch. In dem Zimmer, das sie betraten, brannten einige Kerzen, sodass der Raum relativ gut beleuchtet war.
Hinter einem Raumtrenner befand sich eine Badewanne mit warmen Wasser, was Brya feststellte, als sie eine Hand hineinhielt. In der Mitte des Raumes befand sich dann das Bett. Es war nicht groß, aber groß genug, damit zwei Personen darin schlafen könnten.
Azarel nahm sich eines der Kissen und einige der Felle, die in dem Bett lagen und richtete sich sein Lager auf dem Fußboden ein. Trotz der Felle wirkte es ziemlich ungemütlich. Als er fertig war, richtete er sich auf.
»So. Ich werde noch ein paar Dinge wegen des Proviants mit der Wirtin besprechen. In der Zeit gehört das warme Wasser dir. Ich hatte das Gefühl, du könntest ein bisschen Sauberkeit gebrauchen.«
So nett er vielleicht auch klingen wollte, widerte sie der letzte Spruch an und sie schnalzte genervt mit der Zunge.
Kichernd ging er hinaus und zwinkerte ihr noch zu, ehe er aus der Tür verschwand.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro