
Kapitel 3: Eine Fee
Aus irgendeinem Grund hatte Levi angenommen, dass Erwin vor Glückseligkeit explodieren würde, wenn sie ihren ersten Kunden bedienten, und er als Witwe dann seine Organe von den Wänden kratzen und verhökern müsste. Jedoch blieb Blondie entgegen seiner Erwartung so gefasst wie immer. Schade, Levi hatte sich wohl falsche Hoffnungen gemacht.
»Kann ich Ihnen sonst noch etwas bringen?«, klang Erwins freundliche Floskel bis zum Tresen nach, wo Levi die Interaktion gelangweilt verfolgte. Ein seniler Hutträger und eine alte Schabracke hatten am Fenster Platz genommen und genehmigten sich widerlichen Filterkaffee.
Die Leutchen lehnten das Angebot ab und Erwin kam zurück zu Levi hinter den Tresen, bevor er das Tablett auf die Arbeitsfläche abstellte. »Ist das nicht großartig?«, schwärmte er und fasste sich an die Stelle, wo sein Herz schlug.
»Greise, die Kaffee trinken, echt zum Schreien, Erwin.« Amüsiert neigte Levi den Kopf. »Zumindest triffst du mal Leute in deinem Alter.«
Erwin schüttelte bloß den Kopf. »Normalerweise wäre ich sauer auf dich, aber du kannst mir meine gute Laune heute nicht verderben.«
»Die Herausforderung nehme ich an.«
Erwins dunkle Augenbrauen schoben sich zu einem hypotenusenlosen Dreieck zusammen. »Du bist ein Sadist.«
»Ist genetisch veranlagt«, äffte er ihn nach, woraufhin Erwin beleidigt zum Konter ansetzte.
»Das ist ungerecht, du kannst mir nicht einfach meine Witze klauen.«
Gelangweilt lehnte Levi sich gegen den Tresen und beobachtete seinen Chef aus dem Augenwinkel. In letzter Zeit erwischte er sich öfter bei dem Versuch, Erwin zu lesen. Die meisten Menschen waren wie offene Bücher, nicht immer zu verstehen, doch Levi konnte ihre Emotionen und Interessen zwischen den Zeilen erahnen. Bei Erwin war das anders. Er war auf einer anderen Sprache und verkehrt herum geschrieben mit vielen, verschiedenen Zeichen, die Levi nicht kannte, und das, was er verstand, führte nur zu noch mehr Rätseln.
Wahrscheinlich wurde es bloß schlimmer, je mehr Gedanken Levi daran verschwendete, aber er würde zu gerne wissen, was in diesem Kopf vorging.
»Das mit deinem Traum«, setzte er an, hielt inne. »Dieser emotionale Scheißdreck, den du erzählt hast, um mich zu überzeugen, auch wenn er mich offensichtlich nicht überzeugt hat. Stimmt das eigentlich?«
Ein leises Lachen ertönte von seiner Seite. »Größtenteils. Aber mein wahrer Traum ist ein bisschen größer als dieser Verkaufsraum.« Er ließ den Blick durch das Café schweifen, es hatte etwas Dramatisches an sich. Als würde er dahinter den Scheiben eine unbekannte Welt erahnen, die für Levi unsichtbar war.
»Du Blender«, klagte er, fühlte sich betrogen. »Gehört das Haus überhaupt dir?«
»Gewissermaßen. Sagen wir es mal so, ich habe es noch nicht geerbt.« Als Levi ihn daraufhin mit einem strengen Blick folterte, fügte er hinzu: »Mach dir einfach nicht zu viele Gedanken darüber.«
Levi verschränkte die Arme vor der Brust. »Du belügst mich ab jetzt nicht mehr. Ich meine nicht, dass du mir ab jetzt alles über dein scheiß uninteressantes Leben erzählen musst. Aber wenn du mir etwas sagst, muss es wahr sein. Sonst kann ich dir nicht trauen.«
»Du möchtest mir trauen?«
»Wenn ich es kann, ja«, erwiderte er. »Aber zurzeit tue ich das nicht. Also solltest du mir besser einen Grund dafür liefern. Bis dahin werde ich alles, was du tust und sagst infrage stellen.«
»Harte Konditionen«, seufzte Erwin und fasste sich ans Kinn, was ungeheuer dämlich aussah. »Aber ich möchte mir dein Vertrauen verdienen.« Entschlossen schaute er zu Levi herunter. »Ich verspreche, dass ich dich nicht mehr belügen werde. Egal, um was es geht.«
Levi quittierte das mit einem befriedigten Nicken und schwieg.
»Weißt du, was lustig gewesen wäre?«
Desinteressiert schob Levi sich zur Arbeitsfläche und begann, die Tassen in den Schränken zu sortieren.
»Wenn du gesagt hättest: ›Und woher weiß ich, dass du jetzt nicht lügst?‹«
Ein peinliches Schweigen entstand, nur unverständliches Murmeln und das Klirren von Porzellan füllten den Raum, während Levi eine Tasse nach der anderen an den Rand des Schranks schob. Beinahe hätte er so tun können, als hätte Erwin sich in Luft aufgelöst, doch er zog mittels Räusperns noch einmal seine Aufmerksamkeit auf sich.
»Fürs Protokoll: Ich würde immer über deine Witze lachen, fernab davon, ob sie tatsächlich lustig sind. Weil gute Freunde das so machen.«
Jetzt hätte Levi tatsächlich fast gelacht. »Da ramme ich mir lieber eine Gabel ins Bein.«
»Eine Gabel? Ins Bein?«, wiederholte Erwin verstört. »Das ist ein sehr spezifisches Szenario, ist das jemals ─«, setzte er an, unterbrach sich aber selbst im letzten Moment. »Weißt du was? Ich will es eigentlich gar nicht wissen.«
Levi antwortete darauf nichts. Im Augenwinkel konnte er sehen, wie Erwin tadelnd den Kopf schüttelte, während er nochmals »Eine Gabel« vor sich hinmurmelte.
• • •
Das erste Mal spannend wurde es für Levi, als er einen zwielichtigen, dicklichen Anzugträger eintreten sah. So in etwa stellte er sich auch reiche Leute vor, nichtsnutzig und verfressen, daher war ihm unterbewusst sofort klar, dass es sich um einen von Erwins widerwärtigen Geschäftspartnern handeln musste.
Sobald der Fremde sich an einem der Tische niederließ, horchte Erwin auf, was Levis Vermutung nur bekräftigte. Als Levi das Geschirrtuch in seiner Hand beiseitelegte und vortrat, hielt ein Griff an seiner Schulter ihn sachte zurück. Verwundert sah er zu Erwin auf, der daraufhin nur ernst dreinschaute. »Ich mache das.«
Um ehrlich zu sein, wusste Levi nicht, ob er das Erwin zutraute. Er strahlte keinerlei kriminelle oder bedrohliche Energie aus, besaß das Antlitz eines geachteten Akademikers und wirkte dabei so besonnen wie ein unbeschwertes Schneeflöckchen, das einfach im Wind rieselte und Purzelbäume schlug.
Vielleicht war aber auch gerade dieser täuschende Eindruck seine mächtigste Waffe, denn für den einfachen, naiven Menschen sendete er das sicherheitswiegende Gefühl von Vertrauen und Zugänglichkeit aus. Vielleicht erkannte Levi sich etwas darin wieder. Auch er war öfter als harmlos abgetan worden, weil er, was seine Körpergröße anbelangte, etwas unter dem Durchschnitt lag. Er sollte ihn besser nicht unterschätzen.
Erwin fasste Levis Nicken als gutes Zeichen auf und schenkte ihm ein bedeutendes Lächeln, was natürlich gekonnt ignoriert wurde. Während Erwin zu ihrem fälschlichen Kunden herüberging, behielt Levi ihn stets im Auge.
Die beiden spielten erstmal den typischen Höflichkeitsakt durch, das klassische Einstiegsgespräch, um einen gebrechlichen Draht aufzubauen. Der Fremde bekam auch einen lieblos zubereiteten Filterkaffee von Levi, fast hätte er reingespuckt, aber dafür hätte Erwin ihn sicher gemaßregelt. Erst danach ging Erwin zum Verhandeln über.
Trotz seines guten Gehörs verstand Levi nur einige Wortfetzen ihres Gesprächs, was ihn mit Neugierde am Tresen zurückließ. Mit der Zeit hatten sie doch noch einige Kunden angesammelt, weshalb er über das gemütliche Geplauder hinweg nur etwas über Edelmetalle hörte. Offenbar waren die im Osten sehr gefragt.
Da sie es nie mit größeren Mengen über die Grenze schaffen würden, ging Levi davon aus, dass es nicht um die Quantität ging, sondern um die Seltenheit jedes einzelnen Metalls. Man könnte sie in einem Käfer verstecken und hoffen, dass diese Vollidioten nicht so genau hingeschaut haben, wie sie behaupteten.
Angeekelt beobachtete Levi, wie sich die Lippen des Mannes zu einem schmierigen Grinsen verzogen, als hätte Erwin etwas wahnsinnig Tolles gesagt. Oder was Versautes. Letzteres machte angesichts des Kontextes nicht viel Sinn, also verwarf er die Idee.
Levi entging fast, dass eine weitere Kundin den warmen Verkaufsraum betreten hatte. Ihr rotblonder Bob umspielte ihr feines Gesicht und ihre Ohren und Wangen schimmerten rosa, vermutlich von der Kälte. Da sie sich eher unsicher umschaute, fragte Levi: »Kann ich Ihnen helfen?«
Überrascht wandte sie sich ihm zu und schritt an den Tresen heran. »Morgen«, grüßte sie mit einer Stimme, die floss wie Honig. »Früher konnte man hier guten Kaffee bekommen, sagt man.«
»Und das ist heute noch so.« Levi drückte die Schultern zurück, um sich etwas lockerzumachen. »Was kann ich Ihnen bringen?«
»Ah, ich möchte schnell wieder verschwinden, deshalb nur einen Espresso, bitte«, orderte sie freundlich und setzte sich auf einen der hohen Hocker am Tresen, Levi nickte und machte sich ans Werk.
Mit einem Löffel kratzte er die Überbleibsel aus der Kaffeemühle, bevor er sie ins Sieb presste. Anschließend schnappte er sich eine Tasse und stellte sie auf das Gitter der Abtropfschale. Levi hatte sich mittlerweile an die Prozedur gewöhnt und drückte das Sieb bereits in den drehbaren Verschluss, sodass sich die winzige Tasse mit cremigem Espresso füllte. Dann setzte er den Kaffee mitsamt Untertasse vor ihr ab.
Ein zartes Lächeln zierte ihre kirschfarbenen Lippen. »Danke schön.«
Höflich nickte Levi ihr zu und versuchte über ihre Schulter hinweg, etwas von dem, was die beiden Männer absprachen, mitzubekommen ─ allerdings erhoben sie sich beide bereits, und das nach gerade mal knapp zwanzig Minuten.
Levi fluchte leise, als Erwin sich verabschiedete, und spürte kurz darauf die stechenden Augen der Frau gegenüber von ihm auf sich. »Wie bitte?«, hauchte sie.
Da er in ihre Richtung schaute, musste sie glauben, seine Beleidigung wäre an sie gerichtet gewesen.
»Nicht Sie«, beschwichtigte er den Rotschopf und deutete mit dem Kopf zu seinem Chef. »Mein Kollege faullenzt dort drüben.«
Sie wandte sich um, immerhin wollte sie sich von dieser Notlüge auch selbst überzeugen. Verständnisvoll nickte sie und schenkte Levi wieder ihre Aufmerksamkeit. »So was kann einen schon ärgern, aber das war ein hartes Schimpfwort.«
Er schnaubte. Wenn die wüsste. »Glauben Sie mir, er hat es verdient«, seufzte er, während er die Arme kerzengerade auf den Tresen stützte.
»Wie war noch gleich Ihr Name?«
Einige Sekunden hielt er inne. »Ich würde mich daran erinnern, ihn erwähnt zu haben.«
»Dann wird es Zeit, ihn zu erfahren.«
Selbstbewusst, dachte er. So etwas konnte er durchaus anerkennen.
»Levi«, gab er widerwillig von sich, in letzter Zeit hatte er sich schon zu oft jemandem vorgestellt. Es war befremdlich, aber nicht schlecht.
»Petra«, setzte sie dem wie ein Argument entgegen, ihre goldbraunen Tigeraugen funkelten lauernd.
Initiative. Das gefiel ihm.
Da Levi dem nichts hinzuzufügen hatte, schwieg er. Wieder an seine Arbeit erinnert, widmete er sich der Kaffeemaschine und säuberte das Sieb und die Abtropfschale, bis Erwin sich zu ihm gesellte. »Und?«, sagte er leise, dabei versuchte er mehr oder weniger erfolgreich, seine Wissbegierde zu verbergen.
»Edelmetalle. Auch in geringen Mengen kann das durchaus lukrativ sein«, erzählte Erwin schulterzuckend. »Er will eine Anzahlung, weil er uns nicht kennt.«
»Aber wir haben kein Geld.«
»Geduld«, riet er mit der Stimme eines unerschütterlichen Philosophen. »Es gibt niemanden, der ihm das Zeug für den Preis abkauft. Also lehnen wir uns zurück und warten.«
»Warten?« Levi ließ er das Gitter für die Abtropfschale sinken und schaute in Erwins voll entspanntes Gesicht. »Ich will dich ungern an unsere wirtschaftliche Lage erinnern. Sie ist nicht berauschend.«
»Er wird zur Vernunft kommen. In der Zeit können wir ja auch mit anderen Leutchen reden.«
Levi warf das Gitter ins Waschbecken und schüttelte seine nassen Hände aus. »Diese fetten Säcke haben Geld ohne Ende und scheißen sich trotzdem ein, sobald sie auch nur ein bisschen Kohle verlieren könnten.«
Ein Schulterblick verriet ihm, dass Petra im Gegensatz zu diesem Mistkerl noch nicht abgehauen war. Sie drückte noch einen Schein in das leere Schnapsglas vor sich und warf die Handtasche über ihre Schulter, bevor sie knapp Levis Augen einfing.
Erneut verpasste der Rotschopf ihm ein strahlendes Lächeln, was Levi dazu drängte, sich wieder wegzudrehen. Auch wenn er nichts Schlimmes getan hatte, fühlte er sich ertappt.
»Was war das denn?«, fragte Erwin mit einem Ton, der zwischen Amüsement und Herablassung zerrissen war.
»Eine Frau«, antwortete Levi nüchtern.
»Kennst du sie?«
Wusste Erwin, dass er sich wie eine Tratsche anhörte?
»Nein«, erwiderte er ohne jegliche Wertung darin. Alles andere wäre zu persönlich, es ging Erwin nichts an.
»Ah«, schloss er das Thema völlig neutral ab, Levi fand es sofort komisch.
»Ich kenne sie nicht.«
»Gewiss doch.«
»Wir haben nur kurz geredet. Weil ich nett zu den Kunden sein soll. Hast du gesagt.«
»Gut gemacht.«
»Sie hat gesagt, sie heißt Petra. Und ich habe über dich gelästert.«
»Letzteres gefällt mir natürlich nicht, aber ich finde es schön, dass du Kontakte knüpfst.«
»Gut.«
»Gut.«
Sie schwiegen. Es war kein gutes, gemeinschaftliches Schweigen wie sonst, sondern ein merkwürdiges, unangenehmes, das vor Unvollkommenheit und Uneinigkeit strotzte. Als fehle etwas. Ein Wort, ein Gefühl.
»Nochmal zum Geschäftlichen«, wechselte Levi das Thema und stützte sich gegen die Arbeitsfläche. »Es gibt da etwas, das ich dich noch fragen wollte.«
»Heben wir uns das für später auf. Konzentrieren wir uns auf die Arbeit.«
• • •
Wenn Levi aß, tat er das heimlich und nur zwischendurch, er war kein Genießer. Für ihn zählte nur die reine Funktion der Nahrungsaufnahme, nämlich die Energiezufuhr. Aus diesem Grund war es auch eigenartig, ausnahmsweise gegenüber von Erwin zu sitzen, statt sich wieder nur etwas aus der Küche zu schnappen und es schnell beim Treppenlaufen ins untere Stockwerk zu verdrücken.
Levi konnte sich kaum erinnern, wann er das letzte Mal zusammen mit jemandem gegessen hatte. Auch Erwin schien es unbehaglich zu sein, denn der schaute Levi schon seit einigen Minuten irritiert an. Es war komisch, Levi mochte es nicht, beim Essen beobachtet zu werden.
»Was ist?«
Aus seiner Trance fallend, schüttelte Erwin den Kopf. »Obwohl wir schon seit einer Weile zusammenleben, habe ich dich nie essen sehen.«
Auch das half Levi nicht auf die Sprünge. »Und?«
»Irgendwie dachte ich, dass jemand wie du«, er suchte nach dem richtigen Ausdruck, »etwas appetitlicher isst. Du schlingst ein wenig.«
Beschämt ließ Levi das Brot in seiner Hand sinken und zählte die Krümel auf seinem Teller. »Alte Angewohnheit«, murmelte er und wischte sich über die Lippen.
»Ich verstehe.«
Später räumte Levi den Tisch ab. Da es immer er war, der saubermachte, musste Erwin mit der Zeit ein schlechtes Gewissen bekommen haben, weswegen er ihm auch mal zur Hand ging und die Teller, das Besteck und die Gläser spülte. Erfreut über die Hilfe nahm Levi ihm eins nach dem anderen aus der Hand und trocknete das Geschirr sorgfältig ab. Für einen Moment fühlte es sich an, als würden sie eine Einheit bilden.
