Kapitel 16: Wie der Ozean
Als Erwin den Zündschlüssel herumdrehte, gab sein VW ein gellendes Ächzen von sich, das nicht so klang, wie es klingen sollte. Dieselbe Prozedur beobachtete Levi noch weitere fünfmal, bis ihm die Scheiße zu dämlich wurde. Genervt lief er um den Wagen herum, legte eine Hand aufs Dach und beugte sich zur Fahrertür herunter. Sobald Erwin ihn entdeckte, kurbelte er das Fenster herunter und sah Levi fragend an.
»Merkst du nicht, dass es nicht klappt, oder hast du schon Alzheimer?«
»Danke für deine Hilfe«, entgegnete Erwin ironisch und wollte das Fenster wieder hochschieben, weshalb Levi einen Arm zwischen die Scheibe und die Karosserie mogelte. »Lass das. Ich quetsche dich noch ein.«
»Mach doch«, entgegnete Levi herausfordernd, was Erwin verdutzt die Augenbrauen zusammenziehen ließ. Er schob das Fenster noch ein Stückchen hoch und Levi spürte, wie der Druck sich auf seinen Arm erhöhte, gab aber nicht nach. Seine Fingerspitzen begannen zu kribbeln, weil die Blutversorgung langsam stoppte.
Verstört starrte Erwin ihn an. Levis Arm steckte immer noch fest, er hatte nicht einmal für den Bruchteil einer Sekunde versucht, sich aus seiner Falle zu befreien.
Nachgiebig kurbelte Erwin das Fenster herunter und ließ seinen Arm frei. »Wie zum Teufel konnte ich das verlieren?«, seufzte er mehr zu sich selbst und legte beide Arme wieder aufs Lenkrad.
»Komm raus da«, befahl Levi und deutete mit dem Daumen hinter sich, um das Gesagte auch zu versinnbildlichen. »Kriech unter deinen Wagen, los.«
»Levi, ich rufe einfach einen Mechaniker und gut ist.«
»Wie eine Memme, meinst du?«, spottete er herablassend. »Schau dir deinen Wagen an wie ein ganzer Mann, hm? Damit ich dich nicht für die Memme halte, die du bist.«
Unbeeindruckt rollte er mit den Augen. »Mh. Und warum schaust du nicht?«
»Ist nicht mein Auto.« Beschwichtigend hob er die Hände. »Außerdem ist das so eine dreckige Arbeit, ich will kein Öl an meinen Händen.«
»Und du denkst, ich will Öl an meinen Händen?«
Levi zuckte die Achseln. »Du schluckst. Ich glaube, du bist dir für gar nichts zu schade.«
»In Ordnung, Levi«, erwiderte er gleichgültig. Kaum wollte er das Fenster wieder hochkurbeln, drängte sich erneut ein Arm hinter die Scheibe. Gedrückt stieß Erwin den Atem aus. »Du bist momentan eine absolute Zumutung.«
»Oh, eine Zumutung, das verletzt mich aber«, höhnte er und tippte mit den Fingerspitzen gegen die Scheibe. »Selbst beleidigen kannst du mich nicht wie ein ganzer Mann.«
Gefügig ließ er die Scheibe wieder herunter. »Darf ich fragen, weswegen du jetzt schon wieder sauer bist?«
»Ich bin nicht sauer«, protestierte er, was Erwin herzlich wenig beeindruckt den Kopf neigen ließ.
»Levi, ich kenne dich doch.«
»Nicht gut genug, anscheinend«, entgegnete er und verschränkte die Arme vor der Brust, der Zorn der letzten Tage brannte bereits verräterisch in seinem Hals. »Ich kann es mir nicht leisten, sauer zu sein. Ich bin kein verwöhntes Gör, Erwin.«
»Das weiß ich«, antwortete er und musterte ihn skeptisch, hielt inne. »Aber sauer bist du trotzdem.«
»Natürlich bin ich sauer! Ich bin wegen allem sauer, verstanden?«, platzte es unweigerlich aus ihm, weshalb Erwin ihn überfordert anstarrte. Als Levi merkte, dass er Erwin anschrie, laut anschrie, wie er es hatte kommen sehen, musste er sich wieder an die Brust fassen, dorthin, wo das Feuer seiner Wut knisterte. Es schmerzte höllisch, wollte herausbrechen und alles um sich herum in Brand stecken, jedes Haus und jeden Baum unter seiner Hitze begraben und vernichten. Aber Levi musste es zügeln, bevor es zu viel Schaden anrichtete.
Fahrig rieb er die Stelle zwischen seinen Schlüsselbeinen und atmete tief durch. »Nein, das«, presste er hervor, löschte die Flammen, so gut es ging. »Das muss nicht sein. Ich. Gehe saubermachen.«
»Schon wieder?«
Levi knirschte mit den Zähnen. »Ja, schon wieder«, wiederholte er mit scharfem Unterton und ließ die Hand wieder sinken. »Ruf du deinen dummen Mechaniker. Du Memme.«
Anstatt wie Erwin weiter Zeit zu verschwenden, widmete Levi sich wenigstens einer wichtigen Arbeit. In nicht einmal einer halben Stunde machten sie den Laden wieder auf, und der Boden wischte sich schließlich nicht von selbst.
»Du überanstrengst dich«, warf Erwin ihm hinterher, darauf folgte auch schon das Knallen einer zugeworfenen Tür.
Levi ignorierte ihn und lief einmal um den Block, zurück in den Verkaufsraum, bis eine Hand an seinem Oberarm ihn zurückhielt und zwang, sich umzudrehen.
»Levi.«
»Lass mich«, knurrte er und versuchte, den Griff abzuschütteln, doch er hatte mal wieder Erwins Stärke unterschätzt. »Soll ich dir eine scheuern?«
»Du hast gestern Abend hier alles blitzblank geschrubbt. Es gibt keinen Grund, warum du dich weiterquälst.« Leises Mitgefühl ließ seine Züge weich werden, das tiefe Blau seinen Augen ermattete zu einer trüben Landschaft der Melancholie. »Bitte hör auf.«
Levi spürte, wie kühles Wasser die Flammen in seiner Brust umspülte. Für diesen einen Moment wollte er vergessen, dass er wütend war, wieso er wütend war, auf wen er wütend war ─ auf Erwin oder sich selbst? ─, er wollte nur, dass Erwin einfach aufhörte. Dass Erwin sich keine Gedanken machte und nur für ihn da war, ganz allein seins, die Gedanken voll und ganz bei Levi, und nicht bei seinen Hirngespinsten, Plänen und Strategien, die spätestens ab jetzt sowieso ins Nichts führen würden. Es war ein egoistischer Wunsch, nichts als ein widerlicher, beschämender Opportunismus.
»Tu mir den Gefallen«, bat er vorsichtig und fasste Levis anderen Oberarm, sodass er gezwungen war, sich Erwin nun vollständig zuzuwenden. »Ich ertrage es nicht, dich so zu sehen.«
»Dann sieh mich nicht an«, entgegnete er und wollte sich von ihm lösen, doch Erwin hielt ihn fest.
»Ich weiß, dir brennt etwas auf der Seele«, stellte er heraus und sah Levi tief in die Augen. »Du kannst mich damit konfrontieren. Ich halte das aus.«
Nein, tat er nicht. Levi würde sich bloß in Rage reden, einen Sturm aus Frustration und Verzweiflung auf Erwin loslassen und ihm damit genug Gründe liefern, ihn für nutzlos und unnötigen Ballast zu halten. Ein Werkzeug, das seinen Zweck nicht erfüllte, unbrauchbar und entbehrlich.
»Erwin, lass mich einfach meine Arbeit machen«, sagte er tonlos und schaffte es, sich Stück für Stück zu befreien.
Erwin hielt ihn nicht auf, sah ihm aber noch eine ganze Weile nach.
• • •
In seiner Rastlosigkeit verbrachte Levi die nächsten Abende damit, in ihrer Gegend zu patrouillieren, wie ein geübter Wachhund das eben so tat. Vor Erwin behauptete er dann immer, er ginge spazieren, auch wenn er sicher längst wusste, was Levi mit seinem Rumgelaufe bezweckte. Aber Erwin ließ ihn einfach. Erlaubte ihm seine paranoiden Rundgänge und stellte keine Fragen. Er wusste, dass Levi letztendlich immer zu ihm zurückkehren würde.
Levi fühlte sich machtlos, und doch lastete auf ihm immerzu der Drang, etwas zu unternehmen. Sein ganzes Leben schon hatte er als ruheloser Mensch verbracht, stets wachsam und voller Tatendrang, daher fiel ihm das Warten schon immer besonders schwer ─ er wollte aktiv handeln, sich selbst und alle um sich herum aus der Misere ziehen. Wenn er das nicht schaffte, konnte er nur helfen, indem er still funktionierte. Desistierte und operierte.
Auch die Routine, die Levi einst so geliebt, so genossen hatte, spendete ihm keinen Trost mehr, war ihm plötzlich lästig, gar unerträglich geworden. Dort, wo Erwin ihn normalerweise abgelenkt und erheitert hätte, blieb nur noch Anstrengung übrig. Wenn er und Levi nicht harmonierten, half auch der geregelte Alltag nicht mehr.
Ein einziger Nachmittag bot ihm wenigstens ein wenig Abwechslung, auch wenn sie in Form eines brillentragenden Reptils mit Pferdeschwanz auftrat.
»Ich bin saumäßig froh, hier mal wieder reinschneien zu können«, grinste Hanji und schlug mit beiden Fäusten auf den Tresen, mal wieder enthusiastischer und energiegeladener, als Levis Nerven momentan ertrugen. »Ich habe nämlich Redebedarf.«
Angestrengt fasste er sich an die Stirn. »Wenn ich wieder was übers Klonen hören muss, bei Gott, Hanji, dann drehe ich dir den Hals um.«
Grübelnd rieb sie sich das Kinn. »Ehrlich gesagt würde ich darüber lieber mit Erwin reden.« Sie ließ den Blick einmal durchs gesamte Café schweifen. »Ist er da?«
»Er ist beschäftigt«, erwiderte er schnell und lehnte sich gegen die Arbeitsfläche, woraufhin Hanji die Lippen zu einem Schmollmund verzog.
»Hat er keine fünf Minuten?«
Levi schnaubte. »Nicht mal fünf Sekunden.«
Enttäuscht lehnte sie die Wange gegen ihre Faust. »Viel beschäftigter Mann.«
»Ja.«
Sie zog eine Augenbraue hoch. »Ja?«
»Ja.«
Mit kritischer Miene studierte sie Levi, wurde bei ihrer Suche nach Auffälligkeiten aber offenbar nicht fündig. »Keine Sorge, auf dich habe ich natürlich auch einen Anschlag vorbereitet«, verkündete sie und kramte in ihrer Tasche nach einem handgroßen Notizblock sowie einem Kugelschreiber, den sie klicken ließ. »Meine versprochenen Fragen, falls du dich erinnerst.«
Levi furchte die Stirn. »Hä?«
»Das heißt: ›Wie bitte?‹« Bevor Levi eine pampige Bemerkung ablassen konnte, setzte Hanji schon zum Reden an. »Also«, sie schlug ihren Notizblock auf, »wie funktioniert das?«
Ein paar Sekunden lang herrschte Stille, in denen Levi sie bloß verwirrt anstarrte. »Wie funktioniert was?«
»Na, du und Erwin«, ergänzte sie, als wäre es selbstverständlich. »Ich will Details.«
»Da gibt es nicht viel zu erzählen«, blaffte er und rollte mit den Augen. »Erwin hat Mitleid mit mir und ich nutze das aus. Wir sind quasi wie füreinander geschaffen.« Als Hanji daraufhin etwas in ihren Notizblock kritzelte, begann Levi, den Glauben an die Menschheit zu verlieren. »Du schreibst das doch nicht wirklich auf.«
»Natürlich!«
Levi riss ihr den Block aus der Hand. »Hör sofort auf damit.«
»Spielverderber«, schmollte sie beleidigt. »Ich bin eben von Natur aus neugierig, ich kann nicht anders.«
»Es ist doch kein großer Hokuspokus, wir essen, schlafen, arbeiten«, er zuckte die Achseln, »und wenn ich gute Laune habe, lasse ich ihn halt mal ran. Da steckt keine Wissenschaft hinter.«
Hanji nickte verstehend. »Gerade geht's mir auch nicht nur ums Wissenschaftliche. Ich will auch wissen, ob alles in Ordnung ist.«
Betont desinteressiert blätterte er den Notizblock durch. »Du bist aufdringlich.«
»Oh Gott, ich will wissen, wie es meinem Freund geht, ich gehe wirklich zu weit.«
»Eben«, entgegnete er, ohne den Blick von ihren Notizen zu lassen. Als Hanji versuchte, nach ihrem Block zu greifen, streckte er seinen Arm so weit nach hinten wie möglich. »Wofür schreibst du dir denn so viel auf?«
»Ich muss meine Gedanken alle aufschreiben, sonst vergesse ich sie sofort wieder. Hier oben«, sie tippte gegen ihre Schläfe, »herrscht pures Chaos. Das reinste Schlachtfeld.«
Levi glaubte das sofort. Er stöberte noch etwas weiter und las: »Levi fragen, ob es eine Frau in der Beziehung gibt.« Entrüstet schlug er den Block auf den Tresen. »Was ist das denn für eine bescheuerte Frage?«
»Ach, das war nur ein erster Gedanke«, beteuerte sie und schüttelte vehement den Kopf. »Ich finde, die Antwort liegt eigentlich auf der Hand.«
»Kein Zweifel, kein Zweifel«, murmelte Levi und nickte verstehend, während er an den Ringlochungen des Notizblocks herumspielte. Er wusste nicht, was auf der Hand lag.
»Also?«, sagte sie und wollte nach ihrem Besitz greifen, doch Levi drehte sich etwas zur Seite.
»Ja, aber, ähm.« Er linste bedruckst zu den hingepfuschten Stichpunkten herunter, dann wieder zu Hanji. »Du musst Erwin vor mir nicht in Schutz nehmen. Sag ruhig, dass er es ist.«
Daraufhin gackerte Hanji vergnügt ihr herzliches Lachen. »Manometer, was redest du denn da? Ich dachte, die Frage wäre, und ich zitiere, ›bescheuert‹.«
»Ja, es ist bescheuert, aber ...« Er zerdrückte den Einband des Notizblocks. »Nur rein hypothetisch: Wenn es eine Frau gäbe, dann wäre ich es nicht.« Da Hanji darauf unschlüssig schwieg, fuhr er fort. »Ich meine, wusstest du, dass Erwin sich noch nie geprügelt hat?«
Unbeeindruckt zog sie die Augenbraue zusammen. »Gut für ihn, schätze ich.«
Unzufrieden verzog er den Mund. »Du verstehst nicht. Er ist eine richtige Memme. Er kann kein Auto reparieren. Und ich muss Leute für ihn hauen und beleidigen, weil er das nicht kann.«
Hanji riss die Augen auf. »Ach so?«
»Ja«, bestätigte er selbstsicher. »Er flucht nie. Und wird nie laut. Oder verliert die Fassung. Er würde sich nie trauen, mich zu schlagen.«
Sie nickte. »Das klingt sehr anständig.«
Unruhig trat er von einem Fuß auf den anderen. »Ja, das ... das hat er so an sich, er ist sehr anständig.« Seine Stimme hatte jegliche Schärfe verloren, ein Messer mit stumpfer Klinge. »Er ist wirklich lieb. Und sanft. Er ist gut zu mir.« Levi zuckte die Achseln. »Meistens, zumindest.«
Als er wieder aufsah, erkannte er das breite Lächeln, das sich über Hanjis gesamtes Gesicht zog.
»Was grinst du denn so blöd?«, schnauzte er, diesmal mit der nötigen Abfälligkeit, woraufhin sie verspielt den Kopf schief legte.
»Du warst süüüß und neeett.«
Trotzig verschränkte er die Arme vor der Brust. »Nein, ich habe Gründe genannt, warum Erwin die Frau ist.«
»Mensch, lass es doch gut sein«, jammerte sie und rollte mit den Augen. »Du solltest dich einfach glücklich schätzen, dass du jemanden gefunden hast, den du offenbar gernhast.«
Levi hielt inne. Glücklich. Das war so ein schwieriges Wort. Keins, das zu Levi passte.
Unangenehm berührt schüttelte er den Gedanken ab und durchsuchte weiter Hanjis chaotische Notizen. Unter einigen weiteren sinnlosen Theorien, Stichworten und Skizzen stach ihm etwas ins Auge, das ihn stutzig werden ließ.
»Levi sagen, dass er ein Flöckchen besuchen soll«, las er vor, konnte seinen Augen nicht trauen. Auf einmal begann sein Herz, heftig gegen seine Rippen zu schlagen, schmerzhaft und unbarmherzig. »Hanji, was bedeutet das?«
Aufgescheucht schlug sie die Hände über dem Kopf zusammen. »Oje! Das ist wichtig«, plärrte Hanji und setzte sich sprunghaft auf. Dann lehnte sie sich etwas zu ihm vor und senkte ihre schrille Stimme. »So eine Frau hat mich angesprochen und meinte, ich soll einem Levi sagen, dass er einem ›Flöckchen‹«, sie machte Anführungszeichen mit ihren Fingern, »einen Besuch abstatten soll. Da ich nur einen Levi kenne, dachte ich, sie meint dich. Das war voll eigenartig! Ich hab nicht ganz verstanden, was das sollte, aber dann ─«
»Hanji«, unterbrach er ihren wirren Ansturm, woraufhin sie schlagartig verstummte. »Was war das für eine Frau?«
Hanji starrte ihn aus großen Kastanienaugen an. »Ähm, die war so blond«, sie gestikulierte wild über ihrem Kopf herum, »hatte die Haare so bisschen kürzer. Ist das jetzt modern oder so?«
Levi nestelte an ihrem Notizblock herum. »Hat sie sonst noch etwas gesagt?«
»Ja«, antwortete sie und beobachtete sein nervöses Getue mit einem argwöhnischen Stirnrunzeln. »Sie hat gesagt, ich soll aufpassen, dass niemand mithört, wenn ich dir das erzähle.«
Levi nickte und legte den Notizblock gedankenverloren auf den Tresen. »Hast du gut gemacht«, murmelte er und mied konsequent ihren Blick, indem er sich wieder der Arbeitsfläche widmete. »Danke, Hanji.«
»Was hat es damit auf sich?«
»Nichts.«
Eine Spur Besorgnis mischte sich in ihren Ton. »Du wirkst angespannt.«
»Bin ich nicht.«
Hanji bedachte ihn eine Weile mit Skepsis, sichtlich nicht befriedigt vom Ergebnis ihres Verhörs. »Gut, dann eben nicht«, seufzte sie und schüttelte den Kopf. »Aus dir mag mal einer schlauwerden.«
»Ich versuche es schon seit einer Weile ─ erfolglos«, ertönte nun Erwins Stimme neben ihnen, weshalb Hanji erschrocken zusammenzuckte. Levi dagegen hatte seine Schritte schon vor wenigen Sekunden vernommen (und gebetet, dass er wieder abkehrte) und blieb dementsprechend gelassen.
Nachdem Hanji sich wieder gefangen hatte, kehrte sie zu ihrem vertrauten Grinsen zurück und scherzte: »Da hat ja jemand doch fünf Sekunden.«
Erwin setzte sein höflichstes Politikerlächeln auf. »Worüber habt ihr Hübschen denn gesprochen?«
»Das ist eine Falle«, warnte Levi und wechselte einen diffamierenden Blick mit Hanji, als wolle er mit ihr per Augenkontakt über Erwin lästern. »Er sagt mir nie, dass ich hübsch bin.«
»Würde dir das denn gefallen?«, fragte er, trotz seines lockeren Tons klang darin eine Spur Ernsthaftigkeit wider. »Soll ich dich öfter hübsch nennen?«
Peinlich berührt senkte Levi den Blick. »Denkst du, ich habe das nötig?«
»Keinesfalls.« Er fasste Levi wie so oft in den Nacken, mit Druck, etwas zu viel Druck, sodass er sich kaum wehren konnte, als Erwin sich zu seinem Ohr herunterbeugte. »Aber schön anzusehen bist du trotzdem«, flüsterte er, beinahe verführend. »Besonders wenn ─«
»Halt doch die Klappe«, schnitt er ihm scharf den Satz ab und griff nach einem Geschirrtuch, um damit gegen seinen Oberarm zu schlagen. »Lass mich in Ruhe, du Idiot.«
Für einen Moment sah es so aus, als wollte Erwin sich herunterbeugen und Levi küssen, um ihn zu ärgern. Davor wurde ihm jedoch bewusst, dass sie noch am Tresen standen, und er zog bloß einen Mundwinkel hoch.
