Kapitel 9: Egal, was es kostet
Wenn du wieder jemanden brauchst, ich bin da. Immer.
Das war das Erste, woran Levi dachte, als er am nächsten Morgen aufwachte. Es waren nicht seine eigenen Worte gewesen, sondern Erwins. Warme Worte. Wie Tee. Jade.
Erwin war nicht mehr hier. Er hielt auch nicht mehr seine Hand oder redete beruhigend auf ihn ein, strich auch nicht mit dem Daumen über Levis Handrücken oder teilte dieses Schweigen mit ihm, das alles und nichts sagte. Nein, es herrschte einsame Stille.
Ein bedrückendes Gefühl hatte seine Brust ergriffen, als würde jemand ihm immer mal wieder kurz die Luft abschnüren, nur um sie anschließend wieder in seine leidende Lunge zu leiten. Er sehnte sich. Nach etwas. Nach vielem. Vertrauen. Respekt. Zuneigung.
Levi drehte sich auf die Seite und schaute zur Tür. Vielleicht musste er sich eingestehen, dass Erwin gewissermaßen eine Konstante war. Eine Konstante, die sich mittlerweile durch sein Leben zog wie das Putzen oder die Disziplin. Konstanten gaben Sicherheit, weil sie immer da waren. Weil man sich an ihnen festhalten konnte, wenn der freie Fall drohte.
Für Erwin könnte er wieder schwach werden. Seine Empfindungen zulassen und schauen, wie es weiterging. Ob sich daraus etwas entwickelte, das von Bedeutung war, seinem Leben einen tieferen Sinn verlieh. Das dachte Levi zumindest, bis er wieder zurückdachte.
Du gehst jetzt besser.
Erwin war da, eine Konstante, hier und nah, und doch war er im selben Moment so weit entfernt. Sobald man sich zu ihm lehnte, stieß er einen zurück. Zwar nicht roh und gewaltvoll, wie es Levi tun würde, aber er schob ihn von sich mit dem, was er am besten beherrschte: Worten.
Seine Zunge war tückisch, trügerisch, böse nicht, aber gewieft und ausgeklügelt, ließ einen niemals wagen, am Verstand dieses Mannes zweifeln. Die Ausdrücke und Formulierungen, die er wählte, kamen ihm mit absoluter Mühelosigkeit über die Lippen, als hätte er sein ganzes Leben lang dafür geübt, dabei eine Ruhe im Gesagten, dass es einen schauerte. Ihm fiel es nicht schwer, in den Menschen um sich herum etwas auszulösen. Er konnte sie völlig beruhigen und danach erneut in Aufruhr versetzen, sie an ihren wunden Punkten treffen und im nächsten Satz die zugefügten Verletzungen heilen.
Weil Erwin seine Probleme lieber mit Worten löste, alles andere wäre völlig gegen seine Natur. Und das machte ihn umso gefährlicher.
Levi seufzte. Die Sonne ging auf. Es war Zeit, aufzustehen.
• • •
Gegen acht fand Levi sich im Verkaufsraum ein und band sich ordnungsgemäß seine Schürze um. Für den letzten Schliff strich er den weißen Stoff noch glatt, bis er sich elegant an seinen Körper schmiegte. Immerhin sollte dieses Kleidungsstück Einsatzbereitschaft und Elan repräsentieren. Nicht, dass er sonderlich viel von Uniformen hielt, aber es war angenehm, etwas Charakteristisches mit seinem Kollegen gemein zu haben, als wären sie junge Kadetten. Sie bildeten eine Einheit.
Es erinnerte ihn unumgänglich an seine Arbeit mit Furlan auf dem Feld. Damals, im Osten. Seine Familie hatte früher mal einen Hof besessen, bis die Regierung sie enteignet hatte. Alle Bauern und Arbeiter, darunter auch Furlans Eltern, mussten sich in dieser Zeit Organisationen und Genossenschaften verpflichten ─ gut, faktisch musste man nicht, sie zwangen einen nicht mit vorgehaltener Waffe. Aber die Leute von der SED belästigten einen ständig und die meisten gaben unter dem Druck einfach irgendwann nach.
Es hatte Furlan nie seine Freude und Gelassenheit geraubt. Kein Umstand stahl ihm sein schönes Lächeln, nein, er stand jeden Tag auf und ging heroisch aufs Feld, arbeitete hart mit Einsatzbereitschaft und Elan, genau wie Levi mit seiner Schürze.
Entnervt schüttelte er den Gedanken ab. Levi hasste es, dass er schon wieder an die Vergangenheit denken musste. Sein Gedächtnis schien ihm trotz aller Abwehrmechanismen immer einen Schritt voraus zu sein, stellte ihm Fallen in Form von Alpträumen, die unvermeidlich zuschnappten. Es war die einzige Tortur.
Der einzige Weg, damit umzugehen, war konstante Verdrängung. Selbst wenn Erwin mal seine Narben zu Gesicht bekam oder in seiner Vergangenheit herumwühlte, konnte Levi diese Erfahrung rabiat beiseiteschieben und weitermachen. Nur weitermachen. Essen. Schlafen. Arbeiten.
Müde ließ er den Blick durch den Laden schweifen. Seit einer Weile schon plauderte Erwin mit einem Kunden, was Levi gehörig auf die Nerven ging. Würde es immer allein seine Pflicht bleiben, die Stellung zu halten?
Ein Schwenk zu Erwins Gegenüber veranlasste ihn unwillkürlich dazu, die Stirn zu runzeln. Reserviert, schlank, groß. Levi hatte generelles Misstrauen gegenüber großen Leuten. Wenn er mal Gelegenheit bekommen sollte, mit einem Theologen zu quatschen, würde er als allererstes fragen, warum der Gott und Schöpfer diese Ressource nur bestimmten Menschen offerierte.
In diesem Moment deutete Blondie auf ihn und formte Worte mit seinen Lippen, die Levi nicht hörte. Alarmiert kniff er die Augen zusammen und bemühte sich nicht einmal, einen netten Eindruck zu machen, als der Fremde ihm entgegenkommend winkte. Er ließ entmutigt die Hand sinken, woraufhin Erwin sich für Levis Unfreundlichkeit entschuldigte und dem Schwarzkopf mit einer Geste bedeutete, bitte heranzutreten.
Seufzend stieß Levi sich von der Arbeitsfläche ab, es nützte ja sowieso nichts. Zunächst gesellte er sich nur mit einem gewissen Sicherheitsabstand zu den beiden, dabei musterte er den Kerl noch einmal kritisch. Erst aus dieser Entfernung konnte er sehen, dass die Brillengläser des Neuankömmlings hypnotisierend glänzten. Levi fand das verdächtig.
Skeptisch wandte er sich an Erwin. »Was?«
»Das ist Grischa«, sagte er, seine Miene war eine nie versiegende Quelle der Zuversicht.
Levi schaute Grischa nochmal an, falls ihm entgangen war, dass er ein Superheld, Ritterdetektiv oder der Kronprinz von Spanien war. »Und?«
»Er ist durch Nanabas Hilfe hierhergekommen. Vor einigen Jahren. Ich habe ihn eingeladen«, erzählte er, als würde das auch nur im Ansatz irgendetwas erklären.
Desinteressiert verschränkte Levi die Arme vor der Brust und wandte sich Grischa zu. »Herzlich willkommen in Westdeutschland, Genosse. Hier ist es beschissen. In Wirklichkeit lebt niemand gerne hier, die tun alle nur so.«
Grischa nickte, entweder weil er Levi glaubte oder diese Reaktion ihn derart irritierte, dass ihm nichts anderes übrigblieb.
»Was Levi sagen wollte«, begann Erwin scherzhaft, »möchtest du Kaffee?«
»Das wollte ich nicht sagen.«
»Bring ihm einen Kaffee«, orderte er streng und bat ihn per Augenkontakt, nett zu sein.
»Gerne, lass mich arbeiten, während du faul rumsitzt und mit dem Gesindel schwätzt.«
Levi kehrte mit einer wegwerfenden Geste zum Tresen zurück. Letzten Endes müsste er so oder so klein beigeben, sich also weiter mit Erwin zu streiten, würde ihm nur Ärger einhandeln.
Während er sich um die Bestellung kümmerte, überlegte Levi, was die beiden besprechen könnten. Grischa kam also auch aus dem Osten, ja?
Normalerweise sollte Levi automatisch mit ihm sympathisieren, weil sie dasselbe Schicksal ereilt hatte. Sie hatten nach einem Weg gesucht, ein besseres Leben zu führen, und dafür überschritt man buchstäblich Grenzen. Der Wohlstand lockte. Man erhoffte sich womöglich zu viel, aber man wusste, dass es schlimmer sowieso nicht mehr werden konnte.
Diese eine Gemeinsamkeit reichte Levi aber nicht, um Grischa irgendetwas abgewinnen zu können. Im Gegenteil, er verabscheute alles und jeden, das ihn an seine Flucht erinnerte. Sie machten es nur unnötig schwer, nicht an die vielen schlimmen Dinge zu denken, die er getan und geopfert hatte, um es hierherzuschaffen.
Manchmal fragte Levi sich, wie es gewesen wäre, wenn sie vielleicht nicht in diesen Zug gestiegen wären. Wenn sie nur ein paar Sachen anders gemacht hätten. Dabei waren diese Gedankenspiele total sinnlos. Die Vergangenheit war das, was sie nun einmal war: vergangen. Jeder hat an jenem Tag seine eigenen Entscheidungen gefällt, erinnerte er sich. Es lässt sich nichts daran ändern.
Die Tasse füllte sich mit heißer Sinnlichkeit und Levi stellte sie auf ein Tablett, um sie zu Grischas Tisch zu transportieren. Ohne die beiden Einfaltspinsel groß zu beachten, setzte er den Kaffee auf die Tischplatte und wollte sich wieder abwenden, als er plötzlich etwas hörte, das ihn innehalten ließ.
»Ich frage mich oft, wie es meiner Frau geht. Und dem Jungen. Ob sie wohlauf sind.«
Levi musste verdutzt aufsehen. Hatte er sich etwa verhört?
»Was?«, stolperte es ihm rastlos über die Lippen, er hatte dieses winzige, unhöfliche Wort nicht für sich behalten können. Aber Levi hatte sich verhört, oder? Hoffentlich hatte er sich verhört. Wie es wem ging? Hoffentlich, scheiße, ja hoffentlich hatte Levi sich verhört. Aber Levi verhörte sich nie. Er hatte ein gutes Gehör, das Gehör einer Katze, und dennoch pochte in ihm der Wunsch, ja, dass er sich verhört hatte, bis ihm die Finger kribbelten, Käfer krabbelten darauf herum, wie die Autos über die Straße, es machte ihn wütend. Scheiße wütend. Was? Wie nochmal? Wie es wem ging?
Überrascht schaute Grischa auf, verwundert darüber, dass es Levi tatsächlich interessierte. Kurz darauf legte sich aber wieder ein Schatten über seine Züge. »Es geht um meine Familie.«
Levi schwieg.
»Ich hatte einen kleinen Jungen, zwei Jahre«, fuhr er fort, zwei Jahre. Ein zweijähriges Kind. In diesem scheiß Elend. Mutterseelenallein. »Meine Frau hielt es für zu gefährlich, aber ich musste ...«
»Was musstest du?«, wiederholte Levi mit beißender Kälte in der Stimme, die dem Klima auf dem Jupiter Konkurrenz machte. Er wollte nicht wütend werden. Er wollte nicht wütend werden. Nicht schon wieder vor Erwin. Wollte ihm nicht wieder diese widerliche Seite von sich zeigen. Aber wie konnte man nur so ein scheiß beschissener Mensch sein?
Der Ton, den Levi angeschlagen hatte, schien nun endlich bei Grischa anzukommen. Etwas Ungestümes fand sich in seinen dämlichen Augen. »Ich ... ich musste dort weg.«
»Musstest du ein kleines Kind zurücklassen? In diesem Drecksland?«, zischte Levi mit bitterer Feindseligkeit und packte ihn am Kragen, er konnte gar nicht anders. Scheiß auf Erwin, scheiß auf Anstand. Er wollte Grischa schlagen. Nicht nur schlagen, er wollte ihn in die verdammte Hölle schicken mit seinem scheiß Kind, die Frau konnte einem nur leidtun bei so einem nutzlosen Gatten.
»Ich wollte nicht unbedingt, dass es so kommt«, redete er sich panisch heraus und Levi bildete sich ein, sein Herz dreimal in der Sekunde schlagen zu hören, die Augen blank vor Furcht, es provozierte ihn noch mehr.
Er holte aus, um ihn in die Hölle zu schicken, um ihn in die scheiß Hölle zu schicken. Verdammte Scheiße, fahr zur Hölle! Im letzten Moment wurde er jedoch abrupt von einer Hand an seiner Schulter zurückgehalten. Fast realisierte er es gar nicht, kämpfte gegen die Kraft an, die ihn an Ort und Stelle fixierte.
