35 - Der blaue Kristall
Bryas Augen wanderten über die schneebedeckte Landschaft, die sich ihr auf dem Rücken des Pferdes offenbarte. Am Tag nach der Besprechung waren sie sofort aufgebrochen. Nun ritt sie mit Azarel und Ordeus, sowie fünf der besten Soldaten durch die Berge. Unter ihnen waren Melios und Darren, die sich allerdings während der Gespräche nicht einmischen dürften. Sie waren nur zum Schutz da. Außerdem waren da noch drei Dienerinnen, eine für jeden der drei Abgeordneten, die ebenfalls auf Pferden nebenher ritten, die allerdings weitaus größer und stämmiger waren.
In Anbetracht der schweren Kisten, die diese Pferde an den Sätteln befestigt hatten, war das aber nicht verwunderlich.
Nachdem Brya und Azarel den Besprechungsraum verlassen hatten, kehrten sie auf ihre jeweiligen Zimmer zurück und bereiteten ihre Abreise vor. Gerade als Brya ihre Tasche packen wollte, waren Dienerinnen in ihr Zimmer gekommen, angeführt von eben der Frau, die zu Bryas Anfangszeit in Elvandros ihre Maße genommen hatte. Ohne eine Ankündigung waren sie hereingelaufen und hatten mehrere Kisten abgestellt.
Wie Brya dann herausfand, hatte Königin Ismera Kleidung für Brya anfertigen lassen. Eine Montur, die Bryas Erwartungen gesprengt hatte. Die Stiefel waren in einem glänzenden Schwarz und rochen nach frischem Leder, das sich wie angegossen an ihren Fuß schmiegte, während sie nicht wie gewohnt unter den Knien endeten, sondern bis zur Mitte ihrer Oberschenkel reichten. Das weiße Hemd strahlte vor Sauberkeit und hatte viele mit goldenen Fäden eingenähte Akzente, die im Sonnenlicht funkelten. Der Ausschnitt des Hemdes war in einem V geschnitten und legte sich wie angegossen über ihren Busen. Die Hose war ebenfalls schwarz und besaß einige Lederschnallen, an denen man Dolche oder andere Dinge befestigen könnte. Als Brya sich all diese Kleidungsstücke angezogen hatte und sich selbst im Spiegel bewunderte, denn die Montur saß eng, aber perfekt, sodass sie sich noch bewegen konnte wie sie es wollte, wurde eine weitere Kiste geöffnet. Eine der Bediensteten hatte darauf eine schwarze Ledercorsage herausgeholt, die Brya sich selbst am Bauch zugeschnürt hatte, da sie die Hilfe nicht annehmen wollte. Sie müsste sich selbst einkleiden können. An ihren Unterarmen hatte sie dann Lederarmschienen befestigt und passende Polster an den Schultern angelegt. An ihrem rechten Arm, weil die Dienerinnen wohl wussten, dass sie Rechtshänderin war, war mehr Leder, das ihren Arm schützen könnte. Des Weiteren war das Leder an einigen Stellen durch Gold ersetzt, sie war also gut gepanzert. Sie erhielt ebenfalls einen neuen Gürtel, der sehr viel mehr Taschen aufwies als ihr Vorheriger und außerdem Platz für einen Dolch oder sogar ein Schwert hatte.
Nun war das letzte Teil ihrer neuen Montur an der Reihe gewesen. An dem Rückenstück ihrer Corsage wurde eine Kapuze angebracht.
Brya hatte sich aufmerksam im Spiegel betrachtet und über die Kunst ihrer Montur gestaunt. Die Schnallen waren ebenfalls alle aus Gold, sie sah also endlich aus, wie ein Kind des Sommers. Unter der Montur konnte Brya erkennen, was aus ihr geworden war. Nicht bloß die Frau, von der sie immer nur hatte träumen können. Sie war eine Kriegerin. Eine Kämpferin.
Und ja, sie würde kämpfen.
Egal was passierte.
Als Brya fertig damit gewesen war ihre Sachen zu packen, war sie zu Bett gegangen und hatte sich mehrere Stunden bevor sie schlafen konnte darauf vorbereitet, was am nächsten Tag kommen würde.
Eine Reise zum Winter.
Und nun saß sie in ihrer neuen Montur auf dem Pferd, das ihr gegeben wurde und ritt über einen verschneiten Bergpass. Bei einem Blick nach hinten sah sie die so winzig wirkende Stadt und spürte, wie sich ihre Brust zusammenzog. Mit jedem Schritt, den das Pferd tat, kam sie dem Ziel näher.
Auf ihrer Brust wurde es warm und sie schaute herab auf die Kette, die Azarel ihr geschenkt hatte. Es war, als würde der Mondstein sie ermutigen wollen. Oder war es Lyria, die sie ermutigte?