»Entschuldige bitte vielmals«, sagte er mit vorgespielter Reue. Dann ließ er willig von ihm ab, um sich erneut an Hanji zu wenden. »Wir sind ganz natürlich. Das macht dir doch nichts aus, oder?«
Überrascht zog Hanji die Augenbrauen hoch. »Nein, ich«, stammelte sie und sah hilfesuchend zu Levi, der ihr jedoch nur mit blanker Miene begegnete. »Ich muss sowieso.« Sie warf sich ihre Tasche über, die knochige Hand nach ihrem Notizblock auf dem Tresen ausgestreckt, den sie sogleich wie ihr eigenes Kind schützend gegen ihre Brust presste. »Weg.«
Während sie den Laden verließ, sah Levi ihr nach, bis ihr Haarschopf hinter den Fensterscheiben nicht mehr zu erahnen war.
Anschließend richtete er sich mit einem finsteren Blick an Erwin, der nur unschuldig zurückschaute. »Gut gemacht. Für einen billigen Spruch hast du Hanji verjagt«, spottete er verärgert. »Bist du jetzt glücklich?«
Erwin hingegen strahlte unbeeinträchtigte Gelassenheit aus und schenkte ihm ein Lächeln, das an Impertinenz nicht zu überbieten war. »Ich muss gestehen, auch meine Freude hält sich in Grenzen.«
»Lügner«, bellte Levi sofort, sein Herz schlug ihm immer noch wie wild bis zum Hals. »Denk ja nicht, dass du mich mit ein paar billigen Schmeicheleien ruhigstellen kannst. So blöd bin ich dann auch nicht.«
»Wer redet denn hier von Ruhigstellen? Ich bin einfach nett zu dir, mein Lieber.« Gespielt bescheiden zuckte er die Achseln. »Ohne meinen Charme wäre ich doch nicht der, der ich bin.«
Levi verengte die Augen. »Gut. Schön. Schön für dich.«
»Ja, es ist gut. Und schön.«
»Gut«, zischte er noch einmal, in der Hoffnung, dass Erwin endlich die Klappe hielt. Aber der sture Bock ließ sich ja doch nie unterkriegen.
Er nahm Levi das Geschirrtuch (seine einzige potentielle Waffe) ab und beugte sich ein Stück zu ihm herunter, diesmal betont mit Vorsicht. »Du siehst heute wirklich toll aus.«
»Und du meinst, an allen anderen Tagen nicht?«, konterte er, jedoch hatte eine plötzliche Verlegenheit seinem Ton sämtliche Schärfe entzogen.
Erwin lachte nur. »An allen anderen Tagen so wie heute.« Er richtete sich wieder auf. »Kratzbürste.«
• • •
Levi wusste nicht, ob das eine gute Entwicklung war, aber seit Kurzem las er wieder mehr. Sobald es nichts mehr gab, das er auf Hochglanz polieren konnte, steckte er ─ ähnlich wie Erwin zuvor ─ seine Nase in ein Buch und reiste quer durch den Westen und über seine Grenzen hinaus. Erwin besaß so viele Bücher, dass es fast zu leicht war, sich abends darin zu verlieren.
Meistens saß er dann im Wohnzimmer, weil er die Stille in seinem eigenen Zimmer nicht ertrug. Er mochte es, auf dem Sofa zu sitzen und Erwin zu lauschen, wenn er an seinem Schreibtisch saß oder telefonierte, Tassenabdrücke hinterließ und Notizen über Notizen schrieb. Die alltäglichen Hintergrundgeräusche gaben ihm Sicherheit. Dass Erwin noch da war, dass alles noch da war, dass trotz der bedrohlichen Risse und Sprünge noch nichts zusammengebrochen war, dass sie beide funktionierten. ─ Allerdings begannen die ersten Schäden langsam, sich bemerkbar zu machen.
Auch wenn Erwin versuchte, es zu verbergen, war er rastloser geworden, schlief schlechter, übersprang Mahlzeiten, versank ständig in Gedanken; manchmal sprach er sogar ein paar zusammenhangslose Wörter mit sich selbst. Letzteres war sicher auch Levis Schuld. Er war schon immer ein wortkarger Mensch gewesen, aber die letzten Tage hatte er Erwin vernachlässigt und ihm auf diese Weise kaum Möglichkeiten geliefert, das zu tun, was er am liebsten tat: reden.
Zunächst machte Levi sich selbst weis, dass er das aus Rücksicht tat, um jede Gefahr auszuschließen, dass er wieder die Kontrolle verlor. Wenn er jedoch tief in sich hineinhorchte, wusste er, dass er bloß die unterschwellige Schwere und Erschöpfung in Erwins Stimme nicht ertrug.
Eines Abends wog das Schuldgefühl in Levis Brust schwer und er raffte sich auf, um sich herüber zum Schreibtisch zu schwingen. Erwin saß bloß in seinem Sessel und starrte an die Wand, tat nichts, sagte nichts, hilflos. Jemand, der sich wagemutig in die Weiten des Ozeans gewagt hatte und nun drohte, darin zu ersaufen.
»Hey«, murmelte Levi und stupste seine Schulter an, damit er aus seiner Traumwelt erwachte. »Was denkst du gerade?«
Für einige Sekunden bewegte Erwin sich nicht, seine Hand ruhte weiterhin nachdenklich auf seinen Lippen. Erst kurz darauf nahm er Levis Präsenz wahr und ließ die Hand sinken, sein Blick blieb weiterhin an der Tapete vor sich kleben.
»Ich habe geblufft«, gestand er unvermittelt, ohne jegliche Zurückhaltung, nichts als reine Ehrlichkeit. Betroffen schloss er die Augen, schüttelte den Kopf. »Und sind wir ehrlich, Ezechiel hat das bestimmt auch getan. Er würde nie etwas tun, das ihn und sein Geschäft gefährdet.«
Levi biss sich auf die Wange. »Er ist ein Mistkerl. Ich würde es ihm zutrauen.«
Ein tiefes Seufzen kam Erwin über die Lippen. Er ließ eine Hand durch sein Haar fahren, bevor er sie wieder fest gegen seine Stirn presste. Dann machte er ein Geräusch, das ein bisschen wie ein Lachen klang. »Was mache ich hier, Levi?«, fragte er leise. »Ich habe keinen Wagen, keine Ware, keine vertrauenswürdigen Leute.«
Levi wusste nicht, was er sagen sollte. Genau das hatte er befürchtet. Dass Erwin ihm seine nackte Verzweiflung offenbarte und er nicht wüsste, was er damit anfangen sollte.
»Aber ich bin da«, brachte Levi hervor. Es war das Einzige, das ihm dazu einfiel. »Mir kannst du vertrauen.«
Erwin sah endlich auf. Er taxierte ihn einen Moment lang prüfend, als wollte er sichergehen, dass er sich Levi nicht eingebildet hatte. »Ja«, erwiderte er und nickte mit festem Blick. »Das stimmt.«
Während Levi ihn so betrachtete, fiel ihm auf, dass er Erwin eine Weile nicht mehr richtig ins Gesicht geschaut hatte. So grauenerregend diese Realisation auch war, schauderte es ihn umso mehr, dass er das Gefühl hatte, etwas an Erwins Erscheinung nicht wiederzuerkennen. Irgendetwas stimmte einfach nicht. Und es war keineswegs nur der Frust in seinen Zügen.
»Was ist mit dir?«, fragte Levi irgendwann.
»Wie bitte?«
»Etwas ist anders an dir«, klagte er, suchte den Fehler. »Mit deinem Gesicht.«
Erwin runzelte die Stirn. »Ich wüsste nicht.«
»Doch, du«, Levi verstummte augenblicklich, als er auf einmal den feinen Schatten entdeckte, der sich über Erwins Wangen, sein Kinn und seine Kiefernpartie ausgebreitet hatte. »Du kannst es ja doch. Dir wächst ein Bart.«
Erwin schwieg, während Levi nach wie vor versuchte, das Gesehene zu verarbeiten. Er trat vor, fasste Erwin ans Kinn und drehte seinen Kopf nach links und rechts, um sein Antlitz zu begutachten. Die Stoppeln stachen rau in seine Fingerkuppen, fühlten sich nicht richtig an.
»Nein«, sagte er und kniff streng die Augen zusammen. »Es gefällt mir nicht. Weg damit.«
»Jetzt?«
»Keine Widerrede. Weg damit. Auf der Stelle.«
Erwin zog die dicken Augenbrauen zusammen. »So schlimm?«
»Das ist die Untertreibung des Jahres, Erwin«, schnaubte er belustigt, wurde aber schnell wieder ernst. »Weg. Damit. Ich sage es nicht noch einmal.«
»Du kannst mich nicht dazu zwingen.«
Levi beugte sich bedrohlich zu ihm herunter. »Willst du es wirklich darauf anlegen?«
Erwin seufzte, gehorchte aber und ließ sich wehrlos ins Badezimmer verfrachten. Dabei stellte er verwundert fest, dass es offenbar Levi höchstpersönlich war, der sich seiner Rasur widmen wollte.
Levi zog den Hocker heran, auf dem er selbst einst gesessen hatte, als Erwin ihm die Haare geschnitten hatte, und schob ihn bis vors Waschbecken. Erwin fügte sich seinem Schicksal und ließ sich nieder, woraufhin Levi ihm die untere Gesichtshälfte sorgfältig mit Rasiercreme einschmierte. Die Stoppeln fühlten sich immer noch seltsam an.
»Denkst, weil du ein bisschen Stress hast, erlaube ich dir, dass du dich gehen lässt«, krittelte er und griff hinter sich nach einer Rasierklinge, bevor er Erwins Kinn umfasste und die Klinge zu seiner blassen Haut führte. Sobald das kühle Metall seine Wange streifte, zuckte Erwin jedoch, was Levi sofort innehalten ließ. »Du hast gesagt, du vertraust mir.«
»Ich vertraue dir«, beteuerte Erwin und umfasste Levis Unterarm, »und ich vertraue darauf, dass du gute Absichten hast, aber ich weiß, dass jedem normalen Menschen Fehler unterlaufen können. Das ist nur logisch, kein Misstrauen.«
Levi schnaubte überheblich. »Ich bin aber kein normaler Mensch. Ich mache keine Fehler«, behauptete er, was Erwin gleichermaßen amüsiert wie ungläubig die Stirn runzeln ließ. Levi seufzte und strich Erwin eine seiner goldenen Strähnen aus dem Gesicht. »Ich passe auf«, flüsterte er. »Versprochen.«
Ein unauffälliges Lächeln umspielte seine Lippen. »In Ordnung, Levi.«
Levi konzentrierte sich wieder auf seine Arbeit. Er setzte die Klinge an Erwins Haut und begann, rechteckige Felder aus dem Schaum herauszuschneiden, penibel und gründlich, aber stets mit dem nötigen Feingefühl.
Erwin beobachtete den gesamten Prozess, diesmal reglos und ohne zu zucken. Im Gegenteil, er schien sich in Levis Händen sogar ganz wohlzufühlen, ertränkte ihn mit seinem empfindsamen, liebevollen Blick.
»Levi?«
»Nicht bewegen«, mahnte er und hob die Klinge wieder an.
»Darf ich fragen, was du eben gelesen hast?«
Levi überlegte kurz. »Irgendwelche philosophischen Texte«, erwiderte er ungerührt. »Es war unfassbar langweilig. Aber ich wollte mal wissen, woher du den ganzen Quatsch herhast, den du erzählst.« Er setzte die Klinge erneut an. »Jetzt, pscht.«
Nachdem jedes Blond von Erwins unterer Gesichtshälfte verschwunden war, gestattete Levi es ihm, sich das Gesicht zu waschen, und tupfte anschließend mit einem Handtuch seine feuchte Haut ab. Dann trat er zurück und nahm sich erstmal etwas Zeit, sein Werk zu betrachten.
Erwins Haut glänzte glatt und weich gegen das warme Licht, wirkte wieder schön, gewohnt und vertraut. Levi wollte sie berühren, streichelte mit dem Handrücken zärtlich über seine Wange, sodass Erwin sich hineinlehnen und die Augen schließen konnte.
»So gefällst du mir viel besser«, lobte er leise und beugte sich vor, um seine Lippen flüchtig gegen die Erwins zu pressen. Im ersten Moment versuchte er, sich zu beherrschen, und löste sich ein Stück weit von ihm, woraufhin seine Lippen für eine Weile bloß still über Erwins Atem schwebten.
Auf einmal überkam ihn wieder diese unerträgliche Sehnsucht, jene, die ihm immerzu aufs arme Herz drückte und fühlen ließ, als fehle ihm etwas, sein Pendant, seine Harmonie. Der Schmerz in seiner Brust lastete schwer und er wurde schwach, so unglaublich schwach, dass ihm die Knie beinahe versagten.
Seine Lippen fanden wieder die Erwins und er küsste ihn, ohne weiter darüber nachzudenken, diesmal deutlich länger. Mit jeder Sekunde wurde der Kuss ungewollt verlangender, intimer, drängender, weil sie beide in letzter Zeit einfach viel zu wenig davon bekamen. Erwin war gut, unwiderstehlich, bewegte sich genauso, wie Levi es brauchte, oder er war so tief gesunken, dass er den Unterschied gar nicht mehr kannte.
Bevor es zu viel wurde, packte er Erwin beim Kragen und drückte ihn bestimmt von sich. »Komm«, flüsterte er und zog Erwin vom Hocker, um ihn hinter sich aus dem Bad herüber in sein Schlafzimmer zu befördern. Auch in Erwins Zimmer hatte er die letzten Tage sauber gemacht, aus der Sorge heraus, dass er sonst am Staub ersticken könnte.
Ungeduldig schob er Erwin quer durch den Raum und öffnete sein Hemd, zog es ihm von den Schultern und riss sich auch sein eigenes Oberteil über den Kopf.
»Warte«, sagte Erwin, wurde aber von einem Paar Lippen unterbrochen, das all seine Hemmungen im Keim erstickte. Levi investierte seine gesamten Emotionen ─ Angst, Wut, Schmerz ─ in seine Berührungen und ließ sich vollkommen von ihnen beherrschen, verging in Erwins Wärme und Nähe, seiner Präsenz, dem bloßen Echtsein von ihm, suchte Halt.
Er stieß Erwin zurück auf sein Bett und folgte ihm ungehindert, damit er sich wieder tief über ihn beugen konnte. Sobald ihre Lippen aufeinandertrafen, legte er Erwin eine Hand auf die Brust und drängte ihn unsanft zurück, bis seine Schulterblätter die Matratze berührten. Erwins Hände fanden seine Taille und zogen ihn näher an sich, weshalb Levi die Fingerspitzen vorsichtig über seine Rippen hin zu seinem Bauch wandern ließ und ertastete, wie sich dort eine Gänsehaut ausbreitete.
Als Levi sich wieder von ihm trennte, rutschte er zurück, um Erwins Gürtel zu lösen und ihm die Hose über die endlos langen Beine zu schieben. Alles an Erwin war überproportional und sperrig, unnötig groß und überall im Weg, aber es war gut so, fühlte sich richtig an.
»Levi«, seufzte er und verfolgte, wie Levi sich wieder eng an ihn lehnte, zu eifrig, zu hastig, suchte ihre Herzschläge, bis sie synchron wurden. Dabei sah Erwin ihn stets aus dunklen, lustgetränkten Augen an, ein Anblick, der Levis Entschlossenheit weiter festigte, auch wenn darin nach wie vor ein innerer Kampf tobte.
»Ich bin heute nur für dich da«, säuselte er gegen seine Lippen, seine Nasenspitze traf kaum spürbar die Erwins. »Ich weiß, ich war in letzter Zeit nicht gut zu dir. Aber ich mach's wieder gut.«
»Du musst nicht«, setzte er an, doch Levi schüttelte den Kopf und küsste seinen Mundwinkel.
»Ich will, dass du mich nimmst«, bestimmte er, Erwins schöne Topasaugen weiteten sich ein Stück. »Und du wirst es gut machen.«
Guter Schmerz. Schmerz, der sich lohnte.
Erwin bedachte ihn fasziniert, wie in einen Bann gezogen. »Sicher?«
»Ich vertraue dir«, hauchte Levi, und es klang wie ein Versprechen, ein weiterer Treueschwur, etwas Handfestes, woran Erwin sich halten konnte, wenn die Welt in sich zusammenbrach und alles ins Chaos stürzte. Im Prinzip war es nichts, überflüssig und unbrauchbar, wenn man bedachte, was gerade alles den Bach runterging, aber es war das Mindeste, das Levi ihm geben konnte. Er hatte ja sonst nichts.
Levi küsste ihn, wieder und wieder, spürte den Aufruhr der letzten Wochen zwischen ihnen, und als er dann stöhnend dort lag, sich ihm voll und ganz hingab und den Verstand verlor, fragte er sich, ob er Erwin nicht schon auf ewig verfallen war.
• • •
Eine schreckliche Szene riss Levi aus dem Schlaf. Instinktiv tastete er nach seinem Messer, wurde aber nicht fündig und merkte, wie Panik in ihm aufwallte. Als er sich aufsetzen wollte, spürte er Widerstand in Form zweier Arme, die seine Taille umschlossen.
Hektisch riss er den Kopf herum und versuchte, in der Morgendämmerung die Bedrohung zu identifizieren, stets in dem Glauben, er müsse sich gleich verteidigen. Sobald er dort jedoch einen vertrauten Blondschopf vorfand, flachte die Aufregung ab und sein Puls beruhigte sich wieder.
Es war nur Erwin.
Levi wandte sich ihm vollständig zu und betrachtete ihn in aller Stille, sein Kaisergesicht, seinen perfekten Kiefer und sein chaotisches Haar, das er gestern rücksichtslos verwüstet hatte. Als er einen Blick unter die Decke warf, entdeckte er dort Erwins Hemd (es schmeichelte Levis Figur nicht sonderlich) und die Erinnerungen des letzten Abends kamen ihm wieder in den Sinn, weshalb sein Herz begann, wie wild gegen seine Brust zu pochen.
Anscheinend hatte Erwin den Aufruhr mitbekommen, denn er flatterte träge mit den Augenlidern und sah ihn beunruhigt an. »Levi?«, nuschelte er müde. »Hast du wieder was geträumt?«
Levi nickte bloß stumm.
»Mh«, machte er und senkte den Kopf, um das Gesicht in Levis Brust zu vergraben und seinem Herzschlag zu lauschen. Seine Arme umschlangen nach wie vor eng Levis Körper, ließen ihn gar nicht mehr los, ein schützendes Versteck. Levi schämte sich dafür, wie sicher und geborgen er sich fühlte, zu sicher, gefährlich sicher.
Eine von Erwins Händen bahnte sich wieder einen Weg zu seinem rechten Oberschenkel und rieb die empfindliche Haut dort, fast so als wäre er auf der Suche nach etwas. Prickelnde Hitze stieg in Levis Bauch auf, wollte sich unweigerlich in seine tieferen Regionen ausbreiten.
»Sag nicht, du willst wieder«, klagte er und fuhr ihm durchs weiche Haar.
Erwin antwortete nicht und strich ungestört über sein rechtes Bein. »Mir ist aufgefallen«, er löste sich ein Stück weit von Levi, »dass du hier irgendwo eine Narbe hast.«
Levi nickte. »Kann sein.«
»Ich habe schon eine Theorie«, murmelte er und ließ die Hand harmlos zu seinem Rücken wandern. »Ich glaube, du hast dich sehr viel mit großen, bösen Jungs gehauen.«
»Tolle Theorie.«
Erwin wusste sofort, was er hören wollte. »Aber es ist schön zu wissen, dass du zumindest immer gewonnen hast.«
Levi schnaubte. »Ich habe noch nie einen Kampf verloren«, flüsterte er, weniger prahlend als eher bedauernd. »Aber ich war kindisch und überheblich, deswegen habe ich das ein oder andere eingesteckt.«
Ein gedämpftes Lachen erhellte den Raum. »Warum kann ich mir das so gut vorstellen?«
Levi überlegte, dem etwas Freches oder schlichtweg Beleidigendes entgegenzusetzen, merkte aber, dass er das eigentlich nicht wollte. Zumindest nicht jetzt. Er entschied sich stattdessen, Erwins Haar weiter zu verunstalten, weil er sich das erlauben konnte.
Daraufhin schob Erwin seine Hand behutsam unter Levis Hemd, um die Konturen seiner Wirbelsäule nachzufahren. Ein warmer Schauer lief ihm über den Rücken, erfüllte seinen Körper unaufhaltsam mit Wärme.
»Hey«, machte Levi und wand sich in Erwins Klammergriff, jedoch ohne den nötigen Biss. »Behalt deine Griffel bei dir.«
Erwin hörte nicht. Natürlich hörte er nicht. Er wusste schon ganz genau, dass Levi sich in seinen Armen wohler fühlte, als er sollte.
Was würde er nur geben, dass es für immer so blieb? Sie beide ganz allein, während die Sonne nur mit Mühe aufging und die Dämmerung nie endete, sie in die schützende Hülle des Morgens einschloss.
Wenn Levi seinen Egoismus zuließ, stellte er sich gerne vor, wie sie beide Erwins Traum aufgaben. Wie sie den Advokaten vergaßen und einfach nur Kaffee und Tee machten. Ein paar Jahre fürs Erste, und dann würden sie schon sehen, wohin es sie verschlug. Vielleicht ja nach Kuba.
Am liebsten würde er Erwin alles abnehmen, allen Ballast und Schwermut, der sein sonst so schillerndes Charisma unter ihrem Gewicht begrub. Seinen Idealismus, der Besitz von ihm ergriffen hatte und ihn nicht mehr losließ, an ihm nagte wie ein schlechtes Gewissen. Seine Hoffnung, die langsam in Trostlosigkeit und Elend mündete, obwohl sie ihn eigentlich aufbauen sollte.
Erwin streckte seinen Arm aus, nach einer Idee, einer Zukunft, die er sich herbeisehnte und doch nie erreichen konnte, so sehr er es auch versuchte. Ein Traum war am Ende auch nur das: ein Traum. Eine Wunschvorstellung, eine kindliche Fantasie, eine Münze in einem Brunnen.
Nervös schüttelte Levi das Bild ab. »Erwin«, begann er langsam, verstummte dann aber wieder. Während er überlegte, ob er fortfahren sollte, horchte Erwin bereits aufmerksam auf. »Glaubst du immer noch ... an deinen Traum?«
Ein leises Lachen ertönte von seiner Seite, in dem vergeblichen Versuch, damit die Resignation in seiner Stimme zu übertönen. »Da fragst du mich was.«
Sein Herz begann, aufgeregte Sprünge zu machen. Levi schämte sich dafür, aber er sah in Erwins Verletzlichkeit und Desillusion eine Chance. Wenn er es jetzt schaffte, die richtigen Worte zu wählen, könnte er Erwin ins Gewissen reden.
»Ich habe nachgedacht«, brachte er hervor. Er wartete auf eine Reaktion, doch Erwin blieb in seiner Position, erschöpft und zart in Levis verzweifeltem Griff. »Vielleicht sollten wir ... aufhören.«
»Wie meinen?«
»Du weißt schon«, flüsterte er wie selbstverständlich, woraufhin Erwin verständnislos zu ihm aufsah. »Wir lassen alles hinter uns. Schlagen uns nicht mehr mit Arschlöchern wie Zeke rum.«
Ungläubig zog Erwin die Augenbrauen zusammen. »Ach, ja?«
»Wir leben einfach hier.« Er legte eine Hand an Erwins Schläfe, sodass er mit dem Daumen über seine linke Augenbraue streichen und sie wieder glätten konnte. »Und machen Kaffee. Putzen schön. Trinken Tee. Und ich lese alle deine Bücher.«
»Das sind eine Menge Bücher.«
Levi nickte. »Und ich lese sie alle.«
»Aber dann hast du doch keine Zeit für mich«, klagte er, was ihm ein Augenrollen von Levi einräumte.
»Wir bauen uns eine ganz eigene Welt. Und reden bis spät in die Nacht«, wisperte er und führte die Hand zu Erwins Brust, sodass er ihn auf den Rücken rollen und sich über ihn wälzen konnte. »Und ich kümmere mich natürlich gut um dich.«
»Levi«, mahnte er, doch Levi wollte es überhören und beugte sich zu ihm herunter. Behutsam ließ er die Lippen über seinen Torso wandern, küsste seine Rippen bis hin zu seinem Bauch und spürte, wie sich Erwins feine Härchen unter seinen Berührungen aufstellten.
»Stell es dir einfach mal vor«, raunte er gegen seine Haut und nestelte am Bund seiner Unterhose, bis er unvermittelt einen starken Griff um sein Handgelenk spürte.
»Aufhören«, befahl Erwin, seine Stimme klang dunkel und eben, bedrohlich in ihrer stoischen Ruhe. Die angedeutete Warnung darin ließ Levi sofort innehalten.
Unschuldig blickte er auf. »Womit?«
»Ich weiß, was du versuchst.«
Levi küsste die Stelle unter seinem Bauchnabel, ohne ihn aus den Augen zu lassen. »Ich will nur, dass du dich gut fühlst.«
»Levi.«
Die Endgültigkeit in Erwins Ton brach schließlich seinen Willen. »Langweiler«, spottete er und ließ von ihm ab. »Hörst du? Du bist langweilig.«
»Meinetwegen«, erwiderte er und beobachtete, wie Levi vom Bett rutschte. »Wohin?«
»Muss ich dir jetzt erklären, wie Aufstehen funktioniert?«
Erwin verfolgte kurz, wie Levi die Arme in die Luft reckte und sich dehnte. »Bleib doch noch ein wenig«, bat er sanft und tippte neben sich auf die Matratze, seine Gesichtszüge wurden weich.
Wenn Erwin ihn so anschaute, konnte Levi kaum anders, als schwach zu werden und sich in seine Arme zurückzusehnen. Im letzten Moment beschloss er jedoch, dass er ihn für seine Unklarheit bestrafen musste.
»Es wartet Arbeit auf uns.«
Erwin schüttelte missfällig den Kopf. »Das war dir noch egal, als du versucht hast, mich auszuziehen.«
»Das«, setzte er an, biss sich auf die Wange. »Das war was anderes.«
Da Erwin immer noch keinerlei Anstalten machte, aufzustehen, griff Levi nach seiner Decke und warf sie zu Boden. »Raus aus den Federn«, forderte er. »Komm.«
Sobald er den Windzug spürte, verspannte Erwin sich ungemütlich und eine Gänsehaut erstreckte sich über seinen Körper. Trotzdem blieb er stur dort liegen, so blöd, wie er eben war.
Levi kroch wieder ins Bett und schnappte ihm ruckartig das Kissen weg, sodass sein Kopf mit einem dumpfen Geräusch auf der Matratze landete.
»Du bist so böse«, jammerte er, was Levi gelassen mit »diszipliniert« korrigierte.
In dieser Position war Erwin so gut wie schutzlos und Levi nutzte das aus, improvisierte das Kissen zur Waffe um und drückte es ihm aufs Gesicht, wie er es sich schon einige Male vorgestellt hatte, wann immer er wütend auf ihn war. Erwins Arme zuckten kurz, als wolle er nach Levi schnappen, doch er ließ die Hände schnell wieder sinken und spielte toter Mann, statt sich vehement gegen den Mordversuch zu wehren. Entnervt presste Levi den Stoff härter in sein Gesicht, suchte Not, suchte Angst.
In seiner Fantasie hatte Erwin mehr gekämpft.
»Gott, du musst einem auch alles kaputtmachen«, seufzte Levi und warf das Kissen beiseite, sodass Erwins dämliches Lächeln wieder zum Vorschein kam.
»Tut mir leid.«
»Tut es nicht.«
Gespielt mitleidig neigte er den Kopf. »Sind wir wieder sauer?«
Levi fand das nicht witzig. Er wollte von der Matratze steigen, doch Erwin hielt ihn am Unterarm fest.
»Hey«, flüsterte er und zwang Levi auf die möglichst netteste Art, neben ihm sitzen zu bleiben. »Was ist los, hm?«
Unbeteiligt legte er die Hände in den Schoß und verzichtete bewusst darauf, Erwins Blick zu erwidern. »Du hast nicht geantwortet«, murmelte er, was Erwin verwunderte.
»Auf was?«
Irritiert runzelte er die Stirn. »Stell dich nicht blöder, als du bist.«
Da Erwin ihm immer noch keine Antwort gab, überlegte Levi fieberhaft, wie er bloß all seine Gedanken in einer Frage konzentrieren sollte. Mit Mühe schaffte er es, wieder den Kopf zu heben und direkt in Erwins Topasaugen zu sehen.
»Wie weit möchtest du gehen?«, brachte er schließlich hervor. Es lag keinerlei Hohn oder Spott darin, nichts außer Ehrlichkeit und Ernsthaftigkeit.
Ein unerwartetes Schweigen dehnte sich aus, schien keine Grenzen finden zu wollen. Die Fäden an Erwins Gesichtszüge wirkten enger geschnallt, als hätte er erst jetzt Gelegenheit bekommen, dieses Rätsel Stück für Stück auseinanderzupflücken und zu lösen.
»Ich meine«, brach Levi die Stille, »wann ist für dich die Grenze erreicht? Hast du kein Gefühl dafür, wann es dir zu viel ist?«
Bei diesen Worten kam Erwin wieder zu sich. Die Unsicherheit in seiner Miene wurde unkenntlich, panisch verborgen hinter dem Vorhang der angeblichen Ruhe, doch sie drang durch seine Bewegungen hindurch. Sobald er sich aufsetzte und versuchte, sich an Levi vorbeizuschieben, packte dieser seine Schulter und drückte ihn zurück.
»Irgendwann fängst du an, kaputtzugehen«, klagte er, leiser Schmerz verzerrte seine sonst so ebene Stimme. »Falls du das nicht schon tust.«
Vehement schüttelte Erwin den Kopf. »Tue ich nicht.«
Ihm war das Gespräch sichtlich unangenehm. Erwin war es nicht gewohnt, dass jemand ausnahmsweise ihm helfen wollte, und nicht umgekehrt.
»Bei mir weißt du immer ganz genau, was du sagen musst. Was richtig und falsch ist«, seufzte er, rieb mit dem Daumen beruhigend über seinen Nacken. »Aber bei dir scheinst du immer sofort alles zu vergessen. Du nimmst gar keine Rücksicht auf dich selbst. Du forderst von dir selbst Dinge, über die du keine Kontrolle hast. Und das setzt dich enorm unter Druck.«
»Levi«, schnitt er ihm den Satz ab und kniff die Augen zusammen. »Ich weiß, du meinst es gut, aber du lehnst dich gerade etwas zu weit aus dem Fenster.«
Levi hielt inne. Ein ungekannter Schmerz wuchs in seiner Brust heran, kletterte bis hoch in seine Kehle und herunter in seinen Bauch, wo er ihm den Magen verknotete.
Einige Male ließ Levi sich das Gesagte nochmal durch den Kopf gehen, suchte etwas Harmloses, Erträgliches darin, doch es klang so, als dürfe er nicht so daherreden, als dürfe er es nicht wagen, Erwin so tief ins Herz zu schauen. Und diesmal lag die Schuld nicht nur bei seinem Pessimismus oder dem nervtötenden Drang, aus jeder von Erwins Aussagen das Schlimmste und Grässlichste hervorzuholen, nein, diesmal war er nicht das Problem.
Betroffen ließ Levi den Blick sinken, zog seine Hand zurück, weit weg von ihm. »Ah«, erwiderte er tonlos.
Erwin neben ihm blieb eigenartig still. Levi traute sich nicht, ihm in die Augen zu sehen. Sein Inneres war eine Mischung aus stechender Scham und Reue, Gefühle, die Erwin nicht sehen sollte und die Levi gezielt mit blanker Apathie überspielte.
Erschöpft stand er auf, in der Hoffnung, dass Erwin ihm seine Eile nicht anmerkte, und steuerte auf die Kommode am anderen Ende des Raumes zu, wo er zügig seine Kleidung zusammensuchte (er hatte sie nicht wie ein Tier auf dem Boden liegen gelassen). Dann zog er sich Erwins dämliches Hemd über den Kopf, warf es rücksichtslos auf den Boden und ließ ihn ein letztes Mal gaffen, bevor er endlich in seine eigene Hose und sein eigenes Unterhemd schlüpfte.
»Dann schaue ich mal. Dass ich. Nicht mehr in die Nähe von Fenstern komme«, murmelte er mehr zu sich selbst und versuchte, seine zerzauste Mähne zumindest etwas zu zähmen.
Ihm war auf einmal ganz kalt. Er wollte unbedingt unters heiße Wasser.
»Ja.«
Erst jetzt schaffte er es wieder, Erwin anzuschauen. Seine sonst so glimmernden Topasaugen waren dunkel und trüb, nächtliches Meer, erfüllt von Wehmut, schienen Levi nicht mehr loslassen und unter ihren wallenden Fluten bestatten zu wollen.
Erwin war wie der Ozean. Schön und ruhig aus der Ferne, doch wer sich zu tief hineinwagte, drohte, dort Bekanntschaft mit der Strömung zu machen und von ihr mitgerissen zu werden.
Für einen Moment fühlte es sich an, als hätte das Wasser Levi tatsächlich die Lungen verstopft. Seine Worte sanken schwer, schwammen im Sterben. »Wir sind wie füreinander geschaffen, nicht?«, sagte er, wofür er ein Schnauben von Erwin erntete.
»So was von dir.«
Levi bedachte ihn mit betonter Distanz. »Ich meine, wir haben einander verdient.«
Bevor Erwin dem etwas entgegensetzen konnte, trieb Levi aus dem Raum und rieb sich die Unterarme, bis sie ganz rot waren.
▅▅▅▅▅▅▅▅▅▅▅▅▅▅▅▅▅▅▅▅▅▅▅▅▅
Abend! Kurzes Update. Ich war mir nicht sicher, ob ich Kapitel 16 und 17 aufspalten sollte, aber jetzt habe ich mich endlich entschieden und sie schweren Herzens doch aufgetrennt.
Ja, ich habe den Porno nicht ausgeschrieben. Ich habe durchaus mit dem Gedanken gespielt, habe es mir aber letzten Endes nicht zugetraut. :') Ich bleibe fürs Erste lieber bei meinen Anspielungen und milderen Szenen. Den Rest überlasse ich eurer freien Interpretation. Danke fürs Lesen und alles Liebe! <3
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro