13 - Blutsgipfel
Sie wurde wachgerüttelt. Azarel hatte ihre Schultern mit seinen großen Händen umfasst und schüttelte ihren Körper mit Leichtigkeit vor und zurück. Zähneknirschend öffnete sie ihre Augen und riss sich von ihm los.
»Wir müssen weiterziehen. Der Schneesturm ist vorüber.«
Mit beiden Händen rieb Brya sich das Gesicht und versuchte ihre gepunktete Sicht loszuwerden. Durch den Spalt der kleinen Höhle drang die Sonne und ihre Augen schmerzten beinahe bei der Helligkeit.
»Ich bin gleich so weit.«
Er grummelte und quetschte sich ohne ein weiteres Wort durch die Felsen ins Freie. Nachdem Brya sich aufgerafft und ordentlich gestreckt hatte, packte sie ihre Tasche wieder zusammen. Das Lagerfeuer vom vorigen Abend war ausgebrannt. Sie hatte für diese Verhältnisse recht gut geschlafen, doch der leichte Windzug, der durch den Felsspalt rauschte, ließ das Schlimmste erahnen.
Als Brya sich ebenfalls einen Weg nach draußen bahnte, begann sie sofort zu zittern, da die eisige Kälte durch ihren Leib fuhr. Leichter Schnee wurde in ihr Gesicht geweht, doch tatsächlich bot sich ihr ein wunderschöner Ausblick. Sie standen auf einer Art Pass und konnten hinunter ins Tal von Iopix sehen. Der Schnee auf den Gipfeln glitzerte im Sonnenlicht, das sich durch die Wolken seinen Weg brannte, während der Puderschnee durch die Landschaft rieselte.
Bryas eisiger Atem bildete eine leichte Wolke und sie hauchte sich in ihre behandschuhten Hände, um diese einigermaßen wärmen zu können. Mit einem erneuten Blick aufs Tal erkannte sie die Hässlichkeit, die sich über den Kontinent ausbreitete. Man sah klar und deutlich, wie die Verderbnis in fahlen Farben aus dem Westen heraus über das Land herfiel. Und zu ihrer Überraschung hoffte Brya, dass ihre Reise einen Sinn hatte. Sie hatte das Schicksal ihres Landes und ihrer selbst immer angenommen und sich nicht darum geschert was hätte sein können.
Doch jetzt stand sie auf den Höhen der schwarzen Berge, deren Anstieg niemand überlebt hatte, und sie war auf dem Weg zu ihren Ahnen. Während sie ihren Marsch fortsetzten, dachte Brya über die Geschehnisse der vergangenen Tage nach. Sie war Azarel gegenüber ungläubig gewesen, hatte sich nicht einmal vorstellen können, dass in den Bergen eine Rasse magischer Wesen lebte, die mit ihr verwandt war.
Mit einem schnellen Griff an ihre Ohren stellte sie allerdings fest, dass diese immer noch spitz zuliefen. Was er ihr erzählt hatte, ergab Sinn. In Anbetracht dessen, dass sie auf ihrer Reise Untote, dämonische Schergen, zu Monstern verstümmelte Menschen und fliegende Löwenalder gesehen hatte, schien ihr doch ihre Herkunft nicht mehr allzu weit hergeholt. Und dennoch zweifelte ein Teil in ihr an alldem. Sie wollte es immer noch nicht wirklich wahrhaben. Was genau Azarel vorhatte, wusste sie immerhin auch nicht.
Sie holte zu ihm auf, was durch den Tiefschnee etwas schwieriger als gedacht war.
»Was passiert, wenn wir sie finden?«, fragte sie schwer atmend.
»Wir werden sie überzeugen, Hilfe zu leisten.«
Sie grummelte. Ja das hatte er schon mal erwähnt.
»Ja, aber wie?«
»Überlasse das mir.«
Sicher. Sie folgte ihm einfach wieder einmal blind. Warum auch nicht?
~
Tatsächlich war der Anstieg des Berges, auf den sie gerade zugingen, nicht so schwierig, wie erwartet. Ein Pfad vereinfachte die Reise ungemein. Bryas Kapuze flog einige Male von ihrem Kopf, da der Wind immer stärker wurde, je höher sie gingen. Wie hoch genau sie allerdings waren, wusste Brya nicht, da sie sich weigerte an den Klippen einen Blick nach unten zu werfen.
Azarel wanderte vor ihr durch den tiefen Schnee und beachtete sie natürlich nicht eine Sekunde. Nun, Brya hatte auch etwas Besseres zu tun, als sich unentwegt um Azarels Gemüt zu sorgen. Ihre Gedanken und Sinne widmeten sich voll und ganz der Umgebung. Diese fliegenden Ungeheuer könnten jeden Moment zurückkehren. Das wäre zweifelsohne ihr Ende. Nach einigen weiteren Stunden des Wanderns nährten sie sich endlich dem Gipfel des Berges und konnten dann einen Blick auf das werfen, was jenseits der Gebirgskette lag. Bryas Informationen nach, gab es dort nur noch mehr endlose Anhäufungen von Schnee und Gestein. Aber niemand war je so weit gekommen, um die Karten tatsächlich sinngemäß zeichnen zu können. Ihr Wissen beruhte also auch auf reinen Spekulationen. Als Brya ihren Blick in Richtung des Gipfels richtete, fröstelte es ihr erneut. Der Wind fegte über die Spitze des Berges und die Sonne machte es beinahe unmöglich ihn zu erkennen. Beine schleppend gelangten sie und Azarel dann schließlich auf die Zielgerade. Sie waren nur noch einige Meter davon entfernt den Gipfel zu erreichen. Brya schlang ihre Arme um ihren Körper und versuchte ihr Zittern zu unterdrücken, während sie die letzten Steine erklomm.
Sie war sich sicher, dass ein normaler Mensch bereits erfroren wäre. So dick ihre Felle auch schienen, war der Wind dennoch beinbrecherisch. Zähneknirschend legte sie ihre Hände auf einen großen Felsen und zwang sich, unter ihren vor Kälte schmerzenden Gliedmaßen, ihre Arme hochzustemmen. Schwer atmend und keuchend gelang ihr dies auch.
Nachdem sie sich aufgerichtet hatte, sah sie, dass auf dem Gipfel eine Art Plateau war. Eine flache schneebedeckte Fläche mit einer Besonderheit. In der Mitte des Gipfels stand ein Podest mit einer runden Platte.
Hier war jemand gewesen. Ungläubig schritt sie voran, den Blick auf den sich auf tuenden Abgrund gerichtet. Sie würde nun sehen, was in dem Tal jenseits dieses Berges lag. Sie blieb stehen. Ein Teil von ihr weigerte sich weiterzugehen. Was auch immer sie dort vorfinden würde, würde ihr Leben verändern. Fände sie ihre Ahnen, so würde ihre Existenz sich erneuern, die Welt könnte vielleicht gerettet werden.
Fände sie allerdings nichts als Schnee, so war ihre Reise umsonst. Sie seufzte und rieb sich ihre eiskalten Hände. Was genau sie in diesem Moment so eine Überwindung kostete, war ihr unklar. War es die Angst, von Azarel angelogen worden zu sein? Die Angst, dass ihre Ohren wirklich nur ein Makel waren und die Bildhauerei in der Höhle bloß ausgedachte Kunst?
Ja, all das kreiste gerade in ihrem Kopf umher. Doch da gab es noch mehr. Einen Gedanken, den sie nicht wagte auszusprechen. Aber sie hatte während ihrer Reise schon oft daran denken müssen. Vielleicht war es also auch die Angst, dass Iopix doch im Chaos versank, bis nichts als Asche und Dämonen übrigblieb. Die Angst, dass sie doch nicht helfen konnte, dass sie selbst den Dämonen in die Arme fiel. Sie atmete einmal tief durch. Es gab kein Zurück.
Mit geschlossenen Augen ging sie schnell einige Schritte vorwärts und ließ sich auf die Knie fallen, als sie diese wieder öffnete. Brya krallte sich in den weißen Schnee und wünschte, er würde härteren Widerstand leisten. Vor ihr lag ein Tal. Ein schönes Tal. Ein großes Tal. Ein leeres Tal.
»Bist du fertig?«, fragte Azarel hinter ihr.
Brya knurrte und stand, den Schnee umherwirbelnd, auf.
»Womit?«, keifte sie. Ihre Reise war vollkommen umsonst gewesen.
»Fertig damit, dir einen letzten Funken Vertrauen zu schenken? Du hast mich verarscht! Hier ist rein gar nichts, was uns helfen könnte!«
Wütend stampfte sie in seine Richtung, blieb allerdings direkt vor ihm stehen. Er stand neben dem Podest. Die Arme verschränkt.
»Fertig damit, dir die Aussicht anzusehen.«
Ihr Blick richtete sich auf das Podest, nachdem sie Azarel noch einmal angegrummelt hatte. Da es von Schnee bedeckt war, wischte sie diesen mit ihrem Ärmel weg und betrachtete das gemeißelte Bild. Sie erkannte eine Hand und der darüber schwebende Tropfen.
Sofort erinnerte sie sich an ihre Wildwassererfahrung in der Höhle. Als sie in dem Schacht feststeckte, hatte sie ebenfalls eine Meißelung dieser Art gesehen. Wer auch immer also in dieser Höhle gewesen war, war auch hier oben gewesen.
»Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit.«
Damals hatte sich das Blut aus ihren aufgeschürften Händen in einem goldenen Strang zu einem Felsen bewegt, welcher daraufhin verschwand. Auch als sie die Höhle verlassen wollten, öffnete sie mit ihrem Blut eine Wand. Herrschte hier die gleiche Art von... Magie?
Ohne ein weiteres Wort zückte sie den silbernen Ritualdolch und zögerte einen Moment. Das Kreuzstück. Jetzt erkannte sie welches seltsame Wesen dort abgebildet war. Eine Mischung aus Adler und Löwe. Brya wollte Azarel anschauen, er war es immerhin gewesen, der ihr den Dolch gegeben hatte. Sie war misstrauisch.
Er hatte von diesen Wesen gewusst, oder? Brya entfernte den Handschuh ihrer linken Hand und schnitt sich eine gerade Linie in ihre Handfläche. Es war ein seltsames Gefühl, wie das warme Blut über ihre durchgefrorene Hand floss und sie ekelte sich tatsächlich davor, tröpfelte es dann aber auf das Podest.
Nach nicht einmal einer Sekunde färbte sich das Rot in ein goldenes Leuchten und blendete Brya, sowie auch Azarel. Sie hielten sich ihre Arme vor ihre Gesichter und ließen sie erst wieder herunter, als das Licht verschwunden war. Doch das Podest stand noch immer an Ort und Stelle. Brya runzelte ihre Stirn.
»Was...«
Sie war verwirrt. Was hatte ihr Blut dieses Mal bewirkt? Ungläubig sah sie Azarel an, der ihr einen emotionslosen Blick widmete. Brya drehte sich um. Auf dem Gipfel hatte sich nichts verändert. Wieder schnellten ihre Augen zu Azarel. Er nickte, aber nicht zu ihr, sondern in Richtung des Abgrundes. Sie neigte ihren Kopf in diese Richtung und zögerte erneut.
Sie war unsicher.
Hatte sich dort etwas verändert? Lag im Tal eine Illusion, die sie aufgelöst hatte? Brya griff nach all ihrem Mut und rannte zum Rand der Klippen.
Ihr stockte der Atem. Das Tal war nun nicht mehr leer und weiß.
Nein.
Unter ihr ragten riesige Türme empor, grüne Landschaften, gigantische Bäume und vor allem, eine Stadt. Sie war wunderschön und gewaltig zugleich. Neben Wohnhäusern und Gebäuden sah sie außerdem aufragende Felsen, von denen Wasserfälle abgingen und in Flüsse flossen, die zuvor nicht zu sehen waren.
Das Herzstück dieser Stadt war wohl allerdings noch höher aufragend zu sehen. Ein Palast mit riesigen Glasfassaden und goldenen Akzenten, die sie selbst vom Gipfel aus glänzen sehen konnte.
Die Architektur der Gebäude war nicht von dieser Welt. Unglaublich schön und zugleich einzigartig wie eh und je. Ihr Herz schien schneller zu schlagen, sie atmete heftig.
Noch nie war Brya so überwältigt gewesen. All das versteckt mit Blut.
Ihrem Blut.
Brya zuckte zusammen, als sie Azarel neben sich bemerkte.
»Willkommen in Elvandros, der Stadt des Sommers.«
~
Der Abstieg war nicht großartig problematisch gewesen, doch pendelte Brya zwischen ungeduldigem herunterrutschen durch den Schnee und zögerlichem herunterschleichen. Azarel verhielt sich weiterhin stumm, folgte aber in ihrem Tempo. Die Stadt schien immer näherzukommen und so auch ihre Unsicherheit. Was würde passieren, wenn sie ankamen?
Sie würde es bald erfahren.
Azarel blieb stehen und hielt Brya am Ärmel fest.
»Was ist los?«, fragte sie verwirrt.
Hatte er sich also umentschieden?
»Ach, verdammt.«
Er knurrte und hob die Hände. Brya verstand nicht, was er vorhatte, bis sie Schritte hörte. Schnelle Schritte. Gepanzerte Schritte. Vor ihr sprang ein Soldat in goldener Rüstung von einer Erhöhung herab. Augenblicklich hob sie ihre Fäuste und stellte sich in Angriffsstellung.
»Sei nicht dumm, Brya!«, schrie Azarel ihr zu, sein Gesicht mit einem warnenden Ausdruck.
Doch in seiner Stimme lag weitaus mehr als nur eine Warnung. Er klang beinahe besorgt. Es mochte dumm sein, doch Brya hielt es in diesem Moment dennoch für besser, sich zu wehren. Niemand stand mehr zwischen ihr und ihren Antworten.
Antworten, die sie verdient hatte.
All das wartete in diesem gottverdammten Tal, in dieser Stadt. Nicht einmal ein Soldat würde sie jetzt von ihrem Weg abbringen. Das dachte sie zumindest. Schnell drehte sie sich um und rannte ihren Weg weiter.
»Brya!«, konnte sie Azarel schreien hören, doch sie ignorierte sein Flehen und konzentrierte sich ausschließlich auf ihre Schritte und darauf, nicht bäuchlings in den Schnee zu fallen.
Hinter ihr vermachte sie die Geräusche scheppernder Rüstungen. Sie kamen sehr viel besser im Schnee zurecht, als Brya.
Als sie einen kurzen Blick nach hinten warf, erkannte sie, dass sie einen Zahn zulegen musste, da hinter ihr nun fünf gepanzerte Männer waren, die definitiv nicht freundlich gesinnt waren. Durch ihre panischen Schritte stolperte sie einige Male und rollte schließlich durch den Schnee.
Jeder Versuch sich an etwas festzuhalten scheiterte kläglich und so versuchte Brya ihren Kopf vor einem möglichen Aufprall zu schützen. Doch bevor ihr Körper mit den Felsen kollidieren würde, griff eine starke Hand nach ihrem rechten Arm und zog sie aus dem Schnee.
Mit einem Blick nach oben machte sie einen der mit einer goldenen Rüstung versehenen Männer aus. Er hielt ihren Arm noch immer fest und starrte durch seinen Helm, der die Augen-, Nasen- und Mundpartie aussparte, auf sie herab. In seiner Mimik war keinerlei Gnade zu erkennen. Nur eiserne Härte. Azarel stand hinter diesem Mann, die Hände hinter dem Rücken, der Ausdruck nichtssagend.
Brya schluckte, ehe sie sprach: »Lass mich los, du Bastard!«
Sie hätte sich diesen Satz sparen sollen, denn was folgte, sorgte bei ihr für unglaubliche Kopfschmerzen.
Der Faustschlag des Soldaten landete direkt in ihrer Schläfe und stellte sicher, dass sie erst einmal schlafen würde.
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