31 - Der Tempel
Am Rande der Stadt waren die Häuser kleiner und ausgedünnter. Stattdessen waren hier Höfe und Wiesen die mit Vieh oder Getreide gefüllt waren.
Das Grün des Sommers erstreckte sich über die Landschaft, schwand aber dahin, je näher sie den Bergen kamen. Die großen Säulen aus Stein und dessen Bewohner füllten die Nacht mit leisen Zwitschern und dem Rauschen des herabfallenden Wassers. Nachdem sie den Fuß des Gebirges erreicht hatten, was ziemlich lange dauerte, da Azarel mit seiner Müdigkeit wohl versuchte Zeit zu schinden, betrachtete Brya aufmerksam den Weg, der sich über den Bergpass zu dem Tempel hinaufführte. Die Luft um Bryas Körper wurde augenblicklich kühler und auch ihr Atem hinterließ eine kalte Wolke. Die Magie hatte also eine Grenze, die den Sommer umschloss und alles drum herum im Eis der Gebirge verweilen ließ.
»Wir könnten auch einfach umdrehen und wieder schlafen«, wandte Azarel gähnend ein, während er sehnsüchtig auf den Palast blickte.
Brya schüttelte bloß den Kopf. Sie musste zu diesem Tempel, egal was dort auf sie wartete. Es war kein Zufall, was der Stein ihr offenbart hatte.
Früher hätte sie vielleicht an Zufälle gedacht.
Doch jetzt, wo sie Magie kannte und von ihr wusste, da glaubte sie, dass alles aus einem Grund geschah. Der Mond verfolgte sie seitdem sie das Grab betreten hatte, das Azarel schon zuvor gestört hatte. Er begleitete sie jede Nacht, wenn sie unter dem Sternenzelt der Nacht geschlafen hatten. Selbst ihre Kette, die sie so wunderschön fand, trug einen Mondstein in seiner Fassung.
Und eben dieser Mondstein hatte so sehr geglänzt, dass er ihr den Mond und einen Tempel gezeigt hatte.
Ein Tempel, der in der Mitte der Reiche lag. Auf neutralem Boden sollte man meinen.
Stur setzte sie zum Anstieg an und ignorierte Azarel aufstöhnen, denn er würde sie nicht davon abhalten. Es musste einen Grund geben, warum dieser verdammte Stein ihr diesen Ort offenbart hatte. Warum der Mond sie wieder einmal zu leiten versuchte.
~
Minuten und sogar Stunden vergingen, die Sonne tunkte den Himmel im Osten bereits in zarte rosa Töne. Die Stadt lag nun weit unter Azarel und Bryas Weg. Elvandros begann langsam aufzuwachen, denn Brya konnte mit ihren goldenen Augen beobachten, wie die Händler auf die Straßen gingen und die Bauern ihr Vieh trieben. Von den Bergen aus sah die Stadt noch viel schöner aus, als von ihrem Balkon. Brya erinnerte sich an den Tag, an dem sie auf der Südseite der Berge gestanden hatte und mit ihrem Blut den Fluch brach, der auf ihr gelegen hatte. Elvandros, ihre Heimat, tat sich in diesem großen Tal vor ihr auf und eröffnete ihr eine neue und magische Welt.
»Es sieht wunderschön aus, nicht wahr? Wir bräuchten jetzt nur noch ein Picknick und guten Wein, dann wäre es perfekt«, schmunzelte Azarel verschmitzt, als er sah, dass Brya ein wenig rot wurde.
Es wäre perfekter, wenn da nicht das Problem mit den anderen Reichen wäre.
»Komm schon. Wir sind bald da«, drängte diese allerdings stur und setzte ihren Marsch fort.
Stumm und wohl nörgelnd zugleich folgte Azarel ihr und machte fortan keine weiteren Bemerkungen.
Als sie über einen kleinen Bergkamm gegangen waren, sah Brya das Dach des Tempels. Schwach schimmerten die schwarzen Dachpfannen im aufgehenden Sonnenlicht, doch da war noch etwas anderes. Etwas Helles am Himmel.
Der Mond.
Er war noch zu sehen.
Schwach, doch die Spitze der Unterseite zeigte unmissverständlich auf den Tempel. Brya wurde ungeduldig, konnte es nicht abwarten.
