32 - Kind des Mondes
Wie Hagel prasselten diese Worte auf Bryas Geist ein. Sofort war sie in der Lage zu übersetzten, was Azarel ausgesprochen hatte. Der Zettel, der in dem Grab gelegen hatte.
Der Mond ist die Wächterin. Erinnere dich.
Ihre Erinnerungen sogen Brya in eine Welt, die sechzehn Jahre vor dem heutigen Tag lag. Zu einer Zeit, in der Brya um ihr Leben rannte.
Das kleine Mädchen klammerte sich an ihr zerfetztes Kuscheltier und schrie die Stimme an, die ihr sagte, Brya solle sie ansehen. Ich höre dich nicht.
Doch dieses Mal sah Brya, wer es war, der ihr einflüsterte. Eine schwarze Kreatur mit leuchtenden Augen, die vor schwarzen Tränen trieften. Gierige Krallen streckten sich nach dem kleinen Mädchen aus, doch erreichten sie nicht. Eine Frau tauchte auf und machte nur eine kleine Handbewegung, die dieses Wesen zum Kreischen brachte. Ja, dieses Kreischen hatte sie damals auch gehört.
Die Kreatur verschwand, verdampfte zu Nebel und waberte davon.
An das, was folgte, hatte Brya keine Erinnerung. Zumindest bis jetzt nicht. Laut ihren Erinnerungen war sie einfach eingeschlafen und in einer toten Stadt aufgewacht. Doch dem war nicht so gewesen. Stattdessen sah Brya nun ihr junges Ich, das vollkommen unkontrolliert umhersprang. Und mit umherspringen war nicht das Hüpfen eines kleinen Kindes gemeint. Nein, sie sprang durch die schwarze Zwischenwelt und bewegte sich, ohne sich wirklich zu bewegen, von einer Ecke des Raumes zur Nächsten. Ihr Leib zuckte und flimmerte durchgängig, als wäre sie in diesem Zustand der Unkontrollierbarkeit gefangen.
Die Frau, in einem goldenen Gewand gekleidet, doch mit einem unerkennbaren Gesicht, hockte sich zu dem kleinen Mädchen.
»Sie ist unkontrollierbar. Diese Dämonen werden es spüren. Was bringt der Fluch von Ismera, wenn sie dennoch zwischen den Orten herumspringt?«
Azarel trat aus den Schatten.
»Sie hat Angst, das ist der Grund.«
Die Frau schüttelte den Kopf.
»In einer Welt, wie dieser, wird sie immer und ständig Angst haben. Das dürfen wir nicht riskieren. Wenn er sie findet, ist die Welt verloren.«
Einen Moment lang herrschte Stille, die nur von dem Schluchzen und Zittern des Mädchens erfüllt war.
Die Frau dachte nach, bis sie eine Entscheidung gefällt hatte.
»Ich nehme einen Teil ihrer Seele.«
Sofort sprang Azarel vor die Frau und schüttelte verwirrt den Kopf.
»Wie meinst du das? Einen Teil ihrer Seele?«
Noch immer zuckte Bryas jüngeres Ich ununterbrochen umher, während die Frau aufstand.
»Ich nehme einen Teil ihrer Seele und sperre ihn ein. Wenn sie ihn findet, dann wird sich ihre Vergangenheit zeigen. Ismeras Fluch ist unnütz. Alles, was er verbirgt, ist ihr Wissen, ihre Erinnerung an ihre Heimat.«
»Was geschieht mit ihr, wenn ein Teil ihrer Seele fort ist?«, Azarels Stimme klang besorgt, doch lag auch voller Vertrauen.
»Ihre Magie wird schwinden. Alles was bleibt ist Menschlichkeit und ihre Ohren. Den Rest werde ich an einem Ort verwahren, den so schnell niemand aufsuchen wird. Weder Sterbliche, noch Dämonen.«
Verwirrt schüttelte Azarel den Kopf.
»Wo?«
Die Frau ging auf die junge Brya zu und kniete sich neben das kleine Mädchen.
