Kapitel 2: Um der Loyalität willen
Staub tanzte im Licht, das den Morgen heraufbeschwor, während Levi die Kaffeemühle aushöhlte und von Resten befreite. Da sie sich nur manuell bedienen ließ, musste man viel Kraft aufwenden, um die Bohnen zu zerkleinern, sodass ihm die Hände bereits davon schmerzten, doch Levi machte das nichts aus. Er strengte sich gerne an, wenn darauf guter Schmerz folgte.
In seiner Welt gab es einen Unterschied zwischen gutem und schlechtem Schmerz. Gute Schmerzen bekam man, nachdem man den Boden gewischt hatte oder der Tram hinterhergerannt war. Wenn einem Knie und Rücken wehtaten und vor Atemnot die Lunge ausbrannte, weil man etwas Gutes geleistet hatte.
Schlechter Schmerz hingegen war der, wenn man Hunger hatte, oder wenn man vor sadistischen Funktionären weglief oder sinnlos in einer Fabrik schuftete und ausnahmslos überall der Muskelkater pochte. Das war schlechter Schmerz, er hinterließ kein Gefühl von Stolz und Vollkommenheit.
Deswegen war Kaffeebohnenmahlen auch guter Schmerz. Wenn die Hände beißend kribbelten und man wusste, dass man damit ein höheres Ziel erfüllte.
Eigentlich mochte Levi ja gar keinen Kaffee. Zumindest nicht den Geschmack. Den Geruch hingegen empfand er als angenehm. Gemahlene Kaffeebohnen dufteten nach Sinnlichkeit und Leben, irgendetwas Tiefgehendes, das er nicht beschreiben konnte. Kaffee riss Menschen aus dem Schlaf und hielt sie auf Trab, diesen Gedanken mochte er.
Nachdem er ein paar der gerösteten Bohnen in die Mühle gefüllt hatte, begann er, den Hebel im Uhrzeigersinn zu drehen. »Wir können jetzt unseren ersten Espresso zubereiten«, verkündete er, woraufhin Erwin an seine Seite rückte und ihm über die Schulter sah. Optimistisch verfolgte er, wie Levi das Sieb für die Maschine mit ebenholzfarbenem Pulver füllte und anschließend in den Bajonettverschluss drehte.
»Achte«, forderte er, und es dauerte nur wenige Sekunden, bis die dampfende Flüssigkeit in die Tasse tropfte und oben zu hellem Schaum zusammenlief.
»Hervorragend!«, flötete Erwin und betrachtete Levis Werk mit großer Anerkennung. »Das heißt, wir können schon bald öffnen.«
Als er kehrtmachen wollte, packte Levi seinen Oberarm und hielt ihn zurück. »Nicht so voreilig«, zischte er und brachte Erwin dazu, sich ihm wieder zuzuwenden. Er deutete auf die Espressotasse. »Erstmal solltest du probieren.«
Erwin hielt inne, prüfte den Kaffee kritisch. »Na gut«, gab er nach und hob die Tasse an. Statt daraus zu trinken, schwenkte er sie zunächst, als müsste man irgendetwas darin überhaupt umrühren. Kaum dachte Levi, er würde daran nippen, führte er das Porzellan lediglich zu seiner Oberlippe und atmete erstmal die Dämpfe ein.
Es war nicht schwer, seine Finte zu durchschauen, weshalb Levi abschätzig die Stirn runzelte. »Denkst du, ich will dich vergiften oder was?«
Wie abgeschaltet stoppte Erwin in seinen Bewegungen, starrte Levi an. »Wie bitte?«
Ungerührt zuckte er mit den Achseln. »Du verletzt meine ›Gefühle‹ nicht, wenn du sagst, dass du ihn nicht trinken willst.«
Er presste die Lippen aufeinander und ließ die Tasse sinken. »Wenn ich ganz ehrlich bin«, brachte er zurückhaltend hervor, »riecht er ein wenig verbrannt. Und ich habe nicht die leiseste Ahnung, wie du Kaffee verbrannt haben sollst.«
Levi biss die Zähne zusammen. »Als könntest du es besser.«
»Du Blender! Du hast gesagt, es verletzt dich nicht, wenn ich deinen Espresso nicht trinken möchte.«
»Es verletzt mich auch nicht«, beteuerte er kühl und traktierte Erwin mit einem tödlichen Blick. »Aber ich muss mir so was nicht von jemandem anhören, der irgendwelche verwahrlosten Proleten von der Straße für den Scheiß hier anheuern muss. Langsam gehst du mir echt auf die Nerven.«
»Levi«, seufzte er angestrengt, doch Levi nahm die weiße Schürze ab, drückte sie Erwin vor die Brust und versuchte, an ihm vorbeizustürmen. Eine Hand an seiner Schulter hielt ihn sachte zurück, die andere hatte zur Sicherheit die Schürze umfasst. »Das muss nun wirklich nicht sein.«
Energisch entzog er sich Erwins Griff und entfernte sich schnellen Schrittes vom Tresen. Langsam hatte Levi es satt, sich immer wieder aufs Neue von irgendwelchen Besserwissern schikanieren zu lassen, die ihn einfach nicht seine Arbeit machen ließen.
»Levi«, sagte Erwin nun, nicht laut, nicht leise, aber determiniert, fast herrisch. Ein Klang, der Levi zutiefst erschütterte. Ein Schauer schlich ihm über den Rücken bis hinunter zu seinem Steiß und veranlasste ihn, an Ort und Stelle stehen zu bleiben.
Es fühlte sich wie eine Warnung an, als sein Herz begann, vehement auf seine Rippen einzuschlagen, ausgelöst von dieser Angst, dieser Urangst, die er zu gut kannte. Diese Angst vor Macht und Bestrafung, die ihm quasi angeboren war, die jedem angeboren war, dort, wo er herkam.
»Was?«, brachte Levi so fest wie möglich hervor.
»Bleib bitte.«
Als er sich gefügig zu Erwin umdrehte, waren seine Gesichtszüge weich, ja, beinahe liebevoll. Auf eine unscheinbare Art und Weise.
»Danke.«
• • •
An diesem Tag konnte Levi wieder nicht schlafen. Die Erinnerungen suchten ihn heim, spukten wie Gespenster in seinem Kopf herum. Er hatte wieder diese Angst verspürt ─ keine normale Angst, es war diese vertraute, tief verwurzelte Urangst, die ihn an Schüsse und Funktionäre, Schweiß und Tränen erinnerte. Wieder zuckten altbekannte Bilder in seinem Gedächtnis wie Blitze, viel zu schnell, viel zu kurz, um alle erfassen und zusammenfügen zu können. Obwohl sie nur flüchtig waren, gingen sie auf ihn nieder wie prasselnder Regen, nein, Messerstiche, Leid, Panik, Tod.
Wütend presste Levi die Augenlider zusammen und schlug nach der Matratze, die sich plötzlich so eng, heiß und ungemütlich wie noch nie anfühlte, als wäre sie nicht nur durchgelegen, sondern auch mit Nadeln bestickt, die seine Haut zerfraßen. Er hasste das. Dieses Gefühl von Hilflosigkeit, das ihn fest in seiner Hand hielt und keine Gelegenheit zur Flucht bot, dieses Gefühl der absoluten Unterwerfung dem Schmerz gegenüber, bis er sich krümmte.
Er wälzte sich wild hin und her, stets auf der Suche nach Schlaf, doch in seinem Kopf hämmerte es wie seit Jahren nicht mehr. Wieso hörte das nicht auf? War das alles wegen Erwin?
Nein. Das, was mit Levi geschah, lag etwas Tiefgründigerem, etwas Hässlicherem zugrunde, das in seinem Innersten geschlummert hatte und jetzt aus ihm herausbrach wie ein Knochen, den er zu stark belastet hatte.
Er musste Nanaba sehen.
Ja, das ist es.
Er musste noch einmal Nanaba sehen, um sicherzugehen, um sich Antworten zu beschaffen.
Wenn Levi kalte Füße bekommen hatte, war er immer zu Nanaba gegangen. Nanaba war gerissen und eine Meisterin des Versteckspiels, die Königin des Scharfsinns, die Crème de la Crème der Raffinesse. Und Levi wusste zufälligerweise genau, wo er sie trotzdem immer finden würde.
Hastig stand er auf, warf sich seinen Mantel über und wankte blind zur Tür, die in den Flur und anschließend ins Wohnzimmer mündete. Entgegen seiner Erwartung brannte in einer Ecke noch Licht ─ das einer Schreibtischlampe, um genau zu sein ─, was ihn verwirrt innehielten ließ. Aus der Ferne erkannte er, dass Erwin seinen Arm bewegte, als würde er schreiben. Vermutlich schrieb er auch, Erwin schrieb ja ständig irgendetwas.
Planänderung.
Gerade als er kehrtmachen wollte, fragte Erwin: »Wohin des Weges?«
Erwischt.
Levi lehnte sich an den Türrahmen und drückte die Stirn gegen das kühle Holz. »Raus.«
Erwin zeichnete weiter seine schwarzen Striche, Schlaufen und Punkte ─ er hatte eine krakelige Schreibschrift, wie Levi wusste. Ungebändigt und schmuddelig, es erinnerte einen an die unleserlichen Hieroglyphen, die Kinder in der Grundschule fabrizierten. Aber Erwins Desinteresse war gespielt, Levi roch seinen Argwohn bis hierher.
»Ich kann nicht schlafen. Man sagt, frische Luft hilft.«
»Ich nehme an, du möchtest nicht begleitet werden«, antwortete Erwin ungestört, seine mangelnde Anteilnahme provozierte Levi. »Bleib nicht lange weg, nachts trifft man die seltsamsten Leute.«
Auch wenn (oder gerade weil) Erwin es nicht sehen konnte, verdrehte er die Augen. »Ja.«
»Gute Nacht.«
Einige Sekunden überlegte Levi, ob er nicht doch bei Erwin bleiben sollte. In seiner Nähe, wo er ihm über die Schulter schauen und seine hingepfuschten Chiffren entziffern konnte.
Er entschied sich dagegen. »Gute Nacht.«
• • •
Gedimmtes Licht hüllte den Raum in eine sterbende Atmosphäre. Die Uhr schlug bereits nach eins und der stechende Alkohol war nicht wegzudenken, genauso wie die elenden Gestalten, die verwesend zwischen Bänken und Tischen klemmten. Nur eine Runde stach unter den Halbtagsleichen hervor, sie reihte sich um eine Holzplatte, bunte Chips in der Mitte, am Rand, und Karten, viele Karten in jeder Hand.
»Ich steige aus«, seufzte die nur wenig ältere Frau, die von einem miesgelaunten Anzugträger und einer schwarzhaarigen Brillenschlange eingerahmt wurde. Nanaba hatte ihre blonden Haare kurz geschnitten. Sie sah praktischer aus, als würde sie sehr hart arbeiten und sich viel bewegen.
Sobald sie aufsah, begegnete sie direkt Levis Blick. Ihre Augen wurden groß und sie ließ überfordert die Karten sinken. »Levi?«, stieß sie verblüfft aus, als könnte sie ihren Sinnen nicht trauen.
»Was gibt's Neues?«, fragte er mindestens genauso unbeholfen und schritt auf das siebenteilige Grüppchen zu, das ihn mit Fragezeichen über den Köpfen konfrontierte.
Ein Schatten fiel über ihre definierten Züge. »Bevor wir sprechen, spiel doch noch eine Runde mit. Und dein Einsatz sollte verdammt hoch sein.«
• • •
Nachdem Nanaba ihnen einen netten Tisch am anderen Ende der Kneipe gesucht hatte, bestellte sie Kognak, obwohl Levi den nicht mochte. Sie ließ die zwei Gläser erstmal zwischen ihnen stehen wie eine Mauer, eine Front, die sie davon abhielt, auf Levi loszugehen. »Ich dachte eigentlich, dass ich dich nicht mehr sehen würde, Ackermann.«
Er schaute zu ihr auf. »Ich hätte es auch lieber vermieden, aber du hast ja deinen Kollegen geschickt.«
»Dann hast du wohl Erwin getroffen«, lachte sie und griff nach ihrem Glas, das schunkelnd in ihrer Hand klimperte. »Der Kerl ist echt stur wie ein Esel. Ich konnte ihn nicht davon abbringen, dich zu suchen.«
»Dann erklär mir mal, wieso du ihn überhaupt auf mich angesetzt hast.«
»Weil du gut bist!«, polterte sie und haute auf den Tisch. »Und wir brauchen Leute wie dich.«
»Weißt du«, begann er ernst, »ich wollte eigentlich ganz normal hier leben. Mich anpassen und nicht auffallen.«
»Und trotzdem bist du auf Erwin eingegangen, sonst würdest du nicht hier vor mir sitzen. Liege ich falsch oder habe ich Recht?«, protestierte Nanaba. »Du hast scheiß Glück, dass du mich überhaupt noch erwischst. Eigentlich hatte ich vor, wieder unterzutauchen und Erwin den Mist regeln zu lassen, weil mir das langsam alles zu viel wird. In ein paar Tagen wäre ich abgezischt, aber nein, jetzt tauchst ausgerechnet du hier auf.«
»Verstehe«, murmelte Levi und lehnte sich auf dem knarzenden Stuhl zurück. »Du wolltest also einen Ersatzspieler, damit du schön wieder auf die Reservebank kannst.«
»So ist das nicht«, seufzte sie und kippte einen Schluck von ihrem Glas hinunter. »Es gab Zeiten, da habe ich dich wirklich vermisst.«
Levi kniff grimmig die Augen zusammen. »Lüg nicht, du elendige Schleimerin.«
»Nein, ehrlich! Ich habe gerne mit dir zusammengearbeitet.« In der Vergangenheit schwelgend, wanderte ihre Sicht in die Ferne. »Ich weiß, dir hat es meistens keinen Spaß gemacht, aber du warst ein guter Partner, Levi.«
Sein Kiefer verspannte sich. »Mir egal«, presste er zwischen seinen Zähnen hervor. »Wieso jetzt? Ihr habt mich die letzten Jahre auch in Ruhe gelassen, warum gerade jetzt?«
Damals war es anders gewesen.