Sie warf einen Blick auf Azarel, der schleppend einen Stein hinaufkletterte.
Es würde ihm sicher nichts ausmachen.
Sie kanalisierte ihre Macht, fokussierte ihre Gedanken auf das Bild des Tempeleingangs, den sie vor Augen hatte.
Und weg war sie.
Das dunkle Nichts umhüllte sie für einen Moment und webte sie in seine Schatten, doch schon hatte sie diesen Zwischenraum wieder verlassen und fand sich vor dem weißen Marmor des Tempels wieder.
Er war gigantisch und so unglaublich beeindruckend, dass Brya beinahe auf die Knie sank. Etwas an diesem Ort erfüllte sie mit Ehrfurcht und sie war sich nicht sicher, ob es das Bauwerk an sich war.
Magie war nun ein Teil ihres Lebens, warum also, sollte sie nicht in jedem noch so kleinen Teil davon stecken?
Der große Torbogen des Tempels wurde nicht durch eine große Tür verschlossen, wie sie es gedacht hatte. Stattdessen gingen seidene Tücher in verschiedenen Farben von der Decke herab.
Hellblau, ein sanftes Grün, ein kräftiges Rot und eine Mischung aus Gelb und Orange. Die Farben der Reiche?
Was hinter dem Bogen lag, konnte Brya nicht erkennen, doch sie scheute sich nicht davor einzutreten. Ihr Mut überkam sie, vielleicht auch die Neugier und so schritt sie voran, um die Tücher anzuheben und den Tempel zu betreten.
Was sich Brya nun zeigte, verschlug ihr den Atem. Sie hatte damit gerechnet, dass sie von wunderbaren Eindrücken erschlagen würde, doch ihre Erwartungen wurden mehr als übertroffen.
Nicht nur waren die Wände mit wunderschönen Bildern bemalt, die Wälder, Berge, Städte und die Altelfen selbst zeigten, sondern lagen auch die unglaublichsten Edelsteine auf den Tischen, die an den Wänden standen. Goldene Münzen und bunte Steine benebelten ihren Verstand, denn als Grabräuberin, hätte sie sich die Taschen nun vollgestopft.
Doch etwas hinderte sie an diesem Vorhaben. Sie konnte doch nicht den Tempel ihres Volkes ausrauben. Mit einem Schlag traf sie die Schuld, denn vorher hatte sie dieser Gedanke auch nicht geschert.
Jetzt ging es ihr allerdings gut, sie hatte keinen Grund dazu, diesen Tempel zu plündern. Brya schritt dennoch zu den Tischen und glitt mit ihrer Hand durch den Schmuck.
Sie hatte die Gräber der Toten bestohlen. Ob die Götter, die Gylvanan ihr das jemals verzeihen würden?
Die weißen Marmorsäulen funkelten in dem Sonnenlicht, das durch kleine Fenster ganz oben in den Wänden hindurchdrang. Erst jetzt bemerkte Brya, dass diese ebenfalls mit winzig kleinen Edelsteinen besetzt waren und sie versank vor Staunen beinahe in dem glänzenden Boden, der von goldenen Marmoradern durchzogen war. Seufzend richtete sie ihren Blick an die Decke, die von einem gigantischen Deckenfresko verziert wurde. Es zeigte den Marsch der Altelfen durch die Berge. Doch hier wurde die Geschichte weitergeführt. Wo die Meißelung in der Höhle geendet hatten, wurde hier angesetzt. Statt einer Stadt waren hier vier zu sehen, die genauso auf der Karte verzeichnet waren, wie der Wismutwürfel es im Besprechungsraum gezeigt hatte.
Mit dem Kopf im Nacken wanderte Brya weiter über die Geschichte, bis sie am Ende angelangt war. Das Ende zeigte den Himmel mit all den Himmelskörpern, die es gab. Und dann sah man das Land. Die Berge, das Meer, die Städte, die Menschen, die Tiere und auch die Altelfen.
Was stellte dieser Teil der Geschichte dar? Den Zeitpunkt, zu dem die Gylvanan gegangen waren und fortan nicht mehr zu sehen waren? Nur in ihrer überirdischen Form?
Sie senkte ihren nachdenklichen Blick.
Am Ende des Raumes war ein großer Altar aus Marmor. Auf diesem standen vier kleine Skulpturen. Allesamt glänzten in einem prächtigen Gold, das noch viel goldener schien, als alles andere in diesem Tempel.
Sie zeigten die vier Gylvanan.
Sonne, Sterne, Mond und Erde.
Neugierig und sprachlos schritt Brya an die Skulpturen heran und betrachtete sie. In jedem dieser Einzelstücke war ein Stein eingesetzt.
Der Mond, ein zunehmender Neumond, trug in sich den Mondstein. Sofort griff sie in die Manteltasche ihrer Montur und tastete nach der Kette. Sie hätte sie wieder angelegt, doch als sie sich diese so panisch vom Hals gerissen hatte, war der Verschluss zerstört worden.
Sie würde sie reparieren müssen.
Die Sonne, stand rechts neben dem Mond und zeigte einen orangen Edelstein, der im Sonnenlicht hell leuchtete. Rechts daneben stand das Abbild eines einzelnen Sternes mit einem blauen Kristall. Ein Saphir? Brya kannte sich mit Kristallen und Edelsteinen nicht aus, sie wusste bloß, dass die buntesten und leuchtendsten meistens am meisten wert waren. Die letzte goldene Skulptur zeigte die Erde, so glaubte Brya. Eine Kugel.
Die Erde war rund? Einen Moment lang grübelte Brya, denn noch nie hatte sie über die Form der Erde nachgedacht. Doch vielleicht ergab dies ja Sinn. Immerhin würde es so erklären, warum die Sonne und der Mond in einem Halbkreis wanderten.
An einem anderen Ort der Erde, müsste es also Nacht sein, wenn in Iopix Tag war, ebenso wie anders herum.
In der Erde war ein grüner Stein verankert, zweifelsohne ein Smaragd, denn diese Steine hatte sie oft gestohlen.
Jede der Gylvanan hatte also einen Stein, der sie selbst repräsentierte.
Mit einem Mal wurde die Welt um Brya dunkler und gleichzeitig klarer.
Der Mond. Er hatte sie verfolgt.
Der Mondstein an ihrer Kette, der ihr so suspekt erschien, denn auch diese Kette war ihr beinahe in die Arme gesprungen, hatte ihr diesen Tempel gezeigt. Den Tempel der Gylvanan.
Die Ruhestätte der Gylvanan.
Hinter ihr vernahm Brya den Atem Azarels, der offenbar den restlichen Weg gelaufen sein muss.
»Das nächste Mal nimmst du mich bitte mit. Wie skrupellos mich einfach den Rest allein besteigen zu lassen«, er atmete noch einige Male ein und aus, ehe er zur Ruhe kam und sich neben Brya stellte.
Sie schwiegen und starrten stumm auf die Skulpturen der Schöpfer.
»Es ist Ewigkeiten her, seit ich hier war«, unterbrach er mit einer sanften Stimme die Stille der Berge.
»Wie lange?«, fragte Brya, ohne dabei ihren Blick von dem Mondstein der Skulptur abzuwenden.
Nach einigen Sekunden des Überlegens äußerte Azarel sich leise und Brya hätte schwören können, dass in seiner Stimme Bedauern lag: »Fast vierundzwanzig Jahre. Kurz nach deiner Geburt. Als Königin Ismera dich zu den Menschen bringen wollte.«
Bryas Leib zitterte ein wenig, denn langsam begannen sich die Fragen über den Mond aufzuklären.
Die nächste Frage stellte sie mit feuchten Augen.
»Warum warst du hier?«
»Ich habe gebetet. Gebetet für mich, dass die Gylvanan mir vergeben sollen, für das, was ich zu tun bereit war und schließlich auch tat. Ich habe um Erlösung gebetet. Für meine Freunde, dass ihnen nichts geschehen würde, dass sie nicht für meine Taten bestraft würden.«
Er setzte aus und sammelte sich selbst, denn auch ihm, dem ach so unantastbaren und überheblichen Krieger, machte dieses Gespräch zu schaffen. Er hatte nicht damit gerechnet, dass es so verlaufen würde. Dieser Mann hatte das Schlimmste vermutet. Azarel wusste, dass er sterben könnte. Er hatte es dennoch getan.
»Und für dich. Für das kleine Mädchen, das ich in jener Nacht das letzte Mal in den Armen hielt. Das mich mit ihren unglaublich schönen und großen Augen angesehen hatte und lächelte. Lachte. Dieses kleine Ding, das nicht wusste, wie schrecklich ihr Leben werden würde. Ich habe die Gylvanan angefleht dich zu beschützen.«
Seine Stimme wurde brüchig und er räusperte sich mehrere Male.
Vor ihren inneren Augen konnte sie sehen, wie der Mann in goldener Rüstung vor diesem Altar kniete und die Götter anflehte, auch obwohl sie vor so vielen Jahrhunderten gegangen waren. Seine Hände auf den Marmor gelegt, jeder Muskel seines Körpers angespannt.
Vor Wut.
Vor Angst.
Die schimmernde Silhouette dieses Mannes, des Generals, stand auf und verließ den Tempel, während er sich eine Träne aus dem Gesicht wischte.
Brya blickte diesem Mann hinterher, ehe er hinter den seidenen Tüchern verschwand.
»Meine Gebete wurden erhört. Nicht nur ich wachte über dich. Auch der Mond.«
Bryas Blick war noch immer auf den Ausgang des Tempels gerichtet. Der Mann kam wieder herein. Energetisch warf er die Tücher beiseite und ging schnellen Schrittes zu den Skulpturen. Er schleuderte sie von dem Altar und schrie diese stumm an, ehe sich seine Wut nach oben, gen Himmel, richtete.
Er schrie die Gylvanan an.
»Sie erschienen mir, jede von ihnen. Und jede von ihnen schüttelte den Kopf, sie könnten mir nicht helfen.«
Brya sah es, vier Frauen in glänzenden Gewändern. Gesichter erkannte sie allerdings keine.
Sie alle verneinten seine Bitte und verschwanden wieder. Bis auf eine.
Sie hockte sich zu dem bettelnden Azarel hinunter und legte ihre Hand auf seine Schulter. Und sie nickte.
»Der Mond versprach mir, dich zu beschützen, solange du das Volk beschützen würdest. Nicht die Altelfen. Das Volk. Menschen und Altelfen vereint.«
Die Grabinschrift schoss Brya in den Kopf.
Möge der Mond über alle wachen, die in finsterer Stunde über das Volk wachen.
»Du hast diese Entscheidung für mich getroffen«, flüsterte Brya, während sie noch immer das Bild des Mondes und Azarel betrachtete. Er hatte ihr diese Entscheidung abgenommen. Sie musste das Volk beschützen.
»Es tut mir leid. Ich sah darin die einzige Chance dich zu retten. Du willst es doch auch.«
Sie schüttelte den Kopf.
»Darum geht es nicht. Du hast über meinen Kopf hinweg entschieden, was ich mit meinem Leben anstellen werde. Ich schulde einer alten Göttin einen Gefallen, deinetwegen.«
Die Schuld stand in seinem Gesicht geschrieben und er stotterte einige Male, ehe er sich zusammenriss und ordentlich sprach: »Ich wollte dir diese Last nicht auferlegen, Brya. Ich wollte dich nur beschützen.«
Diese Worte wirkten so wahr und doch prallten sie leer an Bryas Geist ab.
»Was ist da noch Azarel? Was verheimlichst du mir noch?«
Er stammelte und nahm ihre Handgelenke sanft in seine großen aber schwitzigen Hände.
»Brya, bitte glaub mir, wenn ich dir sage, dass ich das nicht wollte. Ich wollte dir diese Last nicht auferlegen.«
Das beantwortete ihre Frage nicht. Kalt löste sie ihre Handgelenke aus seinem Griff und blickte tief in seine goldenen Augen.
An seinem Blick und daran, wie dieser sich senkte, erkannte Brya, dass Azarel verstanden hatte, was ihr Belangen war.
»Eine Sache gibt es da noch«, brachte er leise über seine vollen, aber zitternden Lippen.
»Erzähl es mir.«
Er brauchte eine Weile, bis er anfing zu sprechen. In seinem Gesichtsausdruck lag Unsicherheit und Sorge.
Noch nie hatte sie Azarel so gesehen.
So schwach.
»Nyhadryas Lyria. Ri nara.«
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro