12 - Eisiger Sturm
Bryas Hände zitterten und sie brachte kaum ein Wort heraus. Diese Bestien hatten die Jungen einfach gegriffen und aufs Ganze zerkratzt. Einige der Narben aus dem Gesicht des jungen und schluchzenden Jungen konnten außerdem auch von diesem riesigen Adlerschnabel stammen.
»W-warum?«
Seine Zunge herausgebissen, sodass er nie wieder sprechen könnte.
Warum war er hier gefesselt?
Sein Blick gerichtet auf den Wandteppich, der ihn wohl so oft zum Weinen gebracht hatte. Mit einem Blick auf die Handgelenke des Jungen wurde ihr klar, warum seine Eltern ihn an diesen einen Holzstuhl gefesselt haben müssen. Waagerechte Narben zogen sich über die Innenseite seiner Arme. Er hatte versucht sich das Leben zu nehmen. Brya verstand seine Beweggründe.
Wer wollte schon mit so wenig Lebensjahren ohne Zunge leben?
Vielleicht aber waren es auch seine Erinnerungen, die ihn plagten. Er musste gesehen haben, was mit ihm und seinen Freunden passiert war, hatte die Schreie gehört. Bei seinem leeren Blick ließ sich vermuten, dass er vermutlich auch gesehen hatte, wie der Sohn des alten Willy, den der Wirt erwähnt hatte, leblos im Schnee lag. Brya legte ihre Hände auf die Schultern den jungen und er murmelte, nein, brabbelte unverständliche Worte. Bei seinen Tränen dachte Brya daran, wie verzweifelt er sein musste. Er flehte sie mit seinen Augen an. Er wollte sterben.
»I-ich kann dich nicht...«
Er schluchzte und bettelte weiter mit seinen unverständlichen Worten um Erlösung.
»Ich kann kein Kind töten!«, rief sie, zuckte aber sofort zusammen.
Das war zu laut.
Dielen knatschten.
Jemand ging durch den Flur.
»Es tut mir leid.«
Brya sprintete zum Fenster und kletterte wieder hindurch. Der Junge zappelte und weinte jämmerlich. Er hatte aufgegeben.
»Es tut mir so leid...«
Brya merkte, wie ihre eigenen Augen feucht wurden. Es tat ihr im Herzen weh, diesen armen Jungen so zurückzulassen. Doch sie konnte es nicht mit ihrem Gewissen vereinbaren.
Sie könnte kein Kind töten.
Nicht einmal aus Mitleid.
Sie schloss das vereiste Fenster hinter sich und lehnte sich schwer atmend an die kalte Hauswand. Nicht etwa, weil der Sprung durch Fenster anstrengend gewesen war, sondern weil sie nicht wusste, ob sie die richtige Entscheidung getroffen hatte.
»Mikael! Geht es dir gut?«
Eine Frauenstimme, besorgt. Seine Mutter.
»Was war hier so laut?«
Er antwortete nicht, natürlich, sondern weinte einfach weiter. Die Stimmen verstummten, als Brya sich von dem Haus entfernte.
Sie konnte nicht länger dortbleiben. Als sie sich in das mit Fellen ausgelegte Bett fallen ließ und ihren Blick an die Decke richtete, dachte sie über das Wesen auf dem Wandteppich nach. Warum wurde dem Jungen die Zunge herausgerissen? Sollte er nicht darüber reden oder war das für diese Wesen eine Delikatesse? Fragen über Fragen.
Mal wieder.
Und da war immer noch Azarels seltsames Verhalten. Er schien ihr jetzt, wo sie schon einige Tage zusammen unterwegs waren, fremder, als an dem Tag, an dem sie zusammen Karten spielten. Diese ständig neu aufkommenden Fragen ohne logische Antwort zermürbten Brya den Kopf. Alles war so einfach gewesen als sie noch allein war. Sie hatte sich nie Gedanken um jemand anderen gemacht.
Musste sie nicht.
Über ihre Jahre im Ödland hatte sie sich nun mal einen gewissen Egoismus angeeignet.
Doch er löste sich auf.
Irgendwie.
Sie sorgte sich um das Schicksal des Jungen und ja, sie würde sogar behaupten, dass ihre Schuld sie von innen auffressen würde. Doch das dürfte sie auf gar keinen Fall zulassen. Keine Schwäche zeigen.
~
Es war noch dunkel draußen, als Brya von den Geräuschen aus dem Speisesaal geweckt wurde. Schnell zog sie sich ihre Montur wieder an, erst die Hose, dann Weste und Mantel. Zum Schluss legte sie den neuen Fellkragen an und legte ebenfalls Fell in ihren Stiefeln ab, bevor sie diese anzog.
Azarel saß wieder auf derselben Bank, wie am Abend zuvor und aß ein Stück Weißbrot mit etwas, das wie Schinken aussah.
Auch Brya hatte Hunger. Langsam gewöhnte ihr Magen sich an die regelmäßigen Mahlzeiten. Als sie sich wieder gegenüber von ihm setzte, sagte er nichts.
»Guten Morgen, Azarel.«
Er nickte und kaute stumm weiter. Sie könnte sich gewiss fragen, was in ihn gefahren sei, doch sie war sich des ständigen Nachdenkens leid geworden. Der Wirt kam vorbei und stellte ihr einen Teller mit dem gleichen Essen vor die Nase. Seine Mütze trug er heute nicht.
Man sah die Überreste seiner Haare auf seinem beinahe kahlen Kopf.
»Ihr seid Euch sicher, dass Ihr dort hoch wollt?«
Brya nickte und begann zu essen. Azarel gab, mal wieder, keinen Laut von sich. Der Wirt nickte nervös und ging dann, nachdem er sich mehrmals nach links und rechts umgesehen hatte, schnell hinter seine Theke.
Ihm war die Stille ebenso unangenehm, wie Brya. Nach Minuten schweigenden Essen und dem Trinken warmer Milch, was Brya soeben als eines ihrer Lieblingsgetränke erkannt hatte, öffnete sich die Tür der Taverne und zwei Menschen kamen hinein. Ein Mann und eine Frau, vermutlich verheiratet.
»Guten Morgen Collin.«
Der Wirt war offensichtlich überrascht, dass diese beiden hereinkamen, als die Frau ihn begrüßte. Und auch Brya war es. Sie erkannte die Frauenstimme. Das verhieß nichts Gutes.
»Was treibt euch denn hier her? Hier Mary, Joe, nehmt euch ein Glas warme Milch.«
Sie dankten ihm, nahmen das Getränk allerdings nicht an.
»Wir wollten dich warnen«, begann der Mann zu sprechen.
Azarels Blick weilte auf Brya, das konnte sie spüren, obwohl sie selbst den Dreien beim Reden zuschaute.
»Jemand ist heute Nacht bei Mikael im Zimmer eingebrochen. Es wurde nichts gestohlen, aber er war ganz aufgelöst. Du solltest alle deine Fenster doppelt verriegeln.«
Brya sah weg.
Sie hatten es bemerkt. Hatten sie sie auch gesehen? Sie flehte im Stillen, dass es nicht so wäre. Aber falls doch müssten sie schneller verschwinden als geplant.
Azarel durchbohrte sie mit seinem Blick. Seine Augenbrauen angehoben, der Kopf leicht nach links geneigt. Dort warst du heute Nacht, konnte sie ihn beinahe hören. Sie versuchte ihre Pein mit einem Lächeln zu überspielen, doch erntete dafür nur ein Kopfschütteln.
Azarel stand auf und drückte Brya eine der Taschen gegen die Brust, die neben ihm standen. Er hob knapp die Hand und verließ die Taverne, ohne den Wirt auch nur anzusehen.
»Danke für Eure Gastfreundschaft. Wir sind dann weg.«
Der Wirt nickte knapp und widmete Brya noch einen besorgten Blick, doch auch sie verließ die Taverne und setzte sich die Tasche auf. Azarel hatte die Pferde bereits losgebunden, der weiße Teufel wartete auf Brya. Nur auf sie.
Mit einem schnellen Schwung stieg sie auf und trieb das Pferd an, sodass sie dem Berggipfel entgegenritten. Der eisige Wind rauschte dabei durch Mark und Bein. Brya konnte sich glücklich schätzen, dass sie von dem Wirt so viele warme Felle bekommen hatten. Je weiter sie ritten, desto kleiner erschien das Dorf, während die Berge sie mit ihrer Größe zu erschlagen drohten. Brya gruselte sich ein wenig vor dem, was folgen würde.
Würden sie auch auf diese Löwen-Adler Wesen treffen?
Und falls ja, würde es gut ausgehen?
~
Der kalte Wind der Berge fegte den feinen Schnee um Bryas Ohren und zog ihr immer wieder die Kapuze ab. Grummelnd hielt sie sie nun mit einer Hand fest, was aber dafür sorgte, dass ihr Arm im Freien lag und nicht mehr vom Hals des Pferdes gegen den Wind geschützt war.
Sie ritten nun schon seit etwa zwei Stunden. Zwei Stunden in einem verdammten Schneesturm. Sie grummelte erneut.
»Diese Schneestürme sind es vermutlich, was die Dämonen von diesem Land fernhält! Wer geht schon gerne durch die Kälte?«, rief Brya Azarel zu, um eventuell die Spannung zu lösen, die in der Luft hing.
Ein Vermutlich, war alles, was sie als Antwort bekam. Dämlicher Idiot.
Als Brya zu ihrer Linken sah, erstreckte sich unter ihr der Hang. Würde der Sturm nicht so toben, dann hätte sie sicherlich das Dorf sehen können. Doch der Nebel und der Schnee schränkten die Sicht auf ungefähr zehn Meter ein.
Bald hatte ihre Reise ein Ende gefunden. Ob durch den Tod oder die Ankunft im Reich der Altelfen stand noch nicht fest. Ihre Sinne waren durch den Sturm ebenfalls eingeschränkt, doch jedes Pfeifen des Windes, das ihr etwas zu hoch erschien, verbreitete in ihr die Angst eines anfliegenden Löwen-Adlers.
Auch ihre Stute schien zunehmend unruhiger zu werden, was allerdings dem Schnee oder der Höhe geschuldet sein könnte.
Azarels Pferd hingegen konnte man beinahe nicht mehr vom weißen Teufel unterscheiden, so wie es von Schnee eingedeckt war. Vor ihnen kam eine etwas steilere Passage und es wurde zunehmend anstrengender sich auf dem Pferd zu halten. Die Reise durch die Berge zerrte schon von Anfang an an ihren Kräften. Brya erkannte glücklicherweise nach einigen Minuten das Ende der steilen Stelle, doch bevor sie vor Erleichterung aufatmen konnte, hörte sie ein Kreischen.
Ein animalisches Kreischen.
Wie das eines Adlers.
Ihre Pferde stiegen und machten so hastig kehrt, dass Brya vom Pferd fiel. Ihren Kopf schlug sie sich nur leicht an, doch als sie sich aufrichtete, waren die Pferde fort.
Nur Azarel, der nun vor ihr hockte, war noch da. Er zog sie mit enormem Schwung nach oben.
»Lauf!«
Brya fragte nicht nach, sondern sprintete durch den Schnee. Das heißt, sie versuchte es. Es war unglaublich anstrengend durch den Tiefschnee zu rennen und sie fiel einige Male auf die Knie. Jedes Mal wurde das Aufrichten mühsamer, doch Azarel zog sie an ihrem Oberarm mehr oder weniger hindurch.
Von allen Seiten konnte man nun das Kreischen hören, doch sehen konnte man nichts. Für einen Moment konzentrierte sich Brya auf ihr Gehör. Angst rann ihr die Wirbelsäule hinunter, eine Gänsehaut breitete sich auf ihrem ganzen Körper aus, ihre Nackenhaare stellten sich auf.
Eines dieser Dinger war direkt über ihnen.
Und zwar nicht irgendwie 50 Meter.
Nein es waren fünf.
Der Wind der Flügelschläge peitschte in ihr Gesicht, während sie sich mit Azarel weiter durch den Sturm kämpfte. Wären diese Wesen auf Nahrung aus, dann wären sie lange tot. Oder vielleicht war es die katzenartige Seite an ihnen. Sie wollten mit ihrer Beute spielen.
»Da vorne!«
Azarel zeigte in die weiße Weite, bis Brya eine Felswand mit einem Spalt entdecken konnte. So schnell es ging, hasteten sie auf die Fluchtmöglichkeit zu, fielen aber, als der Boden durch ein Beben erschüttert wurde.
Als Brya sich umdrehte, zuckte sie zusammen, da die hinter ihnen aufragende Kreatur kreischte. Eine prächtige Mähne, ein hellbraun glänzender Schnabel, ein peitschender Schwanz mit flauschiger Spitze.
»Bewegung!«, schrie Azarel sie an, als er sie weiter in Richtung des Spaltes zerrte.
Das Beben folgte ihnen, als das Wesen hinter ihnen herlief. Mit einem hastigen Sprung schlüpften Brya und Azarel durch den engen Schlitz und schürften sich dabei einiges auf.
Erschöpft und voller Schwung fiele beide zu Boden und betrachteten die Pranken der Bestie, wie sie versuchten sich einen Weg durch den Felsen zu kratzen. Panisch atmend und regungslos beobachtete Brya wie die Krallen Funken springen ließen, jedes Mal, wenn das Wesen erneut auf den schwarzen Stein schlug.
Nach einigen Minuten erklang erneut ein lautes und hohes Kreischen und das Tier verschwand. Das Flügelschlagen mehrerer gewaltiger Schwingen war zu hören, gefohlt von weiteren adlerähnlichen Schreien.
»Der Junge hatte recht«, stieß Brya mit kratziger Stimme hervor.
Er hatte recht gehabt, als er auf diesen Wandteppich gezeigt hatte. Zum Glück erwies sich dieser Spalt als kleine Höhle, sie konnten sich hier also einquartieren. Als sie sich zu Azarel umdrehte, um seinen Gesichtsausdruck zu sehen, sah sie bloß, dass dieser bereits seine Tasche abgesetzt hatte und einige kleine Holzscheite hervorholte, um ein Feuer zu machen.
Sie seufzte.
Nichts schien ihn zu kümmern. Aber bevor sie ihn ansprechen würde, beschloss sie ihm zu helfen. Aus ihrer Tasche holte sie etwas getrocknetes Gras und zwei Stöckchen. Sie hockte sich zu dem Stapel aus Holz und verstreute das Gras ringsherum, dann legte sie den flachen Stock hin und nahm die anderen zwischen ihre flachen Hände.
So schnell es ihr mit ihren eingefrorenen Gliedmaßen gelang, rieb sie ihn hin und her, bis Fünkchen entstanden.
Nach einigen weiteren Minuten entfachten sich die Gräser und Azarel und Brya hauchten die Flammen gemeinsam an. Während sie nun stillschweigend ihre Körper aufwärmten, sah Brya Azarel durchdringend an. Dieses Mal würde sie ihn mit Blicken durchbohren. Er sah sie einige Male kurz an, wandte sich allerdings schnell wieder ab.
»Was«, sagte er irgendwann entnervt und augenverdrehend.
»Du bist ruhig geworden.«
»Und was ist daran das Problem?«, fragte er mit dem Blick ins Feuer.
»Das Problem ist, dass dieses Verhalten überaus verdächtig ist.«
Er schnaubte.
»Verdächtig, sagst du? Was willst du mir damit sagen?«
Sie fummelte an dem Loch in ihrer Hose, dass der weiße Teufel ihr hineingebissen hatte.
»Ich will dir damit sagen, dass ich dir jetzt weniger denn je vertraue.«
Sein Kopf schnellte zu ihr. Einige Momente lang sah er sie bloß mit einem ausdruckslosen Gesicht an. Er verzog nicht eine einzige Miene.
»Fein.«
Fein? War das alles, was er zu sagen hatte?
»Wie bitte?«
Er hob abwertend die Hand.
»Du hast schon verstanden, kleine Brya. Dein Vertrauen wäre zwar nützlich, aber notwendig ist es nun auch wieder nicht.«
Sie verstand wohl nicht richtig.
»Ich könnte hier und jetzt umkehren!«
Er lachte bitter auf und nahm sich einen kleinen Stock, um im Feuer zu stochern.
»Das traust du dich nicht. Es dauert nicht mehr lange, dann sind wir an unserem Ziel angelangt.« Wütend packte Brya ihre Felle aus. Er hatte leider recht, ohne seine Begleitung traute sie sich nicht aus dieser kleinen Höhle heraus.
Sie legte ihre Felle ordentlich aus und machte es sich so bequem es ging, während sie zuletzt das Schafsfell über ihren Leib zog, um sich vor der Kälte zu schützen. Azarel starrte wieder ins Feuer.
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