Mittlerweile wusste Brya nicht mehr inwiefern man zwischen dem Mond, einem Stein oder einer Göttin unterscheiden sollte.
Es dauerte nicht mehr allzu lange, dann hätten sie den Gipfel der Berge erreicht und könnten den Frühling sehen. Sie nahmen die östliche Route, da diese wohl angenehmer werden würde als der Weg über den Herbst. Brya war sich allerdings nicht ganz sicher, ob es war, weil die Berge dort steiler waren, oder wegen desHerbstes an sich.
In ihren Augen wäre beides möglich.
Schnelle Hufe knirschten durch den Schnee, als Azarel schließlich zu Brya aufschloss. Ordeus hatte die Führung übernommen und bis jetzt war Azarel immer hinter Brya gewesen.
»Wie geht es dir?«
Unter dem dicken Fellmantel, den Brya trug, war es warm und sie drehte ihren Kopf in seine Richtung, während sie die Kapuze abnahm.
»Allgemein oder in Anbetracht dessen, dass wir womöglich das schwierigste Gespräch seit Jahren führen werden?«
Azarels volle Lippen formten sich zu einem charmanten Lächeln.
»In Bezug auf das Bevorstehende. Ich kann es mir jetzt schon fast denken.«
Brya seufzte und strich sich eine herausgefallene Strähne aus ihrem Zopf hinter ihr Ohr.
»Ich weiß nicht was mich erwartet und das bereitet mir Sorgen. Was ist, wenn nicht das passiert, was wir uns erhoffen? Was ist, wenn der Frieden nicht wiederhergestellt wird?«
»Vertrau auf dich selbst Brya. Ich vertraue dir und weiß, dass du sie überzeugen kannst«, war seine überzeugte Antwort.
Brya wusste nicht genau, wie sie mit dieser Verantwortung umgehen sollte. Schon einige Male hatte sie sich selbst klargemacht, dass sie es schaffen würde. Doch je näher der Tag rückte, desto unsicherer wurde sie.
Die Pferde stiegen weiter den Berg hinauf und waren nun beinahe am Gipfel angelangt, sodass Brya nun immer nervöser wurde. Ordeus konnte es wohl riechen, denn als sie neben ihm stand, schaute er zu ihr herüber.
»Wenn du dir diese Unsicherheit während der Gespräche anmerken lässt, haben wir schon verloren.«
Brya wusste, dass seine Worte der Wahrheit entsprachen, doch war sie dennoch gereizt durch seinen Kommentar.
»Ich glaube es wäre besser, wenn wir uns auf die gleiche Seite schlagen, Ordeus.«
»Die gleiche Seite? Welche Seite vertrittst du denn? Die des Reiches oder die von Azarel und seinem Ego?«
Brya schnaubte wütend, ehe sie ihre Gedanken sammelte und ihm eine Antwort entgegenpfefferte.
»Die Seite der Freiheit. Die Freiheit, die jedem zuteil sein sollte. Sogar den Menschen, die von allen Reichen im Stich gelassen wurden. An deiner Stelle würde ich etwas mehr Respekt zeigen. Die Königin ist zwar nicht hier, aber wenn ich mich recht entsinne habe ich dadurch das Sagen.«
Ein Schnauben war seine Reaktion, gefolgt von einem Nicken.
So ritten sie über den Gipfel hinweg und warfen einen Blick in das sich auftuende Tal. Darin lag die Stadt des Frühlings.
Hellgrüne Wiesen und leuchtende Bäche erstreckten sich zwischen den hohen Häusern, die ungeordnet, aber dennoch schön, zu dem Palast reichten. Er war von viel Moos bedeckt, während an einigen der Mauern kleine und auch größere Wasserfälle herabstürzten.
Diese Stadt war genauso wunderschön, wie Elvandros und so wurde Brya zunehmend neugieriger auf die anderen beiden Städte.
Während die Reisegesellschaft über den Kamm der Berge ritt, um zum Winter zu gelangen, betrachtete Brya unentwegt die Schönheit des Frühlings. Viele Vögel flogen über die Stadt und sie konnte tatsächlich das Gezwitscher von einigen der kleinen Tiere hören.
Nach etwa drei Stunden verschwand die Stadt des Frühlings allerdings hinter einigen Bergen und Brya fand sich und ihre Begleitung zwischen Felsen und Schnee wieder. Niemand redete und dadurch wurde der Stimmung ein trister Seitenhieb verpasst.
Sie nächtigten unter einem kleinen Felsvorsprung, doch auch dort sprach fast niemand miteinander. Nur Darren und Ordeus unterhielten sich draußen, doch durch den kalten Nachtwind konnte Brya nicht hören, worüber sie sprachen.