Nachdem Levi alles wieder in die Schränke geräumt hatte, stellte er fest, dass Erwin bereits ins Wohnzimmer gegangen war. Im Normalfall hätte Levi sich in sein Zimmer verzogen und aus Langeweile über Petra nachgedacht oder sogar eines von Erwins Bücher gelesen, doch dann fiel ihm auf, dass sie ihr Gespräch im Café noch nicht beendet hatten.
Zögernd schaute er durch den Türrahmen und beobachtete den Blondschopf, der an seinem Schreibtisch thronte und wieder irgendetwas schrieb. Ohne länger nachzudenken, stellte er sich an Erwins Seite und überflog das Papierchaos auf der Holzplatte. Das war die einzige Unordnung, die Levi nicht beseitigte. Er hatte das Gefühl, das stände ihm nicht zu. Der Schreibtisch.
»Es ist nicht leicht, Ware in den Osten zu transportieren«, griff er nochmals das Thema auf und lehnte sich gegen die Kante des Tisches. »Wie gehen wir vor?«
Erwin erinnerte sich scheinbar und schaute zu Levi auf. »Wir fahren dorthin. Über die offiziellen Straßen.«
Levi verschluckte sich fast an seiner eigenen Spucke. »Du willst mich doch auf den Arm nehmen.«
»Es ist nicht wie damals, Levi. Solange wir nur gut Verstautes mitnehmen, dürfte nichts passieren.« Er sagte das mit so einer Selbstverständlichkeit, dass Levi fast einen Anfall bekommen hätte. Das schien Erwin bewusst zu sein und er setzte sich aufrecht hin, um weniger unglaubhaft zu wirken. »Ich mache das schon lange genug. Sie können nicht jedes einzelne Fahrzeug bis auf den letzten Zentimeter kontrollieren, das ist unmöglich. Besonders wenn viel Verkehr ist, schauen sie meist nur oberflächlich.«
Gestresst legte Levi eine Hand über seine Lippen, als würde das ihn beruhigen. »Ich glaube dir und ich ziehe es nach wie vor mit dir durch.« Er atmete aus und ließ den Arm sinken. »Aber wenn wir für ein bisschen Kohle ins Kittchen gehen, bringe ich dich um.«
»Wir gehen nicht ins Kittchen.«
Ein Ackermann geht nicht in den Knast, dämmerte es ihm wieder. Ein Ackermann geht nicht in den Knast.
Das hatte Kenny immer gesagt, als Mutter nicht mehr war, von Funktionären im Dreck gefunden, hatte gelitten wie angeschossenes Wild, die einzige Agonie, sicherlich eine grauenvolle Szene, und Levi war nicht einmal dort gewesen, um ihre Hand zu halten.
Kenny hatte immer diese Art von Ratschlägen in petto gehabt. Ein Ackermann geht nicht in den Knast. Wir werden nicht erwischt, bei gar nichts. Also wenn du jetzt da reingehst und mir beweist, dass du in der Lage bist, dir was zu essen zu holen, denk daran: Ein Ackermann geht nicht in den Knast.
Ein stechender Schmerz schoss Levi blitzartig durch den Schädel, ein Bild wie ein entfernter Alptraum, das eigentlich jahrelang eingefroren gewesen war und jetzt plötzlich freiheitssuchend aus dem Eis herausbrach. Levi pochte der Kopf, alles drehte sich, er musste sich die Stirn halten.
Am liebsten wäre er in sich zusammengefallen, genau hier, auf der Stelle, vor Erwin, aber er konnte nicht, durfte nicht! Sonst würde wieder das wie letztes Mal passieren, als er Levi bei seinen Alpträumen erwischt hatte, er musste sie verstecken, die Erinnerungen, in Kisten stopfen damit niemand sie jemals fand.
»Levi, geht es dir gut?«, fragte der Blondschopf, erneut der offene Kamerad, der einem die Hand auf die Schulter legte und mit beruhigenden Worten auf einen einredete, bis man darin ein Stückchen Frieden fand.
»Ja«, sagte Levi platt, es klang, als wäre etwas heruntergefallen. »Was. Hast du eben nochmal. Gesagt?«
Die Pausen zwischen den Worten klangen unnatürlich und mechanisch, das merkte er selbst relativ schnell. Aber sein Gehirn arbeitete so langsam, die Zahnräder in seinem Kopf drehten sich nur mit Mühe, als wären sie mit Pech verklebt.
»Ich wollte nur sagen, dass du dich nicht unsicher fühlen musst.«
Levi tippte mit den Fingern auf die Tischplatte. Es dauerte eine Weile, bis seine Gedanken wieder geordnet waren, deswegen schwieg er lieber. Wenn er jetzt nochmal so stotterte, würde Erwin ihn wieder so besorgt ansehen, und das wollte er nicht. Auf keinen Fall.
»Du weißt nicht, wie der Knast im Osten ist«, presste er langsam hervor, stolz, kein einziger Hänger.
»Weißt du es denn?«, hielt er herausfordernd dagegen, was ihn aus dem Konzept brachte.
Er versuchte, eine Veränderung in Erwins Gesicht zu erkennen, ein kleines Zucken oder einen angespannten Muskel, doch sein Blick war vollkommen undurchdringlich. Die Zahnräder in Levis Kopf knirschten, verhakten sich kraftlos ineinander, als wäre der Strom ausgefallen.
»Dieses Gespräch macht dir eindeutig zu schaffen. Geh ins Bett«, seufzte er wieder mit diesem milden Blick, den Levi so hasste und gleichzeitig eine gewisse Sicherheit darin fand. Nein, er konnte das. Niemand brauchte ihm zu sagen, dass er sich ausruhen sollte, er konnte das.
