15 - Heimat
Seine Augen auf den Marmor unter sich gerichtet. Jeder Muskel seines Körpers spannte sich an, als sein Leben sich mit jeder verstreichenden Sekunde dem Ende näherte.
Die Halsschlagader stach hervor und pochte rasant mit seinem laut schlagenden Herz um die Wette. Er spürte, wie die Klinge auf seinen Hals zuschnellte, denn er kniff die Augen zusammen. Sein Tod war unumgänglich, so dachte er.
Ein ohrenbetäubender Schrei erklang und ließ den Palast erzittern.
Brya Magen zog sich zusammen, als Königin Ismera, ihre Mutter, diese Worte aussprach. Mit dem Tod, hatte sie mit einer derart unverständlichen Ruhe gesagt, sodass Brya sich beinahe übergab.
Der Stahl der Klinge glänzte in dem Sonnenlicht, das durch die großen Fenster in den Thronsaal drang. Auch ihr Körper verkrampfte sich, als die Wache seine Hände herabführte, in Richtung von Azarels Nacken. Er würde hingerichtet werden. Vor ihren Augen. Er hatte sie beschützt, als ihre Mutter es nicht tat.
Azarels Tod war nicht gerechtfertigt.
Nicht, wenn es nach Brya ging.
Der Abstand zwischen seinem Hals und der Klinge war nun nicht einmal mehr einen Finger breit. Ihr Herz setzte bei dem Gedanken seinen Kopf im nächsten Moment rollen zu sehen aus. Ebenso, wie ihr Verstand.
Alles, was Brya nun noch antrieb, war eine Macht, die immer tief in ihr verborgen schien. Bis zu diesem Augenblick hatte sie nicht einmal gewusst, dass sie imstande war etwas Derartiges zu tun.
Doch fühlte es sich so selbstverständlich wie Atmen an. Als wäre sie dafür geboren diese Macht zu entfesseln und gegen ihre Feinde zu richten.
Es benötigte nicht einmal einen einzigen Durchbruch ihrer geistigen Barrieren, um sich von der Wache loszureißen und die Welt um sich herum zu teilen.
»NEIN!«
Als sie wieder auftauchte, vor derjenigen Wache, die versuchte Azarel zu töten, zersprangen alle Fenster im Thronsaal.
Brya brauchte dem Mann gar nicht die Klinge aus der Hand zu schlagen, wie sie es vorgehabt hatte. Nein, die Druckwelle, die sie entfesselt hatte, nahm ihr diesen Teil ab, denn jeder Anwesende dieser Audienz wurde von ihr durch den Raum geschleudert.
Nur die Königin blieb unversehrt, sie hatte ihre Hände erhoben und ließ die Scherben des Fensterglases in der Luft vor sich schweben. Doch ihr Standort hatte sich verändert. Ihre Füße, an denen sie Sandalen mit ledernen Schnüren am Unterschenkel trug, waren einige Meter nach hinten gerutscht, sodass sie mit einem erschrockenen Gesicht dastand.
Als Brya ihren Blick zu Azarel richtete, bemerkte sie, dass er sie von unten herab ansah. Sein Gesichtsausdruck war ungläubig, doch erkannte sie auch, wie sich langsam ein sanftes Lächeln auf seinen Lippen formte.
Ja, er lächelte sie seit langem mal wieder an. Es verstrichen nur einige Augenblicke nach der Druckwelle und schon standen alle Wachen wieder auf den Beinen, gingen mit erhobenen Waffen auf Brya und Azarel zu.
Ihr Kopf schnellte nach hinten und es fegte ein heftiger Wind durch die Fenster in den Saal, der alle darin taumeln ließ. Nur Azarel und Brya schien der Wind zu umgehen, selbst die Königin ließ die Scherben fallen, um ihr Gesicht vor dem Wind zu schützten.
»Kommt mir nicht zu nahe!«, ertönte es aus Bryas Mund.
In ihrer Tonlage lag eine Macht, die die Wände einstürzen lassen konnte.
»Genug.«
Die Stimme der Königin hatte ebenfalls eine enorme Macht, die allerdings vielmehr von Autorität geprägt war, als die von Brya.
»Meine Tochter hat den Tod dieses Mannes sicherlich nicht ohne Grund verhindert. Du schuldest dem Hof eine Erklärung, Bryalla.«
Jetzt erst bemerkte Brya, wie heftig sie atmete. Ihr Brustkorb hob und senkte sich sichtbar, während man ihren Aufruhr auch hören konnte.
Ehe sie sich zu ihrer Mutter wandte, nahm sie Azarel an den Ellenbogen und half ihm hoch. Nach einem austauschenden Blick der Beiden, bei dem er ihr versicherte, dass alles in Ordnung war, blickte sie zu Königin Ismera.
»Azarel hat den Tod nicht verdient.«
In den Augen der Königin lag keine Verachtung, wie sie es erwartet hatte.
Sie strahlten vor Aufmerksamkeit und mit einer leichten Handbewegung forderte sie Brya auf, fortzufahren. Diese atmete noch immer stark.
»Er hat mir geholfen hierher zu kommen und als Dank?«, sie setzte für zwei Atemzüge aus, »Als Dank ist der erste Befehl, den die Königin gegen den Retter ihrer Tochter erteilt, seine Hinrichtung. Ich sage, dass sich dieser Befehl aufhebt, denn ich habe ein Recht darauf zu leben, genau wie er. Und ohne ihn würde ich gewiss schon längst tot sein. Also schulde ich ihm diesen Gefallen. Ein Leben, gegen ein Leben.«
Die Wachen tauschten einige unsichere Blicke aus, während die Königin überlegte. Es war riskant diese Forderung zu stellen, doch sie meinte es genauso, wie sie es gesagt hatte.
Brya war es ihm schuldig, auch wenn die letzten Tage der Reise eventuell unangenehm und befremdlich waren. Er hatte es verdient.
»Du würdest dein Leben, das einer Prinzessin, dem eines Verräters an deinem Volk gleichstellen?«
Brya nickte, ohne großartig nachgedacht zu haben.
»Ich stelle mein Leben gleich mit einem Mann, der sein Leben aufgegeben hat, um ein Kind zu beschützen, das nicht sein eigenes ist. Ein Kind, von dem er nur wusste, dass es das seiner Königin war. Ein Mann, der dem Tod ins Auge blickte und sich nicht fürchtete, obwohl es nicht gerecht war.«
Ihre Stimme zitterte, als sie diese Worte aussprach. Die Königin strich sich nachdenklich über die Lippen.
Brya wurde zunehmend nervöser und warf so ihr letztes Argument ein, auch wenn sie nicht wusste, ob es der Wahrheit entsprach.
»Du kannst deinen ehemaligen General für einen Fehler, den du begangen hast, nicht in den Tod schicken, Mutter.«
Azarel hielt die Luft an, die er soeben scharf eingeatmet hatte. Sie hatte ins Schwarze getroffen. Was die Wache gesagt hatte, als er seine Klinge gegen Azarel erhoben hatte, galt also ihm. Es war mir eine Ehre, General. Finde im Jenseits deinen Frieden.
Das war es, was Brya gehört hatte. Azarel war der General ihrer Armee gewesen. Womöglich einer ihrer engsten Vertrauten.
Er hatte sie nie verraten.
Sie war es, die den Fehler begangen hatte.
Und so versuchte er diesen wieder gutzumachen. Die Treue zu seinem Volk so echt, dass er dafür sein eigenes Leben wegwarf.
»Was schlägst du vor? Azarel wieder zu meinem General machen? Ihn frei herumlaufen lassen? Ihn in meine Reihen aufzunehmen, als wäre nichts geschehen?«
Brya schüttelte den Kopf.
»Ich verlange weder das Eine, noch das Andere. Doch ich verlange Vergebung. Es wird nicht vergessen, was Azarel getan hat, seine Tat mag ebenfalls Fehler mit sich gezogen zu haben. Doch sollte auch nicht vergessen werden, dass er der einzige Grund ist, warum ich jetzt hier stehe. In meiner Heimat.«
Brya wusste nicht, was in sie gefahren war, dass sie in der Lage war solch eine Ansprache zu halten. Ihre Ehrfurcht der Königin gegenüber schien mit dem Augenblick verblasst zu sein, in dem ihre alleinige Macht dazu imstande gewesen war, die Königin zu bewegen.
Sie fühlte sich, auch wenn es überheblich klang, stärker.
»Du schwingst große Worte, dafür, dass du gerade einmal seit einigen Stunden in deiner Heimat bist, mein Kind.«
Heimat.
Dieses Wort klang wunderschön und doch widerlich zugleich.
Brya war sich nicht sicher, ob dieses Wort eine große Bedeutung haben sollte.
Ihr Leben lang war sie auf der Flucht vor sich selbst gewesen. Ihre Heimat wurde ihr noch vor der Apokalypse genommen.
Und jetzt?
Jetzt nannte sie einen Ort Heimat, den sie nicht kannte. Doch es fühlte sich gut an. Und wiederum auch nicht. Sie war hin- und hergerissen.
»Ich bin nicht hier, um mich in das Leben einzufügen, das in Elvandros gelebt wird. Ich bin hier, weil Iopix am Abgrund steht und die Altelfen nicht unschuldig sind.«
Ismera nickte und streichelte ihren eigenen Zopf. »Nun gut. Azarel, du erhältst mit diesem Spruch nicht jede Freiheit zurück, die du einmal hattest. Doch lass mich dir sagen, dass du fortan wieder ein Leben als einer der unseren führen kannst. Als Altelf, als das, was du von deiner Geburt an warst. Deine Taten werden nicht vergessen, weder die Guten noch die Schlechten.«
Er kniete nieder und senkte sein Haupt.
»Habt Dank, Eure Majestät.«
Sie trat näher und schenkte Brya ein schwaches Lächeln, ehe sie sich zu um herunter bückte.
»Doch hör mir genau zu, wenn ich dir sage, dass du eines qualvollen Todes stirbst, wenn du dich gegen mich und mein Volk wendest.«
Die Drohung in ihrer Stimme hallte durch den Saal, bevor sie sich beide erhoben.
»Du stehst zunächst unter Arrest, hier im Palast kannst du dich aber frei bewegen.«
Ein abschätzender Blick glitt seinen Körper herunter.
»Und falls du immer noch so kämpfst, wie vor zwanzig Jahren, dann solltest du den Männern beim Trainieren Gesellschaft leisten. Ich bin mir sicher, du hast den ein oder anderen Verbesserungsvorschlag.«
Azarel stellte sich stramm hin und nahm die Hände hinter seinen Rücken.
»Es wäre mir eine Ehre.«
Sein nächster Blick galt Brya. Wieder traf Gold auf Gold. War dies die Farbe der Altelfen? Er brauchte nicht zu sprechen, damit Brya verstand, was er ihr sagen wollte.
Das leichte Zucken seines Mundwinkels genügte, sodass sie verstand, dass er sich bedankte. Auch ihre Mundwinkel zuckten, ehe die Königin zweimal in ihre Hände klatschte. Nach einigen Sekunden öffnete sich die Tür, durch die auch sie zuvorgekommen waren und es traten vier hübsche Mädchen ein.
Ihre Kleider waren zwar nicht aus Seide, doch der Stoff war ebenfalls leicht und wunderschön. Jedes der Mädchen trug das gleiche Kleid, wenn auch mit einigen unterschiedlichen Details. Die hellblaue Farbe schmiegte sich wie maßgeschneidert an ihre Körper und der Stoff wehte mit jedem Gang, als sie zu Brya und Azarel vortraten.
»Wascht und kleidet sie.«
Brya wurden die Hände zweier Mädchen an den Rücken gelegt, während sie herausgeführt wurde. Waschen klang gar nicht mal so schlecht.
Doch Kleiden?
Sie befürchtete das Schlimmste.
~
Die harten Bürsten schrubbten ohne Pause an ihrem Rücken, nun waren es nicht mehr zwei Mädchen die Brya wuschen, sondern insgesamt fünf von ihnen. Sie hatte beinahe das Gefühl, sie würden ihr die Haut vom Leib reiben und sie fluchte laut, wenn wieder einmal ein Eimer mit heißem Wasser über ihren Kopf gegossen wurde.
Eine weitere Frau kam herein und wollte sich Bryas zuvor getragene Kleidung von dem Tresen holen, vermutlich um diese zu waschen.
»Hey, hey! Fass das nicht an!«
Die Magd zuckte zusammen und nahm ihre unglaublich zart aussehenden Hände von der Kleidung weg.
»Ich wasche die Montur selbst. Danke.«
Ihr knurrender Unterton wurde noch lauter, als ein heißes Öl auf ihrer Haut eingerieben wurde. »Verdammt!«
Die Mädchen sagten nichts und arbeiteten nun noch schneller. Als hätten sie Angst vor Brya. Nun ließen sie von ihrem Körper ab und widmeten sich ihren Haaren. Es dauerte eine gefühlte Stunde, bis sie jeden Knoten entwirrt hatten und es schafften das widerspenstige Haar zu bürsten.
Nach dreimaligem Auswaschen und Bryas unterdrückten Schimpfwörtern, denn die Prozedur tat ungemein weh, bedeuteten die Mädchen ihr mit einigen Handbewegungen aufzustehen. Sie hievte sich am Wannenrand hoch und betrachtete sich für einige Sekunden in dem Spiegel, der sich direkt vor ihr, in dem gänzlich aus champagnerfarbenen Marmor bestehenden Waschhauses, befand.
Ihr Körper war immer noch dürr, doch erkannte sie im Vergleich zu ihrem letzten Bad einen Unterschied.
War ihr Busen größer geworden?
Nun bestand er wohl nicht mehr nur aus etwas Haut und einer kleinen Wölbung. Doch, da war tatsächlich etwas Fett.
»Ah Scheiße!«, schrie sie, als ihr ein Eimer mit kaltem Wasser über den Kopf gegossen wurde.
»Eine kleine Warnung vielleicht?«, knurrte Brya. »Verzeihung Mylady.«
Die Worte sprachen alle fünf Mädchen gleichzeitig und synchron aus. Sie nickte bloß und murmelte etwas davon, dass es in Ordnung sei. Als Nächstes halfen die Mädchen ihr aus der Wanne, indem sie ihre Arme stützten.
Brya wurde auf ein Podest, ebenfalls aus Marmor, gestellt. Verwirrt stand sie dort, nutzte aber die Gelegenheit, um sich selbst in dem anderen Spiegel zu betrachten, der nun vor ihr stand. Selbst ihre Hüftknochen waren nicht mehr so prägnant wie vorher.
Die Tür zum Waschhaus sprang auf und eine Frau kam herein. Sie trug ein Kleid aus grünem Stoff, das besetzt mit goldenen Akzenten war.
Um ihren Hals trug sie ein langes Band und bei näherer Betrachtung erkannte Brya, dass darauf kleine Striche und Zahlen abgebildet waren. Schnurstracks kam diese dann auf Brya zu und fing an ihren Körper auszumessen. Sie ließ nicht eine Partie aus.
Brya fragte sich, ob es nicht sinnvoll wäre ihre Maße aufzuschreiben, doch gerade als sie dies anmerken wollte, da verschwand die Frau auch schon wieder. Es wirkte, als wären diese Dienstmädchen nie wirklich zum Reden auferlegt. Nun wurde Brya mit sanften Händen in einen anderen Raum geführt, der vom Waschhaus abging.
Dort befand sich eine Frisierkommode und ein Sessel der mit Leder gepolstert war. Sie wollte sich setzen, doch vorher legte ihr eines der Mädchen einen seidenen Mantel um. Ihr nasses, in leichten Wellen fallendes Haar sah überaus struppig aus, auch obwohl es so gut gewaschen wurde. Doch auch die nächste Magd, die herbeieilte, wusste zu helfen. Brya rechnete damit, dass sie eine Kurzhaarfrisur bekam, doch stattdessen legte diese Frau ihre Hände auf das Haar und es breitete sich eine ungewöhnliche Wärme auf ihrem Rücken aus. Nach einigen Sekunden ließ sie ab und wirbelte dann ihren Finger in der Luft.
Bryas Haare flogen umher und als sie wieder stilllagen, da konnte sie ihren Augen nicht trauen. Ihr braunes Haar war seidig und glänzte, nicht zu vergessen, dass es nun von sanften und ebenmäßigen Wellen durchzogen war. Das konnte nur Magie sein.
Nach einigen Momenten des Staunens wurde sie erneut auf das Podest gebeten und die Frau mit dem Maßband kam wieder hinein. Dieses Mal nicht allein.
»Mantel«, sagte sie in einer überheblichen Stimme und machte bloß eine Handbewegung, sodass ihr der Mantel abgenommen wurde.
Hinter ihr kamen zwei weitere Frauen hinein, die Kleider trugen, die wohl für Brya bestimmt waren. Eines der beiden Kleider war in einem sanften Rotton, doch das andere, war das, welches sofort ihren Blick einfing.
Es war in einem dunklen Rot, das beinahe der Farbe von Blut ähnelte. Es war einige Jahre her, als sie zuletzt ein Kleid getragen hatte und sie hatte die Bewegungsfreiheit seither immer genossen. Doch diese Kleider waren nicht mit zuschnürenden Korsetts ausgestattet.
Nein, sie hingen anmutig herab und ließen genug Freiraum für Fantasie.
»Das Dunkle«, flüsterte sie beinahe.
Ein Blick der Frau in dem grünen Kleid schnellte zu Brya, dann zu dem Kleid.
»Genau meine Wahl.«
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