Ein flüchtiger Blick zur Seite offenbarte ihm, dass es Erwin war, der ihn gepackt hatte, er stand mittlerweile. Anscheinend hatte er die Lage schnell durchschaut und war frühestmöglich eingeschritten, Gott, als ob man einen Schiedsrichter zum Kollegen hätte. Damit Levi diesen verdammten Bastard bloß nicht in die Hölle schickte, in die scheiß Hölle.
»Ganz ruhig, die Herren, wir sind alle zum Spaß hier.« Seine Stimme wurde mahnend, autoritär, drang durch das Rot, das blinde Rot in Levis Kopf, all das Blut. »Wir sind zivilisierte Leute, es gibt keinen Grund, einen Aufstand anzuzetteln. Stimmt's, Levi?«
Der Angesprochene starrte Erwin labil an. Grischas Kragen war nach wie vor in seiner Gewalt. Das Inferno in Levis Inneren verzehrte sich danach, diesen Bastard in die Hölle zu schicken.
»Ich bin das nicht. Ich bin nicht zivilisiert.«
Mit einer zügigen Bewegung versuchte er, sich aus seinem Griff zu lösen, aber Erwin gab kein bisschen nach. »Rede dir so etwas nicht ein. Du suchst nur nach Gründen, andere Menschen zu verletzen.«
Levi bewegte sich nicht. Die Venen unter seiner Haut pochten und sein gesamter Körper wurde von heißen Flammen verschlungen, bis sie auf bloße Asche ausgebrannt waren. Der Flächenbrand schrumpfte zu einem leisen Teelicht zusammen, verendete im bloßen Nichts, weil für Levi alles im eiskalten Nichts endete.
Er ließ Grischa los, ohne sich von Erwin abzuwenden. Blondie nickte anerkennend.
»Gut gemacht«, sagte er sanft und lächelte, die Hand immer noch an seiner Schulter, sicher und fest, auf eine Art und Weise, die nur Levi zu spüren bekam. Sein Daumen strich hart über die Kuhle zwischen Nacken und Schulterblatt und ihm lief ein Schauer über den Rücken, es sollte scheinbar Versöhnung herbeiführen. Levi fühlte sich hundeelend.
Er sah nochmal zu Grischa herunter, in seine beschissene Visage, dieses verängstigte Scheißgesicht. Es machte ihn fast wieder wütend. Zeitgleich ertönte noch einmal Erwins Stimme neben ihm.
»Ich bin stolz auf dich«, sagte er so, dass nur Levi es hören konnte.
Belastet ließ er die Schultern sinken und atmete.
Ein andern Mal, log er sich vor und atmete. Ein andern Mal.
• • •
Auch nach mehreren Runden war Levi sich nicht sicher, ob er das Spielprinzip von »Lügen« verstanden hatte. Erwin hatte es so erklärt: Der erste Spieler sagte an, was für eine Ziffer er legte, der andere musste entweder die gleiche Ziffer hinblättern oder lügen. Das Ganze ging so weiter, bis jemand behauptete, man würde lügen, und je nachdem, ob das stimmte, musste man selbst oder der jeweils andere die gesamten Karten einsacken. Ziel des Spiels war es, alle seine Karten loszuwerden. Klar? Klar.
Levi fand das bescheuert. Aber nicht bescheuert genug, um nicht mitzumachen. Nicht nur, weil er gewissermaßen Gefallen daran gefunden hatte, mit Erwin seine Zeit zu verbringen, sondern auch wegen seines immensen Wettbewerbseifers. Insgeheim hatte Levi eine Schwäche für Konkurrenzkämpfe, besonders jetzt, nachdem Erwin den ganzen Abend nur eine Runde nach der anderen gewonnen hatte. Es war wirklich die reinste Schikane.
Allerdings fachte das Levi nur noch stärker bei dem Versuch an, eine Runde für sich zu entscheiden. Langsam brauchte Levi mal eine Strategie, Scheiße, so kompliziert war dieses Spiel doch nicht. So konnte das nicht weitergehen.
Nachdem Erwin ein weiteres Mal die Karten durchmischt hatte, verteilte er das Deck wieder. Diesmal durfte Levi anfangen. In der Regel durfte das nur der Gewinner, aber sie wechselten sich stattdessen ab, hatte Erwin beschlossen.
»Acht«, murmelte Levi und schob die Karte zugedeckt in die Mitte des Tisches. Es war eine Lüge. Dahinter verbarg sich eine Zehn, seine tatsächliche Acht würde er danach legen. Letztere würde Erwin für eine Lüge halten oder eine Karte legen, die keine Acht war, und dann würde Levi auf den Tisch hauen und sagen, dass er log. Das war seine Taktik.
»Lüge.«
»Es ist die erste Karte«, versuchte er, ihn vom Gegenteil zu überzeugen. Erwin schüttelte nur konzentriert den Kopf. »Warum sollte ich lügen?«
»Ich weiß es einfach«, behauptete er selbstsicher. »Lüge.«
Gefrustet stieß Levi den Atem aus. Dann lehnte er sich vor und deckte die Karte auf, hoffte, dass er vielleicht acht Herzen sehen würde, aber das Papier war mit zehn schwarzen Schippen bedruckt. Ein zufriedenes Lächeln zierte Erwins Lippen, als er die Zeichen wortlos abzählte.
Levi nahm die Zehn wieder an sich. »Du betrügst doch«, warf Levi ihm mit scharfem Ton vor, auch wenn das buchstäblich der Inbegriff des Spiels war.
Erwin ließ sich davon nicht aus dem Konzept bringen. »Es ist nur leicht, dich zu lesen, Levi«, stellte er vergnügt fest und zuckte mit den Filzaugenbrauen.
Das verstand er nicht. Seine Mimik würde er die Lebendigkeit eines Kadavers zuschreiben, der in der Wüste verrottete, was gab es da zu lesen? Levi hatte kein großes Arsenal an Gesichtsausdrücken, gestikulierte auch nicht viel und erst recht hatte er keine komischen Angewohnheiten, wie mit dem Bein zu wippen oder mit den Fingern auf den Tisch zu trommeln. Das machten nur Leute, die ihr Leben nicht im Griff hatten. Woran wollte Erwin bitte seine Spielzüge erkennen?
»Es ist dein Blick«, antwortete er auf die telepathisch gestellte Frage.
Levi schnaubte abschätzig. »Mein Blick?«
»Was soll ich sagen? Deine Augen sind wie ein Gemälde. Sie sprechen mehr als tausend Worte.«
»Sagen sie gerade, dass ich dir deinen Arm rausreißen und dich damit verprügeln möchte?«, zischte er, um seine Verlegenheit zu überspielen, warum machte ihn das verlegen?
»Tut mir leid, ich bin wohl einfach ein hoffnungsloser Romantiker«, lachte er kopfschüttelnd. »Ich sehe die Welt immer durch Buntglasfenster, schätze ich.«
»Wie ein Poet?«, half Levi nach, woraufhin Erwin den Blick senkte. Es schien ihn irgendwie zu rühren, dass Levi sich auf diesen monatealten Witz berief.
»Wie ein Poet vielleicht, ja«, wiederholte er leise, schenkte diesem Moment zu viel Bedeutung. Auch Erwins Augen sprachen gerade mehr als tausend Worte. Funkelnde Topase, die Levi weich werden ließen. »Ich möchte etwas von dir wissen, Levi.«
Dieser Satz allein reichte, um ihn wieder aus dem Rhythmus ihres Gesprächs zu reißen. Wie auf Knopfdruck spannte Levi sich an, Erwins Fragen waren immer schwer zu beantworten. Nicht selten musste er dafür auch die Kisten auf dem Dachboden ausschütten.
»Das Spiel.« Levi bedeutete ihm ungerührt, erstmal eine Karte zu legen. »Dann reden wir weiter.«
Obwohl Erwins Gesichtsausdruck verriet, dass er eigentlich nicht vom Thema abkommen wollte, nickte er kompromissbereit und platzierte eine umgedrehte Karte in die Mitte des Tischs. »Sieben.«
Ohne Eile griff Levi nach der Karosieben in seinem Blatt und tat es Erwin gleich. Seine intelligenten Augen wussten sofort Bescheid, er glaubte ihm. Das demonstrierte er, indem er ebenfalls eine Karte abgab. »Es gibt einen Grund, warum dich das heute so wütend gemacht hat.«
Levi sah flüchtig von seinem Blatt auf. Er erinnerte sich, Grischa hätte diesen Laden normalerweise mit einer neuen Anordnung seiner Knochen und Organe verlassen.
»Ich habe die Nerven schleifen lassen.« Er zog ein schwarzes Ass, das er über Erwins Karte niederließ. »Er hat mich provoziert, nichts weiter.«
»Lüge.«
»Bastard«, fauchte Levi und drehte die Karte herum, um ihm das niederträchtige, vereinzelte Kreuz zu präsentieren. Dann sammelte er alle vier Karten ein und mischte sie unter sein Blatt.
»Der Fakt, dass Grischa seine Familie im Stich gelassen hat, scheint dich verärgert zu haben«, grübelte Erwin wahrheitsgemäß und neigte den Kopf, während er den nächsten Zug vollführte. »Dame.«
»Nur ein Feigling lässt Frau und Kind zurück.« Levi legte einen König, in der Hoffnung, dass Erwin ihn nicht mit seinen alles analysierenden Augen durchschaute. »Ein echter Mann muss für seine Familie sorgen.«
Diesmal kaufte Erwin ihm die Ehrnummer nicht ab. Umso mehr nervte, dass er sich nicht einmal Mühe gab, das zu verbergen. »Lüge.«
Fluchend deckte Levi die Karte auf, zeigte ihm einen Mann mit goldener Krone.
»Er hat sich nach Wohlstand gesehnt«, verteidigte Erwin ihn provokant, »und Demokratie. Kannst du ihm das wirklich derart verübeln?«
Zähneknirschend nahm Levi die zwei Karten an sich. »Jetzt hältst du dich für besonders unantastbar, was? Redest über Demokratie, weil du dich von den Amerikanern schon hast indoktrinieren lassen wie ein Idiot«, spuckte er. »Darum geht es doch gar nicht.«
Ihm war bewusst, dass Erwin die Demokratiekarte nur spielte, damit er aus dem Affekt heraus etwas zu Ehrliches, zu Wahres sagte ─ und Levi war nicht stolz darauf, dass er sich tatsächlich davon austricksen ließ. Er konnte die Dinge nie so auf sich sitzen lassen, hatte das nie gekonnt.
»Ich weiß, wie es ist. Verlassen zu werden«, gab er schließlich zu. Es war nicht viel, kostete ihn aber sehr viel Kraft. »Vor allem als Kind ist das. Ein ziemliches scheiß Gefühl.«
Nachdenklich hielt Levi inne und senkte den Blick, vermied Augenkontakt. Dennoch konnte er problemlos spüren, dass Erwin ihn nach wie vor geduldig anschaute. Er wartete.
Irgendwann raffte Levi sich wieder und platzierte eine Karte in die Mitte. »Sieben.« Eigentlich war das gegen die Spielregeln. Ordnungsgemäß müsste Erwin anfangen.
Er ließ es Levi durchgehen und glaubte ihm, legte ebenfalls seine Karte. »Du kommst selbst aus dem Osten, nicht wahr?«
Levi fühlte sich, als hätte Erwin diese Wunde nicht nur aufgerissen, sondern gleich das ganze Glied mit abgetrennt. Nein, das war gelogen. Diese Wunde blutete schon seit Tagen. Eigentlich hatte sie nie aufgehört, zu bluten. Levi hatte sie nur immerzu ignoriert.
»Hat Nanaba dir das erzählt?«, brachte er hervor und ließ sein Blatt auf die Tischkante sinken.
»Nein. Aber es gab Indizien«, meinte er, bewusst ohne definitive Aussage, weil Levi immer noch nicht klar bestätigt hatte, dass seine Annahme stimmte. »Außerdem weiß ich, dass Nanaba gerne Leute aus dem Osten holt, die sie auch gebrauchen kann. Nichts ist umsonst. Sie helfe den Leuten, sei aber kein heiliger Samariter, sagt sie dann immer.«
Er stieß angestrengt den Atem aus. »Ich wollte nicht, dass du mich verurteilst«, gab er zu und traute sich, Erwin wieder anzusehen. Seine Gesichtszüge wurden weich, gefühlvoll. Jetzt erinnerte er Levi wieder an einen Labrador.
»Wieso sollte ich dich verurteilen?«
»Hör doch auf«, keifte er, verärgert über seine Scheinheiligkeit. »Ich weiß, was ihr hier von uns denkt. Dass wir faul sind und euer Land durch den Dreck ziehen. Und dass wir alle Kommunisten sind.« Er verengte gehässig die Augen. »Die Amerikaner machen euch Idioten weis, dass ihr was Besseres seid, weil ihr aus dem Westen kommt. Deswegen seid ihr arrogant und redet so von oben herab.«
Schwermütig schüttelte er den Kopf. »Du weißt, dass ich so was nicht denke.«
»Kann sein. Aber ich kannte dich nicht, da bin ich eben auf Nummer sicher gegangen.«
Erwin legte die Karten zugedeckt auf den Tisch. »Es muss hart für dich gewesen sein, wieder dort zu sein«, erriet er vorsichtig, weshalb sich in Levi alles zusammenzog.
Erwin wartete nochmal, tastete sich heran, achtsam, stets darauf bedacht, auch wieder einen Rückzieher machen zu können. Ihm war bewusst, dass Levis Inneres zu erforschen in etwa so entspannt wie ein Spaziergang auf einem Minenfeld war.
»Ehrlich gesagt dachte ich auch, du würdest wütend werden, wenn ich dich jetzt nach deiner Herkunft frage.«
Ein Schweigen füllte den Raum, schwer und dicht wie Nebel, den man nicht durchqueren konnte.
Es reichte einfach nicht für Wut.
Die Erinnerung an Mutter, Dresden und seine Freunde berührte ihn gerade nicht. Etwas in Levi hatte sich vor einigen Jahren umgeschaltet und der Schmerz war in bloßes Nichts verwandelt worden. Weil das bloße Nichts einfacher war. Man konnte es leichter zulassen als den Schmerz, den man immer bekämpfen musste. Gegen das Nichts wiederum musste man sich nicht wehren. Und es war immer da. Eine Konstante, auf die man sich verlassen konnte.
»Ich kann nicht. Wütend werden«, gestand er leise. »Wenn ich an die Heimat denke, fühle ich mich. Leer.«
Schmerz mischte sich in Erwins Miene. Levi ertrug das nicht, er wandte den Kopf zur Seite und schloss die Augen.
»Sieh mich nicht so an«, bat er, flehte fast, weil er es wirklich nicht ertrug.
»Du sprichst immer so gleichgültig über die Vergangenheit«, seufzte Erwin nachdenklich. »Gleichzeitig schmerzt es mich, zu hören, wie viel dir diese Welt aufgebürdet hat.« Er verschränkte die Hände wie zum Gebet, es wirkte grüblerisch, wie der Denker. »Ich glaube, es ist wichtig, dass man etwas empfindet, wenn man an solche Dinge zurückdenkt. Sich dem Nichts hinzugeben, ist einfach. Aber man sollte trauern und die Trauer irgendwann vergehen lassen, statt sie einfach zu verdrängen.«
Levi schnaubte verächtlich. »Wo hast du das her? Aus der Bibel?«
»Nein. In der Bibel wäre das viel sperriger formuliert, meine ich«, scherzte Erwin und schmunzelte leicht über Levis gescheitertes Ausweichmanöver. »Ich weiß nicht allzu viel über dein bisheriges Leben, aber ich kann dir sagen, dass auch ich mit vielen Verlusten umgehen musste. Das kann schmerzhaft sein, aber es hilft nicht, sich der Verzweiflung auszusetzen.« Ein Schatten fiel über seine Züge. »Denn da, wo Verzweiflung ist, ist der Abgrund gar nicht so fern. Lass das Nichts nicht gewinnen. Es macht einen krank und einsam.«
Levi schaute ihm direkt in die Augen. In ihrem Meerblau schwamm Verständnis, ein Blick, den sie teilten.
»Lüge.«
Erwin sah ihn mit großen Augen an. Irgendwann verstand er und lehnte sich vor, damit er seine Karte herumdrehen konnte, die keine Sieben zeigte. Erwin hatte gelogen.
»Tja«, lachte er, ein angenehmer Klang gegen die bedrückte Stimmung. »Eiskalt erwischt.«
»Scheiße, du Mistkerl«, fluchte Levi, dabei beobachtete er zufrieden, wie Erwin die Karten einstrich.
»Ein Rausch, nicht wahr?«
Er nickte, atmete aus. »Weiter. Ich will gewinnen.«
Sie spielten noch den ganzen Abend, er versuchte es wieder und wieder, härter und härter, doch so oder so gingen sie an diesem Abend beide als Sieger hervor. Die Trophäe war das neue, bindende Garn, das zwischen ihnen spannte.
• • •
Grischa hatte in diesem Moment frappierende Ähnlichkeit mit einem winselnden Welpen: Sein Rücken war leicht krumm, die Schultern eingezogen und der Blick klebte an der Tischplatte, die sie voneinander trennte. Seine Körpersprache belegte eindeutig, dass er sich in Levis Anwesenheit unwohl fühlte.
Diese Wirkung hatte er auf viele Menschen. Levi besaß einfach eine starke Präsenz. Eine negative Aura, vielleicht. Kriminelle Energie, sagten die Deutschen abwertend, wenn sie an die kriechenden Halbtagsdiebe aus der Unterschicht dachten. Levi gefiel der Gedanke durchaus, dass andere Menschen deswegen einen Bogen um ihn machten. Meistens war er sogar bewusst unhöflich oder vulgär, damit niemand ihm auf den Geist ging. Aber in diesem Moment wurde ihm von Grischas erbärmlichen Anblick schlecht.
»Setz dich gerade hin«, rügte er ihn, weshalb der Idiot leicht zuckte, sich dann aber ergiebig aufrichtete. Seine dunklen Augen verrieten, dass er sich ungerecht behandelt fühlte, ein bisschen wie ein junger Kadett, den man vor versammelter Truppe gemaßregelt hatte. Gleichzeitig drang aber auch Scham durch seine Fassade, weil er trotzdem gehorcht hatte und ihm dazu nicht einmal ein schlagfertiger Konter auf der Zunge lag, den er zurückschleudern könnte.
Levi registrierte das sofort, weil er dieses Gefühl zu gut kannte. Wenn irgendwer meinte, einem Befehle erteilen zu können ─ und es dann auch noch funktionierte! Das Instrument der Einschüchterung konnte eben ein sehr mächtiges sein. Nirgendwo hatte er das besser gelernt als in Dresden.
Dort hatte es eine strikte Hierarchie gegeben, das zeigte sich auch in den großen Institutionen und Genossenschaften. Da hörte man auch immer, was der Vorgesetzte sagte, egal, wie einem der Kopf dabei rauchte. Die Befehlskette war eines der Dinge, die die Menschen in Dresden sehr ernst genommen hatten.
Wenn die Leute sich untereinander bekriegten, sagen wir, ein Jugendlicher mit einem Messer beklaute eine Großfamilie, dann war das deren Sache. Das interessierte die Uniformierten in der Regel gar nicht. Aber mal angenommen, jemand saß in der Bahn und widersetzte sich einer klaren Anweisung ─ das war schon eine andere Hausnummer. Und dann konnte man noch so wütend werden und Aufstand anzetteln und sich als Revolutionär schlechthin aufspielen, am Ende blieb einem nichts übrig, außer mit genau diesem Blick aufzuschauen. Diesem Blick voller Entsetzen und Furcht zugleich, der sagte: Ich werde ungerecht behandelt.
»Ich verstehe nicht recht, was wir zu bereden haben«, stellte Grischa in den Raum, die Stimme zwischen Sturheit und kaum merklicher Urangst zerfahren.
»Erwin hat mich gezwungen, mich bei dir Stück Dreck zu entschuldigen«, antwortete er, auch wenn er sich noch unsicher war, weshalb. Entweder wegen der Beleidigungen, Drohungen oder dem physischen Aspekt, Erwin hatte das nicht näher definiert. (Vermutlich meinte er einfach alles.)
»Bisher machst du das aber nicht besonders gut.«
»Bastard«, zischte er und musterte ihn irritiert. Und so was war verheiratet? Vor Levi auch noch?
Mann. Levi war schon siebenundzwanzig. Das war viel Zeit, was hatte er in all diesen Jahren gemacht? Gearbeitet. Geputzt. Keine Frau kennengelernt. Versuche hatte es geben. Selten, aber es hatte sie gegeben, ein oder zwei.
Levi konnte das einfach nicht. Was er mit »das« meinte, wusste er selbst nicht so genau: Vertrauen, Romantik, Konversation? Er war ja auch nicht zufrieden mit dieser Situation. Immerhin wusste er selbst, dass es langsam Zeit wurde. Sonst würden die Leute noch anfangen, sich Gedanken zu machen.
Gerade wollte Levi die mentale Abwärtsspirale abschütteln und fortfahren, da fiel ihm das scharfe Misstrauen auf, mit dem Grischa ihn bedachte. Als könnte Levi jederzeit aufspringen und ihn wie eine wilde Hyäne reißen. Es war keine Panik, auf keinen Fall, mehr eine eine Art Vorahnung, eine Prophezeiung, als wüsste er einfach, dass Levi noch die Nerven verlieren würde. Vielleicht wegen der Dinge, die Grischa erzählt hatte.
Diplomatisch verschränkte Levi die Hände auf dem Tisch. »Ich will dich erst etwas fragen.«
Grischa schaute achtsam auf, zögerte sichtlich. Dann nickte er skeptisch.
»Weißt du, was ich nicht leiden kann?«, begann Levi trocken, und doch mit strengem Unterton. Als Grischa nichts auf die rhetorische Frage antwortete, kniff er die Augen zusammen. »Menschen, die nicht zu sich stehen. Die Entscheidungen treffen, die sie verbergen und nicht verantworten wollen.«
Grischa schwieg unschlüssig.
»Manche sagen, sie wünschten, sie hätten etwas nicht getan. Wenn sie könnten, würden sie es rückgängig machen«, fügte er hinzu, Grischas Gesichtsausdruck änderte sich. »Aber ich glaube das nicht. Ein Teil von dir will das, für das du dich letztendlich entscheidest. Es ist der Teil, der überwiegt. Auch wenn du dich schämst, ich weiß, dass du in Wahrheit nichts ändern würdest.«
»Ich schäme mich nicht!«, platzte es aus ihm, es hatte ihm scheinbar auf der Seele gebrannt. »Ich habe nie gesagt, dass ich mich schäme.«
Verwundert hob Levi beide Augenbrauen.
Grischa atmete aufgeregt aus. Seine Augen brannten, während er Levi resolut in die Augen sah. »Ich habe es so gewollt. Egal, was es kostet.«
In diesem Moment hatte Levi das Gefühl, er würde in einen Spiegel schauen. Dieser starke Wille, diese Trotzhaltung gegen die ganze Welt, diese maßlose Selbstüberschätzung. Grischa erinnerte ihn an sich selbst vor einigen Jahren. Und Levi kam bekanntlich nicht mit Leuten aus, die ihn an sich selbst erinnerten.
»Ich verstehe«, murmelte er vor sich hin und rieb sich das Kinn. Er spielte mit dem Gedanken, Grischa vielleicht doch zu hauen. »Gut«, quetschte er heraus und verwarf die Vorstellung. »Tut mir leid.«
»Das war's? Das soll eine Entschuldigung sein?«, entgegnete er, kapierte gar nicht, was diese drei Worte für eine Herausforderung waren, weil sie nichts bedeuteten. Weil Levi eigentlich lieber Dinge sagte, die er auch so meinte.
»Was erwartest du denn von mir?«, blaffte er unbeeindruckt, bis er realisierte, dass Grischa nun verstanden hatte. Er hatte verstanden, dass diese Entschuldigung sein Trumpf war. Dass sie voraussetzte, das nach seinen eigenen Regeln gespielt wurde. Weil Levi das nicht aus Spaß, sondern wegen Erwin tat, seinem Chef, der das erwartete. In diesem Szenario konnte Grischa sich frei bewegen, er die Dame, Levi nur der von ihm flankierte Bauer.
»Was tut dir leid?«, fragte Grischa plötzlich ganz gelassen, als hätte sich ein Schalter in ihm umgelegt. Jetzt merkte Levi es auch, ja tatsächlich, ein Rollentausch.
Er hasste das. Und er hasste Grischa. Nein, Grischa hatte ihm nichts getan. Er hasste Grischa nicht. Das war er gar nicht wert. Hass bewahrte man für Leute auf, die einem etwas Wichtiges genommen hatten. Wie die Stasiwichser. Nicht so jemand Irrelevantes wie Grischa.
»Tut mir leid«, wiederholte Levi langsam, »dass du ein egoistisches Stück Dreck bist.«
Überrascht zog Grischa sich zurück.
»Tut mir leid, dass du ein nutzloser Ehemann und Vater bist«, fügte er kühl hinzu, stand bedrohlich auf. »Tut mir leid, dass du blind und ein Heuchler bist. Tut mir leid, dass deine Mutter so einen nutzlosen Dreck wie dich auf die Welt gebracht hat, anstatt sich einen Kleiderbügel unten reinzuschieben.«
Das Spiel ist nicht gerecht, dachte Grischa sicherlich. Das ist gegen die Regeln, ein ungültiger Spielzug. Aber Levi hatten Regeln nie sonderlich viel bedeutet.
»Und das sage ich dir vom ganzen Herzen«, betonte er, nicht in der Laune für eine weitere Runde. Er hatte nichts gelernt, er hatte nichts von Erwin und seiner Unerschütterlichkeit gelernt, er hatte nichts über Entschuldigungen und Geduld gelernt, er war immer noch genau derselbe. Und Grischa bewies ihm das einwandfrei und lückenlos, er hasste Grischa.
Jetzt hatte er es geschafft, er hatte Levi etwas gegeben, etwas gegeben zum Hassen. Er hatte es gewagt, ihn daran zu erinnern, dass es nie anders sein würde. Dass seine nie vergangenen Dämonen ihn immer einholen würde, dass Dresden immer in ihm schlummern und in den grässlichsten Gewändern wieder aufkreuzen würde. Das würde immer so bleiben und daran konnte kein Erwin, keine Hanji und auch keine Petra etwas ändern. Er würde immer zurückfallen, ein Schritt vor, zwei zurück.
»Verschwinde sofort aus meinem Laden«, befahl er aufgebracht, Grischa hatte seine Position wiedergefunden. Er stand vorsichtig auf, sah Levi noch kurz an, dann ging er endlich.
• • •
An diesem Abend war der Himmel klar und hell erleuchtet von den kleinen Sternen, deren verwunschener Glanz es trotz Millionen von Lichtjahren Entfernung hierher schaffte. Levi fand die Vorstellung, dass es dort draußen noch so viel gab, das sie nicht kannten, sowohl faszinierend als auch angsteinflößend.
Zunächst war er skeptisch gewesen, als Erwin vorgeschlagen hatte, spazieren zu gehen. Es war kalt und ihr Atem formte weiße Strudel, die in die Atmosphäre aufstiegen, doch entgegen seiner Erwartung war es entspannend, die glitzernden Konstellationen am Himmel zu zählen.
Neben ihm schwadronierte Erwin irgendetwas über die Bilder, die die Sterne ergaben, aber Levi fand das total dämlich. Man könnte sie völlig willkürlich miteinander verbinden, natürlich ergaben sie dann irgendwann eine Form. Wenn Levi sich Mühe gab, konnte er die Sterne so nachfahren, dass sie auch tatsächlich einen kleinen Bären ergaben, und nicht dieses lausige Viereck mit Zipfel, das diesen sehr irreführenden Namen trug.
»Wenn du ein Auge zumachst, sieht das aus wie ein Dinosaurier«, schnitt er Erwin ungestört ins Wort und zeigte auf eine Stelle am Himmel, auch wenn das bei derart vielen Sternen wohl kaum zur Orientierung verhalf.
Trotzdem folgte Erwin seiner Bewegung und versuchte, mit Ach und Krach etwas zu erkennen. »Ich sehe es nicht.«
»Doch, wenn du«, er unterbrach sich selbst und stupste Erwins Kinn, um seinen Kopf in die Richtung zu drehen. »Guck doch.«
Erwin lachte herzlich. »Du hast wahrlich eine blühende Fantasie.«
Normalerweise würde Levi sich jetzt wieder verteidigen, aber er hatte gar nicht das Bedürfnis dazu. Als Außenstehender war es wohl wirklich schwer, einen Dinosaurier zu erkennen. Vielleicht war es ja auch nur Wunschdenken gewesen und es gab keinen Dinosaurier.
Eine Weile betrachtete Erwin ihn still. Senkte den Blick. Lächelte.
»Was?«, machte Levi.
»Nichts.«
»Sag doch.«
»Ich sage doch, es ist nichts.«
Levi wartete noch einen Moment. Nur für den Fall, dass er es sich anders überlegte. Aber Erwin blieb bei seinem heimlichtuerischen Schweigen.
Daraufhin seufzte Levi nur. Er hatte einen langen Tag gehabt, jetzt ließ er sich ganz sicher nicht von Erwin ärgern. Überraschenderweise half ihm der Spaziergang dabei. Es war nicht schlecht, sich ein wenig die Beine zu vertreten und dabei über brennende Himmelskörper zu reden, die einem reibungslos die Haut vom Körper ziehen könnten.
Ein Teil von ihm genoss die Nacht, ein anderer wusste, dass sich dieses Gefühl nicht halten würde. In wenigen Minuten würde sowieso alles zum Alten. Eine Angst, die ihn immer begleitete. Selbst wenn sich etwas gut anfühlte, wusste er, dass es sich im nächsten Moment verflüchtigen würde. Und das machte es so schwer, irgendetwas im Leben auch mal in vollen Zügen auszukosten.
»Woran denkst du?«, drang es sanft durch Levis Gedankengänge, während die Resignation über ihn herfiel.
»An den Dinosaurier«, redete er sich heraus und wollte sich dafür am liebsten selbst gegen die Stirn schlagen.
Erwins Augenbrauen rückten zusammen. »Ach, ja?«
»Ich mag Dinosaurier«, log Levi, er interessierte sich kein bisschen für Dinosaurier. Stinkenden, gigantischen Reptilien konnte er nicht wirklich etwas abgewinnen. Abgesehen von Hanji, vielleicht.
»Sicher? Und welcher ist dein Liebster?«
Überfordert hielt Levi inne. »Alle.«
»Nenn mir einen.«
Er überlegte. »Der mit den kleinen Armen.«
»Du hast keine Ahnung von Dinosauriern.«
»Gut, du hast mich. Ich hab gelogen«, gestand er. »Und? Dein Punkt?«
»Es gibt keinen Punkt«, behauptete Erwin und zuckte unschuldig mit den Achseln. »Aber du wirkst ein wenig neben der Spur. Du hast dich nicht recht mit Grischa verstanden, oder?«
Ja, Grischa hatte ihn schon etwas aus der Bahn geworfen, auch wenn er das nicht gerne zugab. Nicht Grischa selbst, sondern eher die Bestätigung, dass Levis Leben ein Kreisverkehr war, den man nicht verlassen konnte. Jedes Mal, wenn sich die Möglichkeit ergab, vielleicht eine Ausfahrt zu nehmen, fuhr er doch einfach stur weiter.
»Er hat mich wütend gemacht«, kehrte Levi wieder zu ihrem Gespräch zurück und vermied es, Erwin anzusehen. »Ich habe ihn beleidigt und rausgeschmissen. Hab gesagt, dass seine Mutter ihn hätte abtreiben sollen.«
»Das ist nicht nett.«
»Und ich finde nicht, dass ich irgendwas falsch gemacht habe«, beharrte er darauf und runzelte die Stirn. »Ich bin auch kein heiliger Samariter«, imitierte er Nanaba, »dass ich mit Entschuldigungen um mich werfen kann.«
»Es ging eigentlich auch nicht um die Entschuldigung«, erklärte Erwin unzufrieden über das Ergebnis seiner Intrige. »Aus irgendeinem Grund dachte ich, wenn du mit jemandem redest, der dich versteht, würde dir das gut tun ... Aber da lag ich wohl daneben.« Total daneben. »Also ist es gewissermaßen auch meine Schuld.«
Levi schnaubte. »Gewissermaßen? Es ist zu hundert Prozent deine Schuld.«
»Mea culpa, mea maxima culpa«, sang er melodramatisch und schlug sich theatralisch gegen die Brust, Levi verstand kein Wort.
Fragend drehte er den Kopf herum. »Italienisch?«
»Fast. Latein.« Erwin schmunzelte. »Du hast du es nicht so mit der Religion, oder irre ich mich?«
»Stimmt. Aber«, er machte eine kurze Pause, »wir haben es alle nicht so mit der Religion. Drüben.«
Im Osten glaubte man nicht. Das war nicht gerne gesehen. Die Religion widersprach der Ideologie, sie war Fremdgut. Gehörte nicht dorthin.
Bedröppelt wandte Erwin sich ab. »Aber du denkst, ich kann Italienisch?«
Levi hielt inne. »Schon.«
Eigentlich fiel es ihm sogar schwerer, zu denken, dass Erwin irgendetwas nicht konnte. Levi hatte die etwas absurde Theorie, dass Erwin in Wahrheit alles wusste, es aber verbarg, weil er sonst wie die Hexen in der Renaissance enden würde. Damit also nicht alle merkten, dass er seinen Mitmenschen weit voraus war, behielt er seinen Intellekt größtenteils für sich. Eine ungerechte Strafe dafür, klug und besonnen zu sein.
Schon öfter hatte Levi deswegen mit dem Gedanken gespielt, Erwin nach irgendwelchen Sachen zu fragen, zum Beispiel was für Baumarten es gab oder wie das Universum entstanden ist, aber er fürchtete sich ein wenig davor, dass seine Vermutung stimmen könnte. Also beließ er es lieber dabei. Levi glaubte nicht ans Schicksal, aber er forderte es auch nicht heraus. Sonst endete er auch wie die Hexen.
»Kannst du denn Italienisch?«, wagte er sich trotzdem hervor und wartete mit Ehrfurcht.
Ein Lächeln zierte seine Lippen. »Un pochino«, antwortete er und machte eine Geste, die die Worte mit »ein bisschen« übersetzte.
Levi kniff die Augen zusammen. Er wusste wirklich alles. Psychopath.
»Und wie«, er stoppte kurz, wollte Erwin nachahmen, »hast du es mit der Religion?«
»Ich weiß nicht recht«, murmelte Erwin nachdenklich und schaute auf zu den Sternen, als würde er in ihnen einen Hinweis finden. »Unser Verständnis vom Glauben ist eingeschränkt und eng, ein bisschen wie eine Sackgasse. Besser ausgedrückt, die Religion ist für mich ein viel zu starrer Rahmen. Ich glaube, man kann sich in ihr nicht frei bewegen.«
Levi nickte. Für ihn kam nichts davon unerwartet. Erwin war ein Freigeist, jemand, der seine Ansichten nicht durch gegebene Normen, Interessen oder Vorurteile eingrenzen ließ.
»Glaubst du den Gott?«
»Ich bin Agnostiker«, antwortete Erwin und verschränkte die Arme hinterm Rücken. »Es gibt Dinge, die sich nicht erklären lassen. Für mich ist die Idee, sie alle mit Gott zu rechtfertigen ... viel zu einfach. Sie nimmt der Welt das Fantastische und verschließt Türen. Türen, hinter denen Unglaubliches lauern könnte.«
Zwar mochte er es nicht merken, aber in diesem Moment bewunderte Levi ihn ein bisschen. Erwins wohl artikulierte Worte berührten ihn auf eine seltsame Weise, die er nicht verstand, schickten Wärme durch seine Brust und entführten ihn in eine fremde Welt. Er wusste nicht, ob auch nur eines davon überhaupt eine Antwort auf seine Frage war, aber es machte ihm nichts aus. Erwin redete gerne, manchmal zu viel, manchmal zu wenig. Damit konnte er leben.
Ein angenehmes Schweigen machte sich wieder breit, es passte zu dieser stillen Nacht. Eissplitter ragten zwischen den Steinen hervor und animierten Levi dazu, seinen Mantel enger um sich zu schlingen. Ausgelassen sog er die Wärme des Stoffs in sich auf und schloss die Augen. Er fühlte sich gerade seltsam gut. Das grundsätzliche Misstrauen gegenüber diesem Gefühl war nach wie vor präsent, es verschwand nicht, nie, aber für diesen einen kurzen Moment fühlte er sich irgendwie ... gut.
»Kehren wir um?«, fragte Erwin, als ihm auffiel, dass Levi bereits etwas fröstelte. Sein Nebenmann nickte leise in seinen Kragen, woraufhin sie beide die Richtung wechselten. »Ach, da fällt mir etwas ein. Ich wollte dir noch Bescheid geben.«
Levi spitzte die Ohren.
»Ich werde morgen einer Beerdigung beiwohnen«, verkündete er keineswegs feierlich, aber auch nicht unbedingt niedergeschlagen. »Die Frau vom Reiss ist gestorben«, erklärte er, bevor Levi fragen konnte. »Ich kannte sie kaum. Ich glaube, dir kann ich offen gestehen, dass ich rein aus Anstand dort hingehen werde, nicht weil mir das besonders am Herzen liegt.«
Ihre Schritte verhallten zwischen den Fassaden.
»Kann ich mitkommen?«
Verwundert drehte Erwin den Kopf herum. Kurz hing Stille zwischen ihnen.
»Mitkommen?«
Levi zuckte die Achseln. Ihm fielen sehr viele Fragen ein, die Erwin sich potentiell stellen könnte, das Wieso, das Warum, was er da denn sollte? Aber diese Fragen mussten nicht gestellt werden, weil Levi sie ihm nicht beantworten könnte. Es gab keinen Grund dafür, als Fremder einer Beerdigung beizuwohnen. Man tat es einfach oder eben nicht.
Während Erwin seine Entscheidung abwägte, verfestigten sich seine Gesichtszüge. Aus Stein gemeißelt.
»Ich hätte prinzipiell nichts dagegen einzuwenden«, beschloss er, schien aber nach wie vor zu grübeln. Wie eine Statue. Der Denker.
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Neue Version. :* Danke fürs Lesen. Alles Liebe! <3
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