»Man sagt, die Leute werden dort gefoltert.«
Erwin blinzelte. »Was?«
Der Gedanke daran, dass seine Freunde dort sein könnten ... Nur weil sie dumm gewesen waren, weil sie sich hatten erwischen lassen ... Dass Furlan ... und Isabel ...
Ein Teil von ihm hoffte, dass sie bei den Zweien kurzen Prozess gemacht hatten.
Levi atmete tief ein, drängte den Gedanken an den Rand seines Bewusstseins. »Gefoltert, sage ich. Im Knast im Osten. Die Leute gefoltert. Um Informationen zu bekommen. Sie zu brechen.«
Als Erwin unbeeindruckt schwieg, hätte Levi am liebsten losgeprustet.
»Schau, im Moment finde ich dich wirklich witzig. Echt zum Totlachen.«
»Es geht nicht nur ums Geld.« Kopfschüttelnd stand er auf und lief zum Fenster zwischen dem Kolonialschrank und seinem Schreibtisch. Auch diesmal schaute er nachdenklich hinaus, als würde sich hinter der Scheibe ein Film abspielen. »Ich habe dort auch einen Informanten. Die eigentliche Mission besteht darin, jemandem über die Grenze zu helfen.«
Ein hohles Gefühl setzte sich in Levis Magen fest, als ob das ganze Blut in seine Glieder geflossen wäre.
»Nicht jetzt, nicht morgen, aber ... wenn ich genug Informationen gesammelt habe.«
Gerade als Levi zum Reden ansetzte, fiel ihm auf, dass er nicht wusste, was er sagen sollte. Also klappte er den Mund zu und rieb sich die hämmernde Stirn. Zeitgleich musste er wieder an sein Gespräch mit Nanaba denken. Dass es viel zu gefährlich wäre, in einer Zeit aktiv zu werden, in der die Stasi ihnen bereits auf die Schliche kam.
»Nanaba hat gesagt, ihr bringt niemanden mehr über die Grenze.«
»Nanaba hat zurzeit nichts zu melden«, betonte er mit einer gewissen Autorität, ohne ihn anzusehen, und es jagte Levi zugegebenermaßen etwas Respekt ein.
Dennoch riss er sich zusammen und erinnerte an ihre Abmachung: »Die Rede war von Schiebergeschäften. Mehr nicht.«
»Ich weiß. Aber gibt es nicht etwas, woran du glaubst?« Affektgeladen drehte er sich wieder zu ihm um, etwas Leidenschaftliches schwang in seinen Worten mit. Überrannt von Erwins Ansturm, konnte Levi nur in seine brennenden Topasaugen schauen, endloser Ehrgeiz in blauen Flammen.
»Ich glaube ans Überleben. Und dass ich nicht in den Knast möchte«, entgegnete er unbeholfen, aber es war doch keine Lüge. Nach all den Jahren hatte Levi genug durchgemacht, jetzt wollte er nicht noch einmal alles durchleben, für was denn? Um Erwin zu beweisen, wie moralisch und gutherzig er war?
Die Wahrheit war, dass Levi kein Gewissen hatte. Bestimmt wenn man tief kramte und herumwühlte, würde man es irgendwo im Gerümpel zwischen alter Schuld und verschwommenen Erinnerungen finden, aber da konnte man lange suchen. Wenn man dumm war, verließ man sich auf seine Ideale, statt auf seinen höchsten und wichtigsten Instinkt: das Überleben. Wer andere rettete, der ging zwar als Held unter, aber das änderte nichts daran, dass man schließlich elendig verstarb. Und das nur, weil man allen zeigen wollte, was für ein guter Mensch man war.
Also nein, Levi rettete niemanden. Es gab niemanden mehr zu retten.
»Denkst du nicht, dass du dich damit völlig reduzierst?«, fragte Erwin etwas weicher. »Wenn man alles aufgibt, für was überlebt man dann?«
»Machst du dir über so was den ganzen Tag Gedanken?«, zischte Levi und griff sich eines der Papiere vom Tisch, um es hin und her zu drehen. »Schreibst du deine tolle Ethik hier für die Nachwelt auf?« Entnervt zerknüllte er den Zettel und warf ihn zu Boden. »Ich bin kein langweiliger Philosoph und erst recht kein Moralapostel, ich bin nur ein einfacher Mann, Erwin. Falls du von mir eine Heldentat erwartest, kannst du lange darauf hoffen.«
Bedauernd neigte er den Kopf. »Das würde ich nie von dir erwarten.«
»Gut«, beendete er die Diskussion, konnte es sich aber nicht verkneifen, den zerknickten Zettel nochmal anzusehen. Erwins Schreibtisch war eigentlich tabu für ihn, das wusste Levi, ohne dass man es ihm sagen musste. »Ich hoffe, das war nichts Wichtiges.«
Erwin folgte seinem Blick, und er schien genau zu wissen, was für ein Zettel das war. »Es war ein Brief an meinen Vater.«
Levi biss sich auf die Zunge. »Wir leben nicht mehr im Mittelalter, warum rufst du ihn nicht einfach an?«, höhnte er, eine herzlose Bemerkung und der Ernst der Situation würde schwinden.
»Er sitzt im Gefängnis. In Berlin«, antwortete er sachlich, was Levi wieder aufblicken ließ. Er wartete darauf, dass Erwin das als einen seiner dummen Witze entlarvte, doch da müsste er wohl oder übel eine Ewigkeit warten.
In Berlin, hallte es in seinem Kopf nach. In Berlin?
Erdrückende Stille waberte zwischen. Levi fühlte sich plötzlich eingeengt. Einige Herzschläge lang konnte er nicht atmen.
Ein Ackermann geht nicht in den Knast, dämmerte es ihm wieder. Aber wenn du mal dick in der Klemme steckst, Levi, dann lässt du dich besser von denen erschießen. Lieber 'ne Kugel im Kopf als jahrelang in einem Loch sitzen.
Ironischerweise lachte Erwin daraufhin. »Ich weiß, es ist dumm, zu glauben, sie würden irgendwo ankommen.«
Levi räusperte sich. »Ich wollte nicht ─«
»Gute Nacht, Levi.«
Einen Moment schaute er Erwin an, versuchte, aus seiner Miene irgendeine Emotion herauszulesen ─ vergeblich. Er war absolut undurchschaubar.
Geschlagen wandte er sich ab. »Gute Nacht.«
• • •
Wann immer Levi nichts zu tun hatte, sortierte er die Tassen nach der Größe. Es gab keinen bestimmten Grund, so wichtig war ihm das auch nicht, aber es war eine Art, seine Müdigkeitssymptome zu bekämpfen. Heute Nacht hatte er nichts geträumt, aber er hatte schlecht geschlafen. Wegen Erwin. Das war Erwins Schuld.
Erwin wiederum schien es blendend zu gehen. Es war, als hätte dieses äußerst verwirrende Gespräch gestern nicht stattgefunden, er verhielt sich wie immer. Ruhig und gemächlich, aber auf eine bestimmte Art, die einen nicht an seiner Überlegenheit zweifeln ließ. Während er zwischen den Tischen hin und her huschte, beobachtete Levi ihn aufs Genaueste, kontrollierte, ob er nicht doch irgendein Zeichen von Schmerz oder Verärgerung erkennen ließ ─ nichts.
Levi wusste nicht, ob ihn das beschwichtigen oder erst recht beunruhigen sollte. Manchmal fand er es komisch, was Erwin ihm alles durchgehen ließ. Einerseits hatte er letztens so auf einer Entschuldigung gepocht, aber bei etwas derart Wichtigem hielt er die Füße still? Machte er das mit Absicht? Ließ er Levi in seiner Unwissenheit schmoren?
Verdammt nochmal, wen interessiert schon, was Erwin denkt?
Levi wurde sofort aufmerksam, sobald Blondie sich zu ihm hinter dem Tresen gesellte. »Was brauchst du?«
»Zweimal Espresso«, erwiderte er, woraufhin Levi eine kleine Tasse zur Hand nahm und sie auf das Gitter der Abtropfschale platzierte. Als Erwin auffiel, dass nicht genug Kaffeepulver in der Mühle übrig war, füllte Levi sie mit frischen Kaffeebohnen und drehte den Hebel im Uhrzeigersinn. Anschließend zog er die kleine Schublade aus der Kaffeemühle und reichte sie Erwin, der dann damit fortfuhr, den ersten Espresso zuzubereiten.
»Ist das deine Art, dich zu entschuldigen?«, fragte Erwin belustigt, indessen holte Levi noch eine Tasse aus dem Schrank und reichte sie ihm wortlos. »Ich verstehe. Du bist ein Mann der Tat.«
Während der schaumige Espresso in die Tassen lief, lehnte sich Levi gegen die Arbeitsfläche. Erwin sah wieder aus wie eine Statue. Der Denker, vielleicht. Alles wie gewohnt.
• • •
Als der Abend hereinbrach, schloss das Café und Levi ging mit einem Mopp den Fußboden ab. Der Himmel war bereits in ein endloses Schwarz getaucht, nur die Straßenlaternen und die schwache Deckenbeleuchtung wehrten sich gegen die vollkommene Dunkelheit. Auf vereinzelten Tischen brannten auch noch Kerzen, allerdings konnte Levi den Geruch, wenn man sie löschte, nicht ertragen. Also hob er sich das für den Schluss auf.
Im Hintergrund machte Erwin noch den Abwasch und stellte die Tassen auf ein Tuch ab, das er über die Arbeitsfläche gerollt hatte. Abschließend wischte Levi den Platz um Erwin herum, scheuchte ihn kurz zur Seite, wischte diesen Platz, und scheuchte Erwin wieder zurück, bevor er den Mopp ins kalt gewordene Wasser tauchte und auswrang.
Der Stundenzeiger drehte sich herum und beide verschlug es irgendwann ins obere Geschoss, wo Erwin sich auf seinem Sessel niederließ und Levi entschied, es sich auf dem Sofa gemütlich zu machen. Er schuldete ihm diese Gesellschaft.
»Hast du Hunger?«, fragte Erwin, dabei setzte er sich etwas auf.
Bei diesen Worten meldete sich Levis Magen mit einem schmerzhaften Ziehen zu Wort. Auch der Rücken und die Arme pochten ihm von der Anstrengung, Levi seufzte ausgelassen. Guter Schmerz, er mochte das. »Ja.«
»Soll ich uns etwas machen?«, fragte er so nett und aufrichtig, dass es fast suspekt war. Levi konnte die Geste nicht einmal schätzen, er konnte sich nur fragen, ob Erwin es ihm noch irgendwann heimzahlen würde.
Außerdem wollte er sich von Erwin nicht bekochen lassen. Er war doch kein verwöhntes Gör.
»Ich möchte nicht, dass das zur Gewohnheit wird«, protestierte er und rieb sich die Schläfe. »Dass wir zusammen essen.«
»Was ist denn dabei?«
»Ich esse nicht gerne mit anderen. Sie verurteilen einen«, erinnerte er sie an das letzte Mal und runzelte die Stirn.
»Entschuldige, bitte«, sagte er, es lag keinerlei Spott darin. »Ich habe dich nicht verunsichern wollen, das war nicht gut.«
»Hast du nicht«, verteidigte Levi sich, er war nicht verunsichert. Man musste schon weitaus schwerere Geschütze auffahren, um einen Ackermann zu verunsichern.
Jedoch schien genau das Erwin zu fehlen, um unbehelligt fortfahren zu können. »Na, dann haben wir doch kein Problem.«
Levi hielt inne und sah hilflos zu, wie Erwin sich schließlich erhob. »Warte«, hielt er ihn nochmal zurück, bevor er abkehren konnte, und stand nun ebenfalls auf.
Erwartungsvoll begegnete er Levis Miene. »Ja?«
Levi verschränkte die Arme vor der Brust und hob die Schultern an. »Ich wollte nochmal auf das zurückkommen ... über was wir gestern gesprochen haben.«
Erwin stieß einen tiefen Seufzer aus. »Zum letzten Mal, wir kaufen irgendwann einen Staubsauger, aber im Moment sehe ich es nicht als Notwendigkeit.«
»Zunächst einmal bist du ein Tier, wenn du denkst, dass ein Staubsauger ›keine Notwendigkeit‹ ist«, klagte er und machte eine wegwerfende Geste. »Aber eigentlich geht's mir ums Geschäftliche.«
Erwin starrte ihn an ─ bis er sich erinnerte. »Du meinst, als du dich über meinen Vater lustig gemacht hast?«
»Ich habe nicht ─«, setzte er an, unterbrach sich aber selbst, als Erwin eine Augenbraue hob. Er nickte langsam, vorsichtig. »Ja ... das ...«
Ein zurückhaltendes Lächeln zierte seine Lippen. »Keine Sorge. Ich bin kein nachtragender Mensch.«
Levi drückte eine Hand gegen seinen Hals, spürte dort die verspannten Muskeln. »Ich werde dich unterstützen«, deklarierte er, es hatte den Charakter eines Paktes. »Wenn du den Helden spielen möchtest, helfe ich dir.«
Levi wusste nicht so genau, wieso er das sagte. War es aus Mitleid? Verzweiflung? Angst? Weil er hierbleiben wollte? Weil er Erwin vertraute? Keine Ahnung. Er wusste es nicht. Er wusste nur, dass sein Bauchgefühl es für richtig hielt, und sein Bauchgefühl lag nie falsch.
Auch Erwin schien damit einverstanden zu sein. Seine Gesichtszüge entspannten sich, er nickte zufrieden. »Ich danke dir.«
Zögernd streckte Levi die Hand aus, als wollte er sein Versprechen tatsächlich besiegeln. »Sind wir dann quitt?«
Überrascht über die Geste schwieg Erwin zunächst. Dann schüttelte er einmal Levis Hand, fest und selbstsicher, erwiderte aber nichts. Er lächelte nur.
• • •
Petra war heute wieder da. Wie gestern hatte sie einen Espresso bestellt, den sie mit einem entzückenden Lächeln annahm. Geduldig nippte sie an der Tasse und lehnte sich zurück, im Morgenlicht sah sie aus wie eine Elfe.
»Arbeiten Sie gerne hier?«, klimperte sie sanft, dabei schob sie eine ihrer rotblonden Strähnen beiseite, was ihr spitzes Öhrchen zum Vorschein brachte.
»Ja«, antwortete Levi knapp, auch wenn er diesbezüglich noch etwas zwiegespalten war. Es war auf jeden Fall besser als alles andere, womit er je seine Brotkrümel verdient hatte.
»Das ist schön.«
Levi nickte, er war herzlich schlecht in so was. Da ihm nichts anderes einfiel, fragte er: »Sind Sie beruflich tätig?«
Für einen Moment schien sie verlegen, bevor sie zu ihrem charmanten Lächeln zurückkehrte. »Ach, ich bin nur Sekretärin. Bei der Bank«, erklärte sie. »Die Bezahlung ist auch ziemlich mies, aber für mich reicht es.«
Levi nickte.
»Ich meine, ich würde nicht ... Natürlich würde ich meinen Job kündigen, wenn ich heirate«, fügte sie hinzu, als hinge ihr Leben davon ab. Sie schien darauf zu warten, dass Levi reagierte.
»Ähm, nein«, sagte er kopfschüttelnd. »Nein, das sollten Sie nicht.«
Dass Frauen im Westen normalerweise nicht zur Arbeit gingen, war etwas, dass Levi schon immer eigenartig gefunden hatte. Damals im Osten hatte er immer Frauen auf den Feldern gesehen, wenn er bei der Ernte geholfen hatte. Harte Arbeit war ehrenhaft. Immer.
Petra sah ihn immer noch an und versuchte offensichtlich, ihn zu verstehen, als wäre er eine Art abscheuliches, expressionistisches Gemälde, das sie interpretieren musste.
»Sie sind eher der ruhigere Typ, nicht?«
Levi wusste nicht, ob ihm diese Charakterisierung gefiel, aber er fand sie auch nicht unzutreffend. »Das stimmt wohl.«
Das darauffolgende Schweigen war ihnen beiden sichtlich unangenehm und Levi machte sich selbst dafür verantwortlich. Seltsamerweise spürte er etwas wie Verlegenheit in sich aufkommen, ein Gefühl, das ihm eher fremd war. Mit solchen Situationen war er überhaupt nicht vertraut.
»Was machen Sie denn bei der Bank?«, versuchte er hektisch, den Moment zu überwinden.
Ein hohes Lachen entkam ihrer Kehle, weswegen sie mit der Hand schnell ihren Mund verdeckte. Anscheinend kaufte sie Levi nicht ab, dass ihn ihre Arbeit interessierte. »Oh, das wollen Sie doch gar nicht hören. Das ist alles so langweilig.«
»Nein, ich will es wissen, ehrlich.«
Ungläubig schüttelte sie den Kopf und berührte ihre Stirn mit den Fingerspitzen. »Ähm, ich stelle Anrufe durch oder mache Termine aus, führe Register und solchen Kram. Es ist wirklich nicht besonders.«
Lässig stemmte er die Arme auf die Arbeitsfläche. »Na gut.« Er deutete mit einem Nicken auf ihre Tasse. »Ist der Kaffee in Ordnung?«
»Ja, er ist gut«, beteuerte sie eifrig. »Von all den Büchern hier belagert zu werden, mögen Sie das? Lesen Sie gerne?«
»Nein, nicht wirklich«, äußerte er wahrheitsgemäß, das Gesprächsthema hatte er auch mal mit Erwin durchgenommen. »Nur selten.«
»Was haben sie denn zuletzt gelesen?«, bohrte sie nochmal nach, woraufhin Levi einen Moment überlegte. Auch wenn er das Buch über Insekten seltsam fand, hatte er wissen wollen, wie es der Kakerlake erging, und es zu Ende gelesen.
»Ein Buch von Kafka. Es geht um Insekten.«
Vergnügt kicherte sie. »Ah, ›Die Verwandlung‹«, erriet sie, »nein, Sie verstehen das ganz falsch, es geht nicht um Insekten. Es geht um das, was Gregor dann passiert. Wie er dann behandelt wird. Und wie die Kommunikation zwischen der Familie scheitert.«
Falls Petra ihn damit überzeugen wollte, musste Levi sagen, dass es absolut null Wirkung zeigte. »Aber ich möchte trotzdem nichts über Insekten lesen.«
Auch das schien sie urkomisch zu finden. »Haben Sie etwa Angst? Vor Insekten?«
»Nein, aber Insekten halten sich nur dort auf, wo Dreck ist«, behauptete er wie selbstverständlich, er fand das nicht witzig.
Petra jedoch hielt wieder die Hand vors Gesicht, weil sie lachen musste. »Sicher? Nur deswegen?«
Levi fühlte sich provoziert. »Ich muss etwas holen«, log er entmutigt. »Nicht bewegen.«
»Nein, hey, das war nicht böse gemeint«, versuchte sie halb entschuldigend, halb grinsend, ihn noch davon abzuhalten.
Stur, wie Levi war, kehrte er trotzdem ab und flüchtete sich in die Abstellkammer. Um von seiner plötzlichen Nervosität herunterzukommen, begann er, die Waren in den Regalen zu ordnen. Ihm fiel sofort auf, dass Erwin hier eingeräumt hatte, da alles ohne Muster und völlig willkürlich platziert worden war.
Um seine Lüge zu untermauern, griff Levi nach einer Dose, die er zum Tresen bringen konnte, und drückte sie fest zusammen. Dabei dachte er an das Insektenbuch und rotblondes Haar.
Er hatte keine Chance, oder?
Auch wenn er eine gewisse Sympathie spürte, spielte Petra eindeutig nicht in seiner Liga: Sie war hübsch, belesen und bestimmt aus gutem Hause, neben ihr stünde Levi wie ein absoluter Nichts da. Ein krimineller Prolet bei dieser zauberhaften Fee, dafür würde kein Mensch seinen Segen geben. Es war aussichtslos, absolut lächerlich.
Ernüchtert kniff er die Augen zusammen. Es wäre besser, wenn er sich keine Hoffnungen machte.
Levi blieb noch ein paar Minuten dort und räumte die Putzmittel hin und her, während er über seine Lebensentscheidungen nachdachte. Dann schnappte er sich nochmals die Dose und ging aus dem Lagerraum.
Als Levi zurück zum Tresen ging, konnte er Petras rotblonden Kopf nicht wiederfinden. Er ließ seinen Blick durch das Café schweifen, aber sie war nirgends zu finden. Vielleicht war Peter Pan eingefallen und hatte ihr gesagt, sie solle ins Nimmerland zurückkehren.
Es schien, als hätte Erwin sie ersetzt. Er stand hinter dem Tresen, keine Anzeichen dafür, dass sich dort auch ein Fee versteckte. Auf einem Tablett neben der Spüle stand eine halbleere Tasse, an der blutroter Lippenstift klebte.
»Ist Petra gegangen?«, fragte er, das Schnapsglas für die Bezahlung war leer.
»Ja«, erwiderte er, ohne Levi anzusehen, und kippte Petras Tasse in der Spüle aus, als wäre sie nie da gewesen.
»Hat sie noch etwas gesagt?«
»Nein, aber sie schien, es eilig zu haben«, sagte er, während er mit einem Schwamm intensiv das Porzellan ihrer Tasse schrubbte, sodass jeder einzelne Partikel ihrer Kirschlippen vernichtet wurde.
Levi wusste nicht, was er da mit ansah.
»Die Pflicht ruft bestimmt«, vermutete er, suchte Erwins Blick. »Sie ist Sekretärin, wusstest du das? Bei einer Bank.«
»Nein, das wusste ich tatsächlich nicht.«
»Aber dass sie einfach so ... Ich meine, was für eine Frau geht so einfach?«
»Ach, Levi, du weißt doch, wie sie sind«, meinte er und sah ihn nun endlich an, seine Mundwinkel zuckten nach oben. »Mal so, mal so.«
Obwohl Erwin sich bemühte, sein Lächeln höflich oder zumindest geschmackvoll erscheinen zu lassen, blieb sein Blick im Gegensatz dazu eisig, eine feindselige Kälte, die nicht gut versteckt war und Levi Bauchschmerzen bescherte.
Nach etwas, das sich wie eine halbe Ewigkeit anfühlte, wandte Erwin sich wieder ab und fuhr damit fort, den Rest des Geschirrs zu spülen. Levi ging ihm zur Hand und trocknete alles ab.
Spätestens als auch der letzte Beweis vernichtet war, dass Petra je existiert hatte, verließ Levi die Erinnerung an das warme Gefühl, das er in ihrer Nähe verspürt hatte. Es war sowieso aussichtslos, absolut lächerlich.
»Ich fürchte, sie ist sehr beschäftigt«, seufzte er, wollte es bedrückt klingen lassen, jedoch kam es ihm nur monoton über die Lippen.
Erwin schaute bedauernd auf, es drückte Levi erneut auf den Magen. »Schade drum.«
»Schade drum.«
Der Augenkontakt fühlte sich an, als würde er auf die Ebbe warten, nur um dann von einer reißerischen Welle erschlagen zu werden.
Jetzt sind wir quitt.
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Abend! Ich bin ich sehr froh, dass ich wieder etwas von Levis Vergangenheit einstreuen konnte. Sagt mir in den Kommentaren gerne eure Meinung, alles Liebe! <3
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