Sie legte sich also schließlich in der Nähe von Azarel schlafen, denn er hatte sie darum gebeten. Nur so war er sich ihrer Sicherheit gewiss.
Am nächsten Morgen brachen sie früh auf und ritten wieder zwischen den Felsen hindurch, während es leicht schneite.
Ein kleiner Stein rollte von einem der Felsen auf den Weg, auf dem Brya ritt und sie griff instinktiv an den Dolch an ihrer Hüfte.
Unter ihrer Hand spürte sie den Griff mit der Greifenverzierung, während sie ihre wachsamen goldenen Augen nach oben richtete.
Dort, wo der Stein herabgefallen war, rieselte der leichte Puderschnee von dem Felsen herab.
Etwas oder jemand war dort oben gewesen. Vielleicht war es aber auch nur ein Vogel oder ein Kaninchen gewesen.
Dennoch wurde sie das Gefühl von Beobachtung nicht los.
Sie würde die Hand vorerst nicht von Azarels Dolch nehmen.
Nach hunderten von Minuten ritten sie mit den Pferden durch einen engen Pass nach unten, der in Nebel gehüllt war und die Sicht enorm erschwerte.
Brya wollte gerade fragen, wann die endlich ankommen würden, da verdünnte sich der eisige Nebelschleier. Was Brya erkannte, verwirrte sie.
Ein blaues Leuchten?
Sie trieb ihr Pferd an, wollte schneller vorankommen.
Ein kehliges und tiefes Wiehern erklang aus dem Hals der Stute, als Brya an Ordeus vorbeitrabte.
Brya konnte nicht fassen, was sie sah.
Blaue Kristalle, die leuchteten und die Stadt in eine eisige Idylle tauchten.
Die Stadt war aus Eis. Die einzelnen Häuser waren aus dunklem Holz, doch die Mauern, der Palast, die Türme. Alles leuchtete in einem strahlenden und gefrorenen Blau.
Daher rührte der Name der Stadt, den Brya in einem der Bücher gelesen hatte.
Kyrenea.
Der blaue Kristall.
Ihr Pferd schritt nervös aus der Stelle umher und wollte wohl genauso dringend wie Brya in die Stadt reiten, um sich alles anzusehen.
Oder vielleicht auch einfach wegen frischem Heu.
Die tiefe Stimme von Ordeus hallte durch den Pass: »Abmarsch! Wir sind schon spät dran.«
Die Gesellschaft trieb ihre Pferde an und trabte unter dem Schnauben der Pferde zu den Toren der Stadt.
Azarel ritt neben Brya und folgte jedem ihrer Blicke, sei es zu den gefrorenen Flüssen und den Eisanglern, die auf Stühlen saßen und auf Fisch warteten oder zu den riesigen Holzschnitzereien die Bären zeigten und die Tore zur Stadt schmückten.
»Es ist unglaublich, wie die Städte der Altelfen gebaut sind.«
»Ich finde es viel unglaublicher, wie die Altelfen gebaut sind«, grinste Azarel sie an und präsentierte seine Armmuskulatur. Lächelnd verdrehte Brya ihre Augen und widmete sich wieder der Betrachtung der Stadt. Es roch sogar winterlich.
Als sie ein Kind war, hatte es zur Winterzeit immer nach Keksen und süßem Honigwein gerochen. Und genau diesen Geruch nahm ihre Nase gerade wahr. Sie sog ihn tief ein und schwelgte für einen Moment in einer Kindheitserinnerung.
Sie saß vor dem Kamin und knabberte an den knusprigen Zimtplätzchen, während ihre Eltern heißen Tee tranken und ihr zusahen.
Brya vermisste diese kindliche Unschuld und lächelte traurig.
Ob sie jemals wieder einen so unbeschwerten Tag erleben würde? Frei von Verantwortung und Sorgen?
Das würde wohl nie mehr möglich sein.
Als die Tore der Stadt für die Reisegesellschaft geöffnet wurden und sie durch den Bogen ritten, richteten sich die Blicke der Männer und Frauen auf sie.
Sie alle waren wunderschön und so erkannte Brys ein Muster in den Jahreszeiten.
Der Sommer war gebräunt und hatte dunkles Haar mit goldenen Augen, während der Winter blass war. Ihre Haare glänzten im kalten Sonnenlicht hell und blond, beinahe weiß, während ihre Augen grellblau in Bryas eigene stachen.
Das Volk starrte Brya und ihre Begleiter an, einige tuschelten.
Sie wussten, warum sie hier waren.
Brya konnte einigen Gesprächen Details entnehmen.
So hörte sie Worte wie Prinzessin, Sommer und Krieg. Einige Male konnte sie sogar hören, wie die Elfen über die anderen Reiche sprachen. Sie waren schon angekommen.
Brya wurde nervös unter den Blicken der Bürger und versuchte mit ihren schwitzigen Händen die Zügel fester zu umgreifen.
Eine leise Stimme hallte in ihrem Kopf. Azarels Stimme.
Einfach Lächeln.
Sie schaute nach hinten zu ihm. Er lächelte sie an und nickte. Also tat sie es ihm gleich. Sie lächelte die Bürger an und straffte ihren Rücken.
Keine Schwäche zeigen.
Nachdem sie die ganze Stadt durchquert hatten gelangten sie endlich an den Palastmauern an, wo die Wachen für sie die Tore öffneten.
Sie ritten hinüber zu den Stallungen und übergaben die Pferde an die Stallburschen, während die Dienerinnen sich sofort mit den Kisten auf zu den winterlichen Dienern machten, um das Gepäck in die Räumlichkeiten zu bringen.
Als Brya von ihrem Pferd abgestiegen war, ging sie zusammen mit Ordeus und Azarel zu den beiden Männern, die in der Mitte des Hofes standen.
Sie sahen sich sehr ähnlich, vermutlich Vater und Sohn.
Der König und der Prinz des Sommers.
Der König trug eine Krone aus Eis und einen dicken, blau gefärbten Pelzmantel eines Bären, was man an den Pranken erkannte, die über seinen Schultern hingen. Dieser Prinz hingegen trug ein dunkelrotes Wams mit weißen Akzenten.
Sein Haar war schulterlang und hellblond, fast schon weiß, doch seine Brauen waren ebenso dunkel wie seine Wimpern. Sein Gesicht im Allgemeinen war wunderschön. Hohe Wangenknochen, ein charmantes Lächeln und noch dazu diese Grübchen in den Wangen. Er hatte seine linke Hand auf dem Knauf seines an der Hüfte befestigten Schwertes abgelegt und lächelte sanft, ebenso wie der König.
»Es ist mir eine Freude Euch kennenzulernen, Bryalla. Eure Mutter muss die glücklichste Frau auf der Welt sein, Euch endlich wieder in den Armen halten zu können! Mein Name ist Javik Brok, doch könnt Ihr mich gerne bloß Javik nennen.«
Der König machte eine knappe Verbeugung und Brya erwiderte diese Geste mit einem kleinen Knicks.
»Das hier ist mein Sohn Keiran«, er deutete auf den Prinzen, der gefolgt darauf eine Verbeugung ausführte.
»Es ist mir eine Ehre, Prinzessin Bryalla«, ein sanftes Lächeln umspielte seine Lippen, als Brya auch hier die Geste gleichtat.
»Die Ehre ist ganz meinerseits, Prinz Keiran.«
Götter, sie erstickte jetzt schon an all den Förmlichkeiten.
Ehe der König weitersprechen konnte, fing Brya an zu reden: »Das hier sind meine Gefährten Ordeus, der General unserer Armee und Azarel«, sie machte eine kurze Pause und sah ihn an, »mein engster Vertrauter.«
Brya konnte spüren, wie sich sein Blick in ihren Rücken brannte. Er war überrascht von seinem neuen Titel, den sie ihm zugeteilt hatte.
»Angenehm«, gab Javik zurück und tauschte mit den beiden Männern freundliche Blicke aus.
»Eure Majestät, bitte verzeiht meine Ungeduld, doch wir hatten eine lange Reise hinter uns und würden uns gerne zurückziehen, damit wir uns auf den heutigen Abend vorbereiten können«, erbat Brya lächelnd, während sie von Azarel nickende Zustimmung bekam.
»Natürlich! Meine Bediensteten werden Euch Eure Zimmer zeigen. Der Frühling und der Herbst sind bereits angereist und halten sich in anderen Korridoren auf. Heute Abend wird Euch jemand zum Palastgarten führen, wo die Feierlichkeiten beginnen«, antworte der König mit einem Lächeln und pfiff einmal, damit die Diener herbeieilten.
Er verabschiedete sich und ging dann mit seinem Sohn fort, sodass Brya und ihre beiden Gefährten auf ihre Zimmer gebracht werden konnten.
Das Gemach von Brya war gemütlich und wunderschön, wenn auch nicht so groß wie ihr eigenes im Reich des Sommers.
Erschöpft ließ sie sich auf den Sessel vor dem Kamin fallen, schreckte allerdings sofort wieder auf, als ihre persönliche Dienerin hereinkam.
»Eure Hoheit, wir müssen Euch für den Ball fertig machen.«
Brya sah auf die Uhr, die über dem Kamin hing.
Es war gerade mal drei Uhr Nachmittags.
»Jetzt schon?«
Die Dienerin lächelte.
»Wenn ihr wüsstet wie aufwändig die Vorbereitungen für einen Maskenball sind, dann wärt ihr schon vollkommen außer Haus.«
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