»Es gibt eine alte Ruine in der Nähe eines Dorfes. Sie wurde zum Gedenken an mein Verschwinden errichtet. Ich werde die Toten über Bryas Seele wachen lassen, sie werden niemanden Einlass gewähren.«
Wimmernd huschte das Mädchen immer noch zwischen den Welten hin und her, ihr Körper war kaum noch klar zu erkennen, so sehr verschwamm sie in den Räumen.
Behutsam legte die in seidene Gewänder gehüllte Frau ihre Hände auf die Schultern des zuckenden Kindes. Es reagierte nicht und huschte nur schneller umher.
»Hör mir zu.«
Wieder kam keine Antwort auf das Tun der Frau.
»Bryalla.«
Das Wimmern wurde leiser.
»Kind des Mondes.«
Langsam wurden die Bewegungen des Mädchens ruhiger, das Flimmern hörte auf. Schluchzend hob die kleine Brya ihren Kopf an. Ihr Gesicht war geschwollen und rot, während noch immer dicke Tränen über ihre Wangen liefen.
Die Frau schenkte ihr ein sanftes Lächeln und nun sah Brya, wie wunderschön diese Frau war.
Ihre Augen hatten dieselbe Farbe wie der Mondstein, ebenso wie ihr Haar, das von einer goldenen Krone mit einem Mond geschmückt war.
»Alles wird gut.«
Sie hob ihre Hand an und das kleine Mädchen musste unwiderruflich den Mund öffnen. Ein leuchtendes Kügelchen kam aus diesem heraus, das die Frau des Mondes zwischen Daumen und Zeigefinger auffing.
Beide, die Frau und das Mädchen, starrten auf diesen Teil von Bryas Seele.
»Wenn du das hier wiederfindest, dann wirst du diese Monster erzittern lassen. Und jetzt, schlaf, mein Kind.«
Die Frau legte ihre weiche Hand auf die Stirn des kleinen Mädchens und ließ es einschlafen.
Hier verblassten Bryas Eindrücke wieder und Brya richtete ihren erschrockenen Blick auf Azarel. Wie schnell die Bilder zweier verschiedener Zeiten ineinander übergingen verwirrte sie und ihr wurde beinahe schlecht.
»Meine Seele war in diesem Grab gewesen?«
Azarel nickte, sein Gesichtsausdruck immer noch unsicher. Es wirkte beinahe, als hätte er Angst vor dem, was Brya sagte.
Nein.
Vor dem, was Brya dachte.
Sie würde es ihm nicht sagen.
Sie würde es ihn spüren lassen.
Also ging sie über in die schwarze Welt und tauchte dort auf, wo sie vorerst allein sein würde.
In ihrem Gemach.
~
In der einen Hand wirbelte Brya den Dolch von Azarel umher, in der anderen hielt sie das zerknüllte Stück Papier, auf dem dieser eine Satz geschrieben war. Der Dolch flog in die Luft und sie fing ihn auf, nachdem er sich mehrere Male gedreht hatte.
Er hatte ihr diese Entscheidung abgenommen. Es ging gar nicht darum, dass Brya das Gefühl hatte etwas tun zu müssen, wozu sie nicht bereit war. Es ging ihr vielmehr darum, dass Azarel ihr die Bürde auferlegt hatte, einer alten Göttin einen Gefallen zu schulden.
Wütend ballte sie eine Faust um das Stück Papier, ehe sie es in das brennende Kaminfeuer warf, vor dem sie saß.
Den Morgen hatte sie damit verbracht über die Geschehnisse im Tempel nachzudenken. Ihre Meinung war geteilt, denn sie war sich nicht sicher, was sie bei dieser ganzen Sache empfinden sollte.
Ein Teil ihrer Seele war über sechzehn Jahre lang in einer Ruine eingesperrt. Bis zu dem Zeitpunkt, wo Brya den Sargdeckel angehoben hatte.
Sie hatte in der Tat das Gefühl gehabt, etwas losgetreten zu haben, in jener Nacht.
