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Kapitel 11: Zuckerbrot und Peitsche

Levi war eine tickende Zeitbombe.

Als Erwin in seinen VW stieg, ergriff Levi der Drang, sein Messer zu zücken und die Reifen zu zerstechen. Auch während der Fahrt überlegte er immer mal wieder, Erwin ins Lenkrad zu greifen und sie beide in einen Baum oder ein Gebäude krachen zu lassen, sehr wohl bewusst, dass er dabei draufgehen könnte. Oder als sie vor einem Wohnkomplex zum Stehen kamen, blitzte ihn ein Stück abgebrochener Bordstein verführerisch an, mit dem man ein Fenster einschmeißen könnte.

Levi war eine tickende Zeitbombe. Und Erwin wusste das.

Er hatte das Lenkrad ziemlich fest gehalten, bis die Knochen unter seiner Haut sichtbar wurden, als hätte man sie mit Säure verätzt. Auch den Bordstein kickte er sicherheitshalber beiseite und folgte Levi anschließend, der sich bereits ungeduldig einer metallumrahmten Milchglastür näherte.

»Was wollen wir hier?«, blaffte er, das Erste, das er seit der Fahrt zu Erwin sagte.

»Wir besuchen jemanden«, erklärte er bündig und studierte die Liste mit Nachnamen, die sich neben dementsprechenden Klingelknöpfen reihten.

»Wen?«

Erwin senkte seinen Finger über die Initialen Zacharias. »Erinnerst du dich zufälligerweise noch daran, als du Ezechiel misshandelt hast und wir daraufhin rausgeschmissen wurden?«, stichelte er mit einem humorlosen Lächeln, woraufhin Levi die Augen verdrehte. »Tja, dadurch habe ich meinen Informanten nicht treffen können.«

Als etwas wie Schuldbewusstsein in ihm aufkommen wollte, schluckte Levi es stur herunter. »Tss.«

»Ich verschaffe mir etwas Abhilfe, um wieder Kontakt aufzunehmen«, fuhr er fort und wartete, bis ein leises Surren ertönte, stoisch und nonchalant wie immer, allerdings immerzu mit einem bitteren Unterton, herb, wie der Nachgeschmack einer reifen Birne.

Unzufrieden verzog Levi den Mund, fragte aber nicht weiter nach.

In der Zwischenzeit hatte Erwin bereits die Tür aufgestoßen und ließ Levi den Vortritt, ein peinlicher Höflichkeitsakt, den er mit einer gelangweilten Miene quittierte. Unbeeindruckt schob er sich an Erwin vorbei und sah sich im Treppenhaus um. Der Putz an den Wänden bröckelte und war mit Flecken übersät, die Stufen unnötig hoch und eng aneinander gepresst, als wären sie nur für tollpatschige Deppen erbaut worden, damit sie sich darin verhakten und das Genick brachen. Oder die Wirbelsäule.

Erwins Präsenz pochte in seinem Augenwinkel und fegte an ihm vorbei, während seine Schritte irgendwo weit oben verhallten. Als er begann, die ersten Stufen zu erklimmen, folgte Levi ihm stets zügig, aber achtsam. Er wagte es nicht, nach dem Geländer zu greifen, es sah wackelig, alt und fragil aus. Wäre er nicht so miesgelaunt, würde er sagen, dass ihn das an Erwin erinnerte, doch er hielt die Klappe und konzentrierte sich stattdessen auf seinen Rücken.

Im dritten Stock blieb Erwin zwischen zwei Türen stehen und wählte die rechte. Sie wurde lediglich um einen zögerlichen Spalt geöffnet. Dazwischen lugte ein dunkelblonder Mann, über dessen Mund ein spärliches Bärtchen um seine Existenz kämpfte. Die spitz zulaufende Nase darüber verlieh ihm eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Zwergpinscher.

»Guten Tag«, grüßte Erwin freundlich, eine gestelzte Lässigkeit in der Stimme, die allerdings nicht bei Herrn Zacharias ankam. Er musterte Levi misstrauisch, woraufhin dieser nur die Stirn runzelte.

Nervös schaute er wieder zu Erwin. »Ich habe dir gesagt, du sollst keine Fremden mitbringen«, munkelte er in der Hoffnung, dass der Schwarzkopf es nicht verstand, wo er doch buchstäblich keinen Meter von ihm entfernt war.

Beschwichtigend hob Erwin die Arme. »Er ist vertrauenswürdig.«

»Kann ich nicht garantieren«, kommentierte Levi, zufrieden mit jedem noch so kleinen Schaden, den er potentiell anrichten konnte. Als Erwin ihn mahnend beäugte, schaute Levi mit nichts als purer Gleichgültigkeit zurück.

»Darf ich?«, lud Blondie sich selbst ein und schob die Tür ein Stückchen auf, bis der Zacharias nachgab und sie beide eintreten ließ. Sobald Levi an ihm vorbeiging, bemerkte er, wie der Fremde sich etwas zu nah zu ihm herüberlehnte und Luft durch seine Nase einzog, als würde er ... an ihm riechen. Wie ein Hund.

Irritiert riss Levi den Kopf herum und beobachtete, wie der Zacharias sich selbst zunickte und die Tür schloss. »Was zum ...«, begann er und kniff die Augen zusammen, wurde aber von Erwins Stimme abgelenkt, die ihn von einer Konfrontation abhielt.

»Das macht er bei jedem«, murmelte er kaum vernehmbar, bevor der Fremde sie durch den Flur in einen kleinen Raum führte.

Levi schüttelte sich angeekelt. »Ändert nichts daran, dass es gruselig ist.«

»Sei nett.«

Erwin fixierte ihn abschließend mit einem strengen Blick, was Levi nicht besonders imponierte. Er sah sich skeptisch in der Wohnung um und inspizierte die schlecht tapezierten Wände, die schmucklosen Möbel und den einsamen Sessel in der Ecke, der Besuchern eine klare Abfuhr erteilte. Niemand blieb hier.

Levi erkannte sich darin wieder. Die einzige Einrichtung, die es in seinem Zimmer gab, bestand aus einigen zurückgelassenen Relikten von Erwin, die er nie weggeräumt hatte: eine antike Weltkarte, ein Stapel Bücher, Leinen und Bezüge, eine gerahmte Zeichnung, von der er nicht wusste, wer sie angefertigt hatte, jede Menge anderer Krempel, den er nicht anfasste ─ aber kein einziger persönlicher Gegenstand von Levi.

Das lag daran, dass er so gut wie nichts besaß. Seine Papiere, ein paar alte Klamotten, natürlich keine Briefe, geschweige denn Fotos (zu teuer und schwer zu bekommen, im Osten schon gar nicht), Kennys Klappmesser, vielleicht noch ein paar andere nützliche Dinge, aber nichts Wertvolles oder Bedeutendes. Levis Lebensstil war abweisend, anonym, und genau danach richtete sich auch sein Heim.

In der Wohnung des Herrn Zacharias war es miefig und er wirbelte jede Menge Staub auf, als er sich setzte. Die feinen Partikel tanzten im wolkenverzwickten, farblosen Licht und ließen sich anschließend schichtweise auf der Kommode neben dem Sessel nieder, weswegen Levi sich ein verschnupftes Naserümpfen nicht verkneifen konnte.

»Manchmal habe ich das Gefühl, du nimmst mich für zu selbstverständlich«, klagte der Zacharias und griff nach dem Telefon auf der Kommode, das Kabel daran war völlig verdreht und verknotet. Dann wühlte er in einer Schublade nach Unterlagen, die Levi aus seiner aktuellen Entfernung nicht ausreichend analysieren konnte. »Weißt du, du kannst nicht immer nach Jux und Tollerei hier aufkreuzen.«

»Ich weiß, aber es haben sich Komplikationen ergeben.« Erwin verschränkte die Arme hinter dem Rücken. Jetzt sah er wirklich aus wie ein weiser, alter Mann. »Kannst du mich vermitteln?«

»Kommt drauf an.« Sein konzentrierter Blick wechselte im Sekundentakt zwischen den Niederschriften auf dem Papier und der Wählscheibe, die er geübt hin und her bewegte. »Je nachdem, ob die Leitung belegt ist.«

Verwirrt beobachtete Levi den gesamten Prozess, die Umdrehungen der Wählscheibe schienen ihn zu verspotten. Er lehnte sich näher zu Erwin. »Was macht er?«

»Er vermittelt mich«, wiederholte er abwesend, zu fokussiert auf die Wählversuche des Schnüfflers.

»Ja, das habe ich verstanden, aber wie?«

»Alte Leitungen, die nicht gekappt wurden.«, erwiderte er knapp, den Rest konnte Levi sich denken. »Darüber erreiche ich meinen Informanten.«

»Wer ist dein Informant?«

In Levis Kopf hatte sich vor langer Zeit die abstrakte Silhouette eines Beamten etabliert, weder jung noch alt, etwas dazwischen, weil ein Spitzel weder die adoleszente Unsicherheit, noch die eingesessene Treue eines Langzeitfunktionärs zu eigen haben konnte.

»Du sprichst immer von ›deinem Informanten‹, dabei habe ich keine Ahnung, was ich mir darunter vorstellen soll. Wie ein Mythos.«

»Es ist jemand, der seine Augen und Ohren überall hat«, antwortete Erwin, weiterhin nur in Rätseln, ein bisschen wie ein Geschichtenerzähler, der seine Zuhörer mit enigmatischen Redewendungen einlullte.

Levi wollte tiefer graben, allerdings unterbrach der Zacharias ihr Gespräch relativ schnell, indem er Erwin zu sich winkte. »Es ist der Schmidt. Er möchte den Rumänen sprechen.«

Blondie schob sich an ihm vorbei und griff nach dem Hörer, wartete mit unermesslicher Wissbegierde, Adrenalin in den hektischen Fingerspitzen. Seine Mundwinkel zuckten kaum merklich, völlig ergriffen von der Spannung, die sich in seinen Topasaugen reflektierte, das Blau ein grenzenloser, gefährlicher Ozean, der von einem unaufhaltsamen Sturm überrollt wurde, völlig vernarrt, fanatisch geradezu. Ein Ausdruck, der Levi nie vergessen ließ, dass Erwin durch und durch besessen war. Ein verdammter Psychopath. Ein Teufel.

Warum verfiel Levi immer den Idealisten?