Bevor Nanaba ihm bei seiner Flucht aus Dresden verholfen hatte, war klar gewesen, dass Levi nie im Leben das Geld dafür auftreiben könnte. Um seine Schuld zu begleichen, hatte er ihr bei ihren Schiebergeschäften assistiert. Nanaba hatte ihn bis heute nie bedroht oder gedrängt, aber es lag auf der Hand, dass er sich ohne einen Ausgleich Ärger und jede Menge neue Feinde eingehandelt hätte.
Doch die Zeiten hatten sich geändert. Levi hatte für Nanaba gearbeitet, sie hatten sich die Hand gegeben, das Leben ging weiter. Wieso sollte sie ihn nach all den Jahren wieder belästigen?
Bedrückt senkte Nanaba den Kopf, das Saphirblau ihrer Augen wurde von der Dämmerung eingeholt. »Es haben sich ... Komplikationen ergeben.« Ihr Griff um das Glas verfestigte sich. »Die Stasi hat ohne Grund zwei von meinen Leuten an die Wand gestellt. Und gerade verdächtigen sie zwei weitere.« Gestresst fuhr sie sich durch die strohfarbene Mähne. »Wir haben versucht, sie bei denen einzuschleusen, alle wasserdicht, man konnte nichts zurückverfolgen. Aber es scheint, als hätten sich die Sicherheitsgrade geändert.«
Entsetzt zog Levi die Augenbrauen zusammen. »Nanaba, das ist schrecklich.«
Ihre Pupillen schossen wieder nach oben, durchdrangen Levi mit einer Vehemenz, die er gar nicht kannte. »Hör zu, ich weiß zurzeit nicht, wem ich trauen kann.« Um ihre Nerven zu beruhigen, setzte sie das Glas erneut an ihre Lippen. »Aber auf dich konnte ich mich immer verlassen. Weißt du, was das bedeutet?«
Levi schwieg eine Weile, sog stickige Luft ein. Er wusste ganz genau, welches Wort sie hören wollte. »Loyalität.«
»Loyalität, Levi!«, wiederholte sie mit bedeutendem Affekt und formte die Hand zu einer kraftvollen Faust, es hatte etwas Dramaturgisches an sich. »Du bist ein Guter, Levi, ehrlich. Ich hatte selten jemanden, dem ich wirklich derart vertrauen konnte. Wir brauchen einfach Leute wie dich.«
Bevor Levi das Mitleid zulassen konnte, das in ihm aufkam, setzte er wieder zum Vorwurf an. »Und da willst du trotzdem abhauen, oder was?«
»Scheiße, ich haue doch nicht ab, ich«, keifte sie, stoppte dann aber mitten im Satz und fasste mit der flachen Hand an ihre Stirn. »Ich möchte mich nur erstmal im Hintergrund halten, bis sich die Situation etwas geklärt hat. Mein Apparat zerfällt momentan in all seine Einzelteile und ich muss etwas dagegen unternehmen. Ich will einfach, dass sich mal jemand anders um das Geschäftliche kümmert, während ich nach meinen Leuten sehe. Und Erwin ... ist durchaus kompetent.«
Nanaba ließ den Arm wieder sinken. »Ich habe nie so ganz verstanden, was er bei uns will. Die meisten wollen nur ein bisschen Geld machen oder Familie aus dem Osten holen. Aber der?« Ein zynisches Lächeln zierte ihre schmalen Lippen. »Unterschätz ihn besser nicht, Levi. Sei immer auf der Hut.« Abwesend betrachtete sie den bernsteinfarbenen Alkohol zwischen ihren Fingern. »Er kann manchmal sehr ... intensiv sein.«
Levi hielt inne. »Du meinst gewalttätig?«
»Nein! Nein, um Gottes Willen«, entgegnete sie und schüttelte heftig den Kopf. »Du wirst schon sehen, was ich meine.«
In einer eleganten Bewegung stellte sie den Kognak neben Levis ab. Er hatte noch immer keinen einzigen Schluck getrunken, vielleicht waren aber auch beide Gläser für Nanaba und er musste sich nicht dazu zwingen, dieses Gesöff in sich hineinzuschütten.
Während er darüber nachdachte, kam ihm ein Gedanke. Ein schmerzhafter Gedanke.
»Und du hast nicht zufällig noch etwas ... gehört?«, fragte er, während er sich an rotes Haar in Flammen erinnerte.
Nanaba schwieg unschlüssig. Es dauerte sicher einige Sekunden, doch ihr Gesichtsausdruck veränderte sich schlagartig, als es ihr wieder einfiel. »Levi.«
»Was?«
»Ich dachte, du hättest damit abgeschlossen«, klagte sie, ihre Stimme triefte vor widerlichem Mitgefühl. »Es ist sieben Jahre her.«
»Es ist eine einfache Frage, Nanaba«, blaffte er und verschränkte die Arme vor der Brust. »Ja oder nein?«
Sie presste die Lippen aufeinander. »Nein.«
Sobald dieser altbekannte Schmerz wieder aufsteigen wollte, redete Levi sich ein, dass er sich auch nichts anderes erhofft hatte. Auf diese Art war es zumindest etwas erträglicher.
»Ich weiß, du willst sie unbedingt wiedersehen. Aber selbst wenn ich die beiden noch irgendwo finden sollte, mal angenommen, sie sind nicht sowieso schon tot ─«
»Dafür gibt es keinen objektiven Beweis«, betonte er, nie verheilte Desperation schwang darin mit.
Mit fester Stimme fuhr sie fort: »Zurzeit ist es zu gefährlich, Menschen über die Grenze zu schicken. Vor allem wenn sie wahrscheinlich im Knast sitzen. Und eigentlich dachte ich auch, du hättest es schon abgehakt, Levi.«
»Habe ich auch«, betonte er und tippte gereizt mit den Fingern auf die Tischplatte.
Als er wieder aufschaute, war ihr Blick beinahe schmerzverzerrt. »Sicher?«
Levi stand auf und wandte sich ab. »Komm. Deine Leute warten.«
• • •
Als Levi heimkehrte, sackten seine Schultern, er konnte sich nur schweren Gemüts auf den Beinen halten. Am liebsten wäre er einfach hier auf dem bunten Laub zusammengeklappt und eingepennt. Wider Willen schlurfte er zu Erwins Haus, erklomm mutig die Treppe und schaute nach, ob ein gewisser Blondschopf immer noch im Wohnzimmer hockte.
Sobald er Levis Schritte vernahm, drehte Erwin sich um und musterte ihn von oben bis unten. »Du siehst fertig aus«, stellte er besorgt fest, woraufhin Levi den Mantel auszog und sich aufs Sofa setzte, weil ihm das Stehen schwerfiel. »Wie war dein Spaziergang?«
Völlig ausgelaugt kippte Levi zur Seite und nuschelte in das federnde Polster: »Erfrischend.«
Zwischen halb zufallenden Lidern beobachtete er Erwin, der fortan weiterschrieb, weil er ja ständig schrieb. Beethovens Neunte. Eine Strategie, um Karthago einzunehmen. Ein Gedicht.
»Schön für dich.«
Eigentlich war Levi niemand, der einfach dort schlief, wo es dann mal ging, er würde es immer bevorzugen, sein Zimmer aufzusuchen. Doch in diesem Moment holte ihn alles ein und er schloss gemächlich die Augen. Nur ganz kurz. Ganz kurz.
• • •
Panisch schrak Levi aus dem Schlaf. Aus Reflex wollte er nach dem Messer greifen, das er immer unter seiner Matratze deponiert hatte, aber da war kein Messer und auch keine Matratze, da war das Sofapolster und Stille, Schweiß und Angst, wo war das Messer, wo war das Messer?
»Ich hasse Alpträume.«
Von Adrenalin durchtrieben riss er den Kopf herum, suchte den Feind, allerdings blickte ihm nur Erwin entgegen, der ruhig auf seinem Sessel thronte. Von ihm musste auch dieser zusammenhangslose Satz stammen.
»Was?«, platzte es aus Levi, er war immer noch auf einen Kampf eingestellt. Gleichzeitig registrierte er, dass der Morgen bereits angebrochen war und sich die ersten Sonnenstrahlen über den Horizont erstreckten.
»Wenn du schläfst, sieht das aus, als wärst du Epileptiker.« Mit neutraler Miene studierte er jede von Levis Regungen und verschränkte die Hände wie ein Therapeut. »Hast du das öfter? Alpträume?«
»Ich bin doch kein Kind«, blaffte er, auch wenn er nur seine Scham kaschieren wollte. Im selben Moment stellte er fest, dass Erwin ihn in eine Wolldecke gewickelt hatte, die er sogleich beiseiteschlug, bevor er aufstand. »Ich hätte hier nicht schlafen sollen. Warum hast du mich nicht geweckt?«
»Es gab keinen Grund. Ich habe kein Problem damit, wenn du hier schläfst.«
»Scheinbar doch, dich stört ja meine Epilepsie«, hielt er dagegen und strich seine zerknitterte Kleidung glatt.
»Du bist ungewöhnlich leicht reizbar«, erkannte er, weshalb Levi vor Wut am liebsten etwas kaputtgemacht hätte.
Natürlich war er leicht reizbar, die Alpträume machten ihn wahnsinnig, er litt an chronischem Schlafmangel und konnte in seiner Lage nicht auf Nanaba zählen, seine Rückversicherung, und die letzte Hoffnung, seine engsten Freunde je wiederzusehen, war soeben im Prinzip vollkommen ausgelöscht worden. Warum Levi leicht reizbar war? Weil alles beschissen war und er in seiner Position nichts dagegen tun konnte.
Und trotzdem saß Blondie seelenruhig da und spielte den wohlwollenden Kameraden. »Kann ich dir helfen?«
»Du kannst den Mund halten, das kannst du!«, stieß er aus und merkte im selben Moment, dass er zu weit gegangen war.
Erwins Präsenz wechselte vom guten Freund zu der eines Soldaten, der sein verletztes Opfer durchs Visier beobachtete. »Wie bitte?«
Levis Fluchtinstinkt schlug Alarm. »Nichts. Vergiss es«, sagte er schnell und legte eine Hand an seine schmerzende Stirn, während er ihm den Rücken zukehrte.
Als er bereits im Türrahmen stand, ertönte nochmals Erwins resolute Stimme. »Ich möchte, dass du dich entschuldigst.«
Wie festgewachsen hielt Levi in all seinen Bewegungen inne. »Was?«
»Du sollst dich entschuldigen«, rügte er streng, jetzt klang er wirklich wie ein Professor.
Aber Levi entschuldigte sich nicht. Levi entschuldigte sich nie. Entschuldigungen waren leere Worte, ein simples »Tut mir leid« konnte nichts auch nur im Geringsten wiedergutmachen. Entschuldigungen waren etwas für würdelose Memmen, die ihr schlechtes Gewissen besänftigen wollten, statt es in sich hineinzufressen und herunterzudrücken, bis es ihnen so langsam egal wurde.
»Levi.«
Die vier Buchstaben schwangen mit derselben Wucht wie zielsicher abgefeuerte Schüsse.
Dennoch drehte er sich wieder um und bat Erwin stur die Stirn, schaute ihm unverblümt in die düsteren Augen. »Du machst Witze.«
»Nein«, sagte er, spätestens jetzt verstand er keinen Spaß mehr, und Levi spürte das mit jeder Zelle seines Körpers. Vor Aufregung zitterten seine Fingerspitzen, Kampfeslust kitzelte seine Arme und Beine, bis sie weich wurden. »Ich erwarte bloß, dass du mir den Respekt gewährst, den ich dir entgegenbringe. Ist das wirklich zu viel verlangt?«
Ja. Wenn Levi ganz ehrlich war, ja. Er hatte ein Problem mit selbstgefälligen Menschen wie Erwin, besonders wenn er ihnen theoretisch auch einfach einen Schnitt quer durch die Kehle verpassen und wieder abhauen könnte. Doch das war gerade keine Alternative, also musste er sich zusammenreißen.
»Gut. Einverstanden«, antwortete Levi, in der Hoffnung, dieser angespannten Lage zu entkommen.
»Einverstanden?« Erwin lachte schelmisch, seine Augen brannten wie Feuer auf Levis Haut. »Beweise es. Entschuldige dich bei mir.«
»Tss. Ich muss dir gar nichts beweisen.«
Die Art und Weise, wie Erwin den Kopf neigte, hatte etwas Erbarmendes an sich, als würde er sein bettelndes Opfer begnadigen. »So stolz.«
»Stolz ist was für Versager. Ich denke nur, dass es keinen Grund gibt, mich zu entschuldigen. Einfache Logik.«
»Ist das so?«
Levi knirschte mit den Zähnen. »Du bist so arrogant«, warf er ihm vor, auch wenn es nicht stimmte. Erwin war taktvoll und keineswegs anmaßend, auch nicht rücksichtslos oder boshaft, er war einfach nur ... Erwin. Undefinierbar, unberechenbar, und doch war alles, was er tat, wohl durchdacht. Jede seiner Bewegungen wirkte kalkuliert und mit Überzeugung ausgeführt.
Levi kannte alle Arten von beschissenen Menschen ─ Lügner, Betrüger und einfach nur richtige Arschlöcher, aber Erwin gehörte definitiv nicht dazu. Er war mehr ein Fehler im System, ein Riss im Zeitkontinuum, eine falsche Variable in der Gleichung, unauffällig und nichtssagend, und trotzdem präsent, ein Flügelschlag, der einen ganzen Tornado verursachen konnte. Levi kannte nur einen Bruchteil des Charakters Erwin, denn der war so viel vielseitiger als das Wort arrogant.
Selbstverständlich konnte Erwin darauf nur lachen. »Arrogant? Ich muss zugeben, dass mich das ein wenig beleidigt.«
Halt den Mund!, schrie ein Stimme in Levis Kopf, er hasste das. Er hasste es, dass er sich kein festes Urteil zu Erwin bilden konnte.
»Ich weiß, du bringst es nicht übers Herz, nett zu mir zu sein, weil du mir nicht traust. Dafür gibt es sicher einen guten Grund.« Trotz ihres Disputs schwellte in seinem Ton Gutmütigkeit. »Dir haben bestimmt viele Menschen in der Vergangenheit wehgetan.«
Levi schwieg. Er wollte nichts dazu sagen. Das musste er auch nicht.
»Darauf nehme ich Rücksicht. Aber du wirst dich trotzdem entschuldigen.«
Verteidigend verschränkte Levi die Arme vor der Brust. »Mal angenommen, ich würde mich entschuldigen: Was hättest du davon außer ein paar leere Worte?«
»Die Art und Weise, wie sehr du dich dagegen sträubst, zeigt mir, wie viel dir diese Worte bedeuten. Wie ungern du sie sagen möchtest.« Unschuldig zuckte er mit den Achseln. »Deine Entschuldigung scheint sehr wertvoll zu sein, wenn du dich derart krampfhaft daran klammerst. Ergo wäre sie ein wirklich guter Beweis.«
Ihm bedeutete gar nichts irgendwas. Was auch immer Erwin sich da einredete, es stimmte nicht.
»Na schön«, presste er hervor und versuchte seine Gesichtszüge zu entspannen, doch die Falte in seiner Stirn war dort bereits zu lange verblieben. »Es tut mir leid.«
Zufrieden lächelnd nickte er. »Und? War das jetzt schwer?«
Er wandte indigniert den Blick ab. »Nein.«
• • •
Nach dem Desaster letztens versuchte Levi nicht mehr, Kaffee zuzubereiten, stattdessen hielt er sich strikt ans Putzen und Aufräumen. Heute hatte Erwin fast seine gesamte Büchersammlung ins untere Stockwerk verfrachtet, weshalb Levi sich auf dem Boden niedergelassen hatte und sich daran machte, sie zu sortieren. Ihm war kein einziges Werk vertraut, allerhöchstens zu einigen Namen konnte er eine vage Verbindung herstellen, doch gelesen hatte er nicht eines. Das geschriebene Wort hatte Levi nie wirklich fasziniert, das tat es nach wie vor nicht.
Dennoch erwischte er sich manchmal dabei, wie er neugierig in Erwins Büchern herumblätterte. Levi las etwas von einem Kafka, der total besessen von Insekten war oder so etwas in der Art. Und da war ein anderes, in dem gab es nichts außer altertümliche Reime, sodass er sich sehr anstrengen musste, um überhaupt etwas zu verstehen. Ein weiteres hieß nur wie eine Zahl, ein Jahr, um genau zu sein, und erzählte vom Weltuntergang.
»Ich denke, es ist übertrieben«, meinte eine tiefe Stimme über ihm, weshalb Levi das Buch erschrocken zuschlug. Er war so in seiner Lektüre vertieft gewesen, dass Erwin sich problemlos hatte anschleichen können. »Und langatmig war es auch.«
»Ah«, machte Levi nur und legte das Buch auf den Stapel mit den Lyrikbänden, obwohl es da nicht hingehörte.
Erwin deutete auf die Vielfalt an Fiktionen und Sachbüchern, die sich kategorisch um sie herum auftürmten. »Du kannst ruhig alles lesen, was du möchtest.«
»Ich lese nicht viel«, erwiderte er, während er mit einem Stapel Bücher in beiden Händen aufstand. Danach lief er zum nächstgelegenen Regal und reihte in einem der Fächer eines nach dem anderen akribisch auf, was aufmerksam von Erwin beobachtet wurde. Die Buchrücken grenzten genau an den Rand des Brettes und bildeten eine horizontale Linie.
»Schade. Ich hätte gerne jemanden, mit dem ich über Literatur quackeln kann.«
»Hast du keine Freunde?«
Ein schweres Seufzen ertönte von seiner Seite. »Nicht gerade viele.«
Levi schnaubte. »Wundert mich nicht. Du warst mir so suspekt, ich hätte dich fast erstochen.«
»Ich bin froh, dass du mich nicht erstochen hast.«
Levi wusste nicht, wieso ihn das verlegen machte.
Würde es jetzt immer so zwischen ihnen sein? Sie zankten sich, Levi kam darüber hinweg und sie tauschten unbekümmert Witze und Anekdoten miteinander aus, nur um dann wieder in dämliche Kabbeleien zu verfallen? Mochte Levi das? Er war sich nicht sicher, ob ihm das gefiel.
Eigentlich sollte er noch wütend auf Erwin sein, weil er ihn zu dieser Entschuldigung genötigt hatte, aber aus irgendeinem Grund fiel ihm das unglaublich schwer. Vielleicht weil Erwin so ... unbekümmert war. Putzmunter. Dieser Mann konnte Levi die tiefsten Abgründe seines Unterbewusstseins zeigen und im nächsten Moment eine Geschichte aus seiner Jugend erzählen, als wäre diese Welt rein und unbeschwert.
Aber das war ja jetzt auch nicht wichtig. Bei Erwin hatte er es warm und behaglich, er mochte das Ambiente und bald würden sie endlich dieses idiotische Café eröffnen, in der Hoffnung, dass es sich Tag für Tag mit bunten Kunden und saftigen Trinkgeldern füllen würde. Ja, daran musste Levi denken. An Geld, Wärme und Nahrung.
»Gut, stöbere du hier noch ein bisschen«, riss er Levi aus den Gedanken und nickte. »Später zeige ich dir dann, wie man guten Kaffee macht. Ich möchte mich nämlich für den Teekochkurs revanchieren.«
Levi entließ ein genervtes Stöhnen. Ein Teil von ihm hatte gewusst, dass das noch kam. »Na gut.«
• • •
»Nein, Levi«, seufzte Erwin wie ein enttäuschter Lehrer, während er ihm das Sieb für das Pulver aus der Hand nahm. Seit knapp einer halben Stunde versuchte er Levi das Einmaleins des Kaffees beizubringen, scheiterte aber bravourös daran. »Der Verschluss geht kaputt, wenn ihn nicht saubermachst.«
»Habe ich vergessen«, entgegnete er und schaute zu, wie Erwin das Pulver mit einem Löffel plattdrückte und anschließend die Reste am Rand des Siebs wegschrubbte.
»Nicht schlimm, merk es dir aber«, wiederholte er, dem Belehren bereits überdrüssig, Levis Widerwille raubte ihm den letzten Nerv. Dann reichte er ihm das Kaffeesieb. »Im Prinzip kannst du jetzt nichts mehr falsch machen.«
Während dessen tat Levi das, was er beim letzten Mal gemacht hatte: Er drehte das Sieb, bis es im Bajonettverschluss einrastete, und ließ die Maschine laufen.
»Die Tasse, Levi«, warnte Erwin und schob eine Tasse in den Kaffeefluss, bevor er im Silber der Abtropfschale verschwinden konnte. Oh, er hatte die Tasse vergessen.
Gelangweilt verschränkte Levi die Arme vor der Brust und lehnte sich gegen die Arbeitsfläche. Statt auf den kostbaren Espresso zu achten, behielt er Erwins konzentriertes Seitenprofil im Auge. Erwin sah so aus, als wäre er aus Stein gemeißelt. Seine Züge waren kantig und fest, wie bei einer edlen, altrömischen Statue. Aus dieser Perspektive konnte Levi auch das erste Mal einen genaueren Blick auf seine Nase werfen. Sie hatte einen Knick, der ihn sehr erhaben wirken ließ. Wie einen Kaiser.
Levi strich über die Kante seiner eigenen Nase. Sie war, anders als Erwins, nach innen gewölbt. Auch wenn er sich nicht viel aus Äußerlichkeiten machte, wurde er den Gedanken nicht los, sie sei unmännlich.
Er ließ die Hand sinken und seufzte. »Manchmal habe ich das Gefühl, wir sind verheiratet.«
Erwin zwang sich, weiter die Kaffeemaschine anzustarren. »Wie kommst du darauf?«
»Wir reden so«, sagte Levi, er wusste nicht, wie er das formulieren sollte. »Und ich hatte es noch nie, dass jemand sich derart lange in meiner Nähe aufgehalten hat. So in etwa stelle ich mir auch eine Ehe vor.«
Endlich schaffte Erwin es, ihn anzuschauen. »Ist das etwas Gutes?«
Levi spürte, wie sich seine Stirn unwillkürlich in Falten legte. »Das habe ich nie gesagt.«
»Nun, deswegen frage ich ja.«
Die hohe Erwartung, die Erwins Gesicht vereinnahmte, löste in Levi den Drang aus, ihm ins Gesicht zu schlagen. »Du bist komisch.«
»Du bist mindestens genauso komisch.«
»Ich bin nicht komisch. Ich bin normal. Und anständig.«
»Ach, ist das so?«, spottete Erwin und scheiterte miserabel daran, ihm Naivität vorzuspielen. »Bist du nicht derjenige, der mich fast erstochen hätte, weil ich dich nur angeschaut habe?«
»Du hast nicht geschaut, du hast mich beobachtet. Und man kann heutzutage nie vorsichtig genug sein.«
»Was? Denkst du etwa, ich könnte eine Art russischer Spion sein, der dich überallhin verfolgt?«
Levi analysierte ein weiteres Mal Erwins Gesicht. Er sah nicht russisch aus, kein bisschen. Russen hatten ein bestimmtes Gesicht, lang und breit mit spitzen Nasen und den schläfrigen Augen. Aber das sollte er wohl nicht laut sagen, überlegte Levi.
»Nein.«
»Hast du gerade darüber nachgedacht?«
»Nein.«
Erwin kniff die Augen zusammen. »Levi, ich wage, zu bezweifeln, dass jemand derart an dir interessiert ist.«
»Außer dir.«
»Ich meine, auf diese Art. Aus politischer Sicht.«
Levi hob eine schmale Augenbraue. »Wer weiß?«, gab er zurück, nicht, weil er tatsächlich daran zweifelte, sondern bloß um Erwin zu widersprechen, weil er es liebte, Erwin zu widersprechen.
Eine tiefe Furche bildete sich auf Erwins Stirn. »Dann willst du das Ganze also wirklich einmal durchspielen?«
»Ja.«
»Nun gut, aber wie kommst du darauf, dass ich dieselbe Vermutung nicht bei dir hatte?«
»Hattest du nicht.«
»Wer weiß?«, imitierte er ihn, weshalb Levi mit den Zähnen knirschte. »Was, wenn du mich in dem Glauben gelassen hast, du wärst einer von uns?«
Erwin wusste es nicht. Erwin konnte es nicht wissen. Aber Levi war nicht mehr einer von denen. Er gehörte hierher, er passte hierher, er redete wie die anderen und verhielt sich auch wie die anderen, er hatte sich an ihren primitiven Dialekt gewöhnt und verdrosch niemanden dafür, dass er »mir« statt wie jeder normale Mensch »wir« sagte, er lernte ihre dreckige Reichendoktrin, ihre fehlgeleitete Amerikaliebe und Selbstüberzeugung, ihren Irrglauben, sie seien selbst Amerikaner, ihre Arroganz und Überheblichkeit, er war jetzt einer von ihnen, einer von ihnen.
»Versteh mich nicht falsch. Deinen Umständen entsprechend, würde ich es verstehen, warum dich das zum Kommunisten macht«, fügte Erwin hinzu, und obwohl Levi wusste, dass er ihn verarschte, kämpfte sich unentwegt dunkler Zorn von seiner Brust hinauf in seine Kehle, vergiftete jedes seiner Worte.
»Ich bin kein scheiß Kommunist«, fauchte er, eine Kälte in der Stimme, die dem Klima auf dem Jupiter Konkurrenz machte.
Eine angespannte Stimme hing im Raum, als Erwin realisierte, dass Levi nicht mehr scherzte. Sie starrten einander bloß an, Levi mit gezügelter Aggression, Erwin mit seinen neugierigen Topasaugen. Seine Pupillen zuckten von einer Seite zur nächsten, als suche er nach etwas Echterem, Tiefgründigerem in Levi, bevor er seine Reaktion kalkulierte.
»Warum halten wir nicht kurz inne?«, fragte er mit seiner beschwichtigenden Stimme, immerzu mit dieser nervigen Ruhe.
Verwirrt beobachtete er, wie Erwin die Tasse von der Abtropfschale nahm, als wäre nichts gewesen. Denn der große Erwin, der werte Herr Schmidt, scherte sich immer um den Scheißdreck, auf den niemand etwas gab, wie um eine lausige Entschuldigung, aber dass Levi sich von einem läppischen Seitenhieb in Rage bringen ließ, schien ihm völlig recht zu sein.
Das war der Grund warum Erwin ihn komisch fand, ihn und seine blöden Augenbrauen und seine sanftmütigen Art, die ganz schnell in Antipathie umschwenken konnte und Levi Gänsehaut bescherte, seine Instinkte anregte, Kampf-und-Flucht-Syndrom, und dann wurde er zu einem Tier, das auf seine Gene, seine Materie hörte, weil die Ratio dafür viel zu langsam war, die Ratio, so ein Wort würde Erwin benutzen.
»Mit Zucker oder ohne?«
Mit einem Kopfschütteln kam Levi wieder zu sich und schaute auf, in der Hoffnung, seiner Miene eine Emotion abzugewinnen. Erwin schien jedoch genauso unbehelligt wie immer.
»Ich trink so was nicht«, murrte er. »Außerdem sind das vielleicht 40 Milliliter, wie kommt da noch Zucker unter?«
»Na, purer Espresso kann sehr bitter sein.«
Als Erwin tatsächlich ein wenig Zucker beimischte, hustete Levi ein undeutliches »widerlich« in seine Hand, während er sich unbeteiligt umschaute. »Oh? Hat da jemand ›widerlich‹ gesagt? Da scheint jemand zu finden, dass du widerlich bist.«
»Das hier wäre wesentlich einfacher, wenn du nicht alles infrage stellen würdest, was ich tue«, klagte Erwin angestrengt, ohne Levi anzusehen.
Einsichtig presste er die Lippen aufeinander. Ja, vielleicht könnte er auch auf den ein oder anderen sarkastischen Spruch verzichten. Entschuldigen würde Levi sich trotzdem nicht. Er war immer noch sauer.
»Aber ich habe gute Neuigkeiten«, sagte er und setzte die Tasse an seine Lippen. Levi verfolgte, wie sein Adamsapfel auf und ab hüpfte, während er daraus trank. »Ich habe unser Café als Gewerbe anmelden können. Uns hält prinzipiell nichts mehr auf, das Geschäft zu eröffnen.«
»Ah, das ... ist ausnahmsweise mal was Gutes«, pflichtete er bei und nickte.
Seine Mundwinkel zuckten nach oben. »Freust du dich?«
»Nein.«
»Ist es dir eigentlich physisch möglich, zu lächeln?«
»Nein.«
»Ist das genetisch veranlagt?«, fragte Erwin und schien sich für den genialsten Komiker zu halten. In der falschen Hoffnung, dass man ihm nicht anmerkte, dass er über seine Pointe grinsen musste, senkte er den Blick. »Entschuldige.«
• • •
Die Eröffnung des Cafés war genauso unspektakulär und überdurchschnittlich durchschnittlich, wie Levi sie sich auch vorgestellt hatte. Es gab weder ein rotes Band, das durchgeschnitten wurde, noch einen übergroßen Schlüssel, der jemandem nur symbolisch überreicht wurde und dementsprechend nirgendwo reinpasste. Nein, sie begannen schlicht und einfach, den Laden zu werfen.
Aus Werbezwecken hatte Erwin draußen noch eine Tafel aufgestellt, auf die er mit Kreide (ausnahmsweise sehr ordentlich) eine Empfehlung in geschwungenen, lateinischen Schreibschriftbuchstaben aufgeführt hatte. Anscheinend war er doch kein völliger Kulturbanause, was Kalligraphie anging, er war ansonsten nur zu effizient, wenn man es beschönigend ausdrücken wollte.
Mittlerweile hatte sich das Café eine sehr schöne Atmosphäre einverleibt. Levi fing an, Gefallen an den rustikalen Holztischen, den Messingvasen und den bunten Buchrücken zu finden, die er mit sehr viel Liebe immer wieder von Staub befreite.
Den meisten Leuten schien es schwerzufallen, ihr zurechtgemachtes Lokal auch nur eines Blickes zu würdigen, dabei hatte Levi sich so viel Mühe beim Putzen gegeben. Manchmal blieb eine neugierige Miene an den breiten Scheiben hängen, aber die meisten Menschen waren in Eile und beachteten den einsamen Angestellten mit dem miesgelaunten Gesichtsausdruck gar nicht.
Die meiste Zeit saß Levi allein dort und wartete, bis Erwin zurückkam. Es war nicht so, dass er ihn vermisste, aber ohne ihn war es irgendwie öde.
Levi hatte ja sonst keine Freunde. Auf der Arbeit hatte er manchmal mit Leuten geredet, aber eigentlich war er schon immer ein Einzelgänger gewesen. Natürlich könnte er sich darum bemühen, nett und offen zu sein, aber das lag ihm nicht im Blut. Genau wie es auch kein Lächel-Gen in seiner DNS gab.
Was Erwin wohl gerade machte?
Levi wusste gar nicht, womit er den Tag verbrachte, aber er wollte auch nicht fragen, weil das den Anschein erwecken würde, dass er sich für diesen alten Mann interessierte. Und diese Genugtuung gönnte er Erwin nicht.
Dennoch wüsste er gerne, ob Erwin einen Beruf gelernt hatte. Levi war sich mehr als sicher, dass er Akademiker war, solide Mittelschicht. Bestimmt war er Professor. Es passte zu gut zu Erwin, als dass er kein Professor wäre. Vielleicht war er aber auch Jurist. Ja, jetzt wo Levi darüber nachdachte, das würde auch zu ihm passen. Erwin war eloquent und konnte sich gut artikulieren, sicherlich wären seine Plädoyers sehr überzeugend.
Trotzdem irritierte es Levi nach wie vor. Warum sollte so jemand kriminell werden und sich auf das Risiko einlassen, dabei erwischt und bestraft zu werden? Jemand wie Erwin hatte alles, was er brauchte: ein Haus, wahrscheinlich die passende Bildung für eine gut entlohnte Arbeit und jede Menge Zeit. Rentierte sich das Schiebergeschäft überhaupt für ihn?
Das Bimmeln des Glöckchens ließ Levi aus seinen Überlegungen fallen. Eine brünette Frau war eingetreten. Die Brille, die sie trug, saß schief auf ihrer Nase und ihre Klamotten waren voller Falten. In ihren Händen hielt sie eine Tasche, die bis zum Platzen vollgestopft war. Auch wenn sie ranzig aussah, dachte Levi, dass etwas Kundschaft gar nicht so schlecht wäre.
Die Fremde schaute sich um und kratzte nachdenklich ihren Hinterkopf. »War das hier nicht mal eine Reinigung?«, fragte sie und suchte nach dem einzigen, anwesenden Angestellten, der an einem Tisch lehnte und sie genauestens beobachtete.
Enttäuscht presste Levi die Lippen aufeinander. »Nein.«
»Ah, hallo!«, rief sie aufgeregt, als sie Levi entdeckte, und lief unglücklicherweise auf ihn zu. »Was ist mit der Reinigung passiert?«
»Hier gab es nie eine Reinigung«, erläuterte Levi lustlos. Er konnte nun auch erkennen, dass ihre Brillengläser voll mit Fingerabdrücken und kleinen Fleckchen übersät waren. Aus irgendeinem Grund roch die Frau auch seltsam. Nicht unbedingt schlecht, nur seltsam. Als wäre sie kein Mensch.
»Können Sie mir trotzdem was waschen?«, fragte sie unverschämt, weshalb Levi angewidert das Gesicht verzog.
»Hier wird gar nichts gewaschen. Aber es gibt Kaffee und Tee.«
Hastig nickte die Frau. »Kaffee? Ach, das ist eigentlich auch eine gute Idee«, murmelte sie und wühlte in ihrer Tasche herum, sie suchte irgendetwas. »Hm, hm ... wo habe ich ... Ah!«
Nachdem das Nervenbündel eine Brieftasche herausgezerrt hatte, schaute sie Levi zum ersten Mal wirklich in die Augen. Ihr Gesichtsausdruck veränderte sich plötzlich. »Hey, dich kenne ich doch!«
Wie gelähmt starrte Levi sie an.
»Ja, ich erinnere mich an dich!«, plärrte sie mit schriller Stimme.
Plötzlich war sein Kopf absolut leer. Blanke Panik breitete sich in seinem Körper wie ein Lauffeuer aus, bis nur noch brennende Hitze durch seine Adern floss. Offenbar versuchte sein Herz als ineffektive Gegenwehr, ihm den Brustkorb zu zertrümmern.
Levi ließ seine gesamte Lebensgeschichte Revue passieren, in der Hoffnung, ihr Gesicht in seinem anarchisch verworrenen Gedächtnis wiederzufinden, doch er konnte keine Verbindung zu ihr herstellen. Hatte er sie vielleicht beklaut? Oder abgezogen? Aber selbst das müsste doch länger her sein, Levi war in letzter Zeit nicht auffällig geworden.
»Ich meine, nicht, Madame«, erwiderte er so ruhig wie möglich und schüttelte steif den Kopf, dabei stellte er sich aufrecht hin und umfasste das Klappmesser, das er vorsorglich in seiner Hosentasche verstaut hatte. Es war auch genau das Messer, das er sonst zwischen der Matratze und dem Lattenrost versteckte. Falls sie tatsächlich Verdacht schöpfte, würde er schnell handeln müssen.
»Natürlich! Ich bin bei der Stahlverarbeitung! Hanji Zoë, mein Name«, stellte sie sich vor und reichte Levi die Hand. Als dieser nicht danach griff, zog sie ihre Pranke wieder an sich. »Erinnerst du dich etwa nicht? Du arbeitest doch auch in der Stahlfabrik in der Beethovenstraße! Oder zumindest war das mal so.«
Erleichtert ließ er das Messer wieder los. »Glaub mir, an dich«, er spuckte das Wort geradezu, »würde ich mich erinnern.«
»Ja, ich habe dich auch nur selten gesehen«, ignorierte sie den Unterton und kratzte sich am Kinn. »Na ja, wir haben eigentlich nie geredet.« Da Levi nichts antwortete, fuhr sie fort. »Du hast ja nie viel mit den Leuten geschwätzt. Warst sehr zurückhaltend. Manche meinten sogar, sie hätten Angst vor dir. Vorm bösen Zwerg, gahaha!«
Gereizt knirschte er mit den Zähnen. »Du verschwendest gerade meine und deine Zeit«, sagte Levi und kehrte ab, um sich zum Tresen zu begeben. Dort angekommen nahm er eine der Tassen zur Hand und begann, sie zu polieren. So leicht ließ sich die Verrückte aber nicht abwimmeln.
»Und du arbeitest jetzt hier? Ich habe mich schon gewundert, wo du bist«, plapperte sie unnötig weiter. »Wie heißt du noch gleich? Levi, nicht wahr?«
»Musst du nicht zu einer Reinigung?«
Sie schlug beide Hände über dem Kopf zusammen. »Ah, stimmt! Ich habe ja so viel zu tun heute!«, rief sie aufgeregt und presste die volle Tasche an ihre Brust. »Ich schneie demnächst mal wieder rein, ja?!«
»Tu das nicht«, warf Levi ihr resigniert hinterher, allerdings stürmte sie da bereits wieder aus dem Laden. Und nicht einen Pfenning hatte sie hiergelassen.
• • •
Sobald er Erwins Schritte hörte, dachte Levi, dass er sie niemals verwechseln könnte. Das lag nicht nur daran, dass Levi gut ausgebildete Sinne besaß, sondern auch an der Tatsache, dass Erwins Gangart leicht zu merken war. Wenn er einen Fuß nach vorne schob, zog er das andere Bein ein klein wenig schneller nach sich. Bestimmt hatte er sich in seiner Kindheit dort mal verletzt.
Deshalb musste Levi gar nicht erst aufschauen, als Erwin seine Ledertasche sowie seinen Mantel auf den Tresen ablegte und sich auf einen der hohen Stühle niederließ. »Der Ansturm ist wohl nicht sonderlich groß.«
Levi ließ den Blick durch den leeren Verkaufsraum schweifen. »Gut erkannt.«
»Dann kann ich mir verzeihen, dass ich dich eine Weile allein lassen musste«, schlussfolgerte Erwin und observierte ihn mit Freude in den Topasaugen, als ihre Blicke sich begegneten.
Levi polierte weiterhin ihre uneinheitlichen Tassen und Becher. Ein Großteil des Geschirrs des alten Geschäfts war zu Bruch gegangen, daher unterschieden sich die Modelle mal mehr und mal weniger stark voneinander.
»Was?«, blaffte Levi, weil Erwin ihn immer noch angaffte.
»Was was?«
»Du guckst mich so an.«
»Wie?«
Levi schwieg einen Moment. Das Geschirrtuch in seiner Hand fühlte sich wie ein rettender Anker an. »Bescheuert eben.«
Schließlich gestand er: »Ich finde, die Schürze steht dir ausgezeichnet.« Mit der Hand deutete er auf Levis Körper, ohne ihm nochmal ins Gesicht zu sehen. »Es ist schwer, nicht hinzuschauen.«
Levi verzog die Miene. »Oh, halt doch die Klappe.«
»Ich meine es ernst!«
»Sei einfach still.«
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Ah, merkt ihr das? Es liegt etwas ganz Besonderes in der Luft ─ ich glaube, das ist meine erste, »erwachsene« Geschichte, oder irre ich mich? Ich meine, natürlich ist das ein oder andere bewusst humoristisch gestaltet, aber die Idee, der Plot, die Charaktere, mein Schreibstil fühlen sich einfach nach Älterwerden an. *lach* Wie ist das nur passiert?
Während ich diese unangekündigte »Pause« auf Wattpad gemacht und nur im Stillen geschrieben habe, habe ich sehr viel gelesen und dazugelernt. In dieser Zeit ist ja auch Kanin entstanden, eine Geschichte, die sich ums Erwachsenwerden und das Verfallen in alte Muster dreht. Ich finde, sie repräsentiert auch perfekt mein »Herauswachsen« aus den ollen Schulstories, selbst wenn ihre Leichtigkeit sehr verlockend sein kann.
Nach einigen gescheiterten Versuchen, neu anzufangen, verfasse ich jetzt endlich eine Geschichte, mit der ich mich auch sicher fühle. Ich weiß, am Anfang habe ich sehr viel gejammert, aber die letzten Tage habe ich noch ein paar Kapitel geschrieben und spüre allmählich, dass dieses Projekt gut wird. Ich habe das Gefühl, zum ersten Mal genau zu wissen, was ich schreiben möchte.
Übrigens möchte ich in meiner Figurenkonstellation Nanaba und Hanji willkommen heißen. Letztere wird Levi noch einige Kopfschmerzen bereiten, falls ihr das wissen wollt. Außerdem die ersten Einblicke in Levis Vergangenheit: Sind meine zwei übrig gebliebenen Leser gespannt? Ich hoffe doch.
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