Doch, dass sie ihre eigene Seele befreit hatte und nun ihre Magie wieder dort war, wo sie hingehörte, hätte sie niemals ahnen können.
Immerhin verstand sie nun, was es mit dem Mond auf sich hatte. Ihr ständiger Begleiter war immer an ihrer Seite gewesen, weil Azarel darum gebeten hatte. Jetzt, wo Bryas Seele wieder ganz war, musste Lyria wohl wissen, wo und wann Brya sich aufhielt.
Lyria, die Gylvanan des Mondes.
Auch das Lesen, mit dem Brya sich ablenken wollte, brachte ihr nicht das, was sie wollte. Immer wieder las sie Wörter, die sie an Dinge denken ließen, die Brya zu diesem Zeitpunkt ausschalten wollte.
Sie wollte nicht über Azarel nachdenken, über Liebe und Verrat. Und auch nicht über den Mond, der doch allzu oft als Stilmittel der Einsamkeit benutzt wird.
Und wenn sie genau überlegte, dann bemerkte Brya, dass der Mond auch ihrem Leben entsprach. Immer war sie die einsame Wölfin gewesen, die allein durch die Ödnis streifte.
Und jetzt?
Hatte sie ihr Rudel gefunden?
Ihre Familie, ihr Volk war in diesen Bergen und es war doch nicht allzu schwer anzunehmen, dass es etwas Gutes war.
Es war doch etwas Gutes, wenn man seine Heimat fand, oder?
Auf der anderen Seite bekam Brya immer mehr Antworten, die sie in die Enge trieben. Antworten auf Fragen, die sie besser nie gestellt hätte.
Seufzend und mit Schwung stand sie auf. Sie konnte nicht den ganzen Tag nur herumsitzen und nichts tun.
Zunächst tigerte sie mit einem nachdenklichen Gesicht durch ihr Gemach, ehe sie einen Entschluss traf.
Es war vielleicht nicht klug.
Aber, wenn sie schon dabei war zu verarbeiten, warum dann nicht gleich noch mehr?
~
Ihr Kopf lehnte an der massiven Holztür ihres Gemachs und sie lauschte auf die klappernden Rüstungen der Wachen, die vor ihrem Zimmer postiert waren.
Sie würden sie bemerken.
Also öffnete sie schwungvoll die Glastüren zu ihrem Balkon und lehnte sich über die Brüstung, um die Fensterreihen der Palastmauer erkennen zu können. Zwei der Fenster, die links von ihr waren, gehörten zu ihrem Schlafzimmer. Doch jenes dahinter musste dem kleinen Kinderzimmer zugeordnet werden.
Scharf sog Brya die frische Luft der Berge ein und stieg auf die Brüstung. Das Fenstersims dieses Fensters war unglaublich schmal und klein. Sie musste präzise sein.
Doch wenn man bedachte, dass sie es geschafft hatte, von dem Tempel aus direkt auf ihrem Sofa zu landen, dann sollte sie sich eigentlich keine Sorgen machen.
Brya schloss ihre Augen und glitt in die Schwärze, in der sie den Raum mit ihren goldenen Augen zu erhellen versuchte.
Für einen Moment sah Brya, wie endlos dieser Raum erschien.
Die Dunkelheit nahm kein Ende.
Plötzlich war sie angekommen und fluchte laut, als sie sich an den Sprossen des Fensters festklammern musste.
Ihr anderer Arm ruderte, um das Gleichgewicht wieder herstellen zu können und sie atmete erleichtert auf, als es ihr gelang. Der Zeitraum, in dem sie sich fortbewegte erschien Brya immer wie mehrere Sekunden.
Doch wie schnell genau bewegte sie sich?
War es länger, als es sich anfühlte? Kürzer?
Diese Frage müsste ihr jemand anderes beantworten. Jedes Mal, wenn sie sich in diesem Schwarz befand, hatte sie einige Augenblicke Zeit, um sich umzusehen.
Ihre Magie war ein Phänomen, was sie wohl nie gänzlich verstehen würde, so vermutete sie.
Vorsichtig versuchte Brya das Fenster zu öffnen, stellte aber fest, dass es ziemlich verklemmt war. Nun ruckelte sie einige Male, ehe sich die Scharniere lösten, und die Flügel sich öffneten.
Mit einem schnellen und kleinen Sprung trat sie ein und stützte ihre Landung mit ihren Händen.
Als Bryas Blick sich hob, erkannte sie einen großen Raum, in dem Massen von verstaubtem Spielzeug lagen. Überall waren Staub- und Spinnweben, die von der Decke bis zum Fußboden reichten.
Selbst die Luft in diesem Raum war stickig, denn wie es schien, war lange nicht mehr gelüftet worden.
Nachdem Brya einige Schritte getan hatte, bemerkte sie, dass allgemein lange niemand mehr in diesem Zimmer gewesen sein musste.
Ihre Füße hinterließen deutliche Spuren in dem staubbedeckten Boden und sonst waren nirgendwo solche Fußstapfen zu erkennen.
Ihre Mutter hatte niemanden hereingelassen.
Zwischen all dem Spielzeug, das noch immer quer im Zimmer verteilt lag, fand Brya vor allem die verschiedenen Kuscheltiere interessant.
Alles, was hier lag, hatte einst ihr gehört.
Beinahe wurde in ihr ein Gefühl von Nostalgie ausgelöst.
Doch es war das Kinderbett, das Brya wirklich anzog.
Ein riesiges Himmelbett mit großen Vorhängen, die von der Zeit schon zerfleddert waren.
Traurig trat Brya näher und berührte den Stoff, der unter ihrer Geste beinahe zerfiel.
Dieser Raum war eine Ruhestätte, die tot war.
Es wirkte als hätte ihre Mutter einen Ort zum Trauern benötigt, diesen aber aufgegeben.
Ebenso, wie sie ihre Tochter aufgegeben hatte.
Was hatte ihr diese Erkundung gebracht?
Ja, sie wusste nun, wie ihr altes Kinderzimmer aussah, doch welche Erkenntnisse konnte sie daraus gewinnen, außer, dass es verlassen und verkommen war?
Seufzend ließ sie sich auf der Matratze ihres Kinderbettes nieder und starrte die Wand an. Sie war ebenfalls mit Staub und Weben bedeckt, doch dahinter war etwas zu sehen.
Ein Gemälde.
Brya stand sprunghaft wieder auf und wischte mit ihrem Ärmel den Staub von der Leinwand. Erst erkannte sie wenig, doch, als es ihr gelang alles an Staub zu entfernen, da erkannte sie, wer dort abgebildet war.
Zunächst musste Brya schmunzeln, denn der Schauplatz des Gemäldes gefiel ihr sehr. Auf dem Hof des Palastes, neben den Personen standen zwei Greifenstatuen.
Auf dem Gemälde waren die kleine Brya und ihre Mutter zu sehen. Doch ihre Mutter war es nicht, die sie hielt. Es war Azarel.
Er hielt dieses kleine zerbrechliche Wesen in seinen starken Armen, sein Blick nach vorne gerichtet, die goldenen Augen glänzend.
Königin Ismera jedoch, sah voll und ganz aus wie eine Königin. Es wirkte beinahe, als wäre das nicht ihr Kind, das der General dort auf den Armen trug.
Brya seufzte und drehte sich wieder um.
Azarel hatte ihr Dinge verheimlicht.
Zu ihrem Schutz?
Es war Brya unklar, warum genau er ihr nicht von Anfang an alles gesagt hatte.
Doch letztendlich fragte sie sich, ob sie nicht ebenfalls so gehandelt hätte.
Sie wusste jetzt also welche Erkenntnis sie mit der Erkundung ihres Kinderzimmers errungen hatte.
Sie erkannte nun, dass Azarel der letzte war, der Brya böses wollte.
Ganz im Gegenteil zu ihrer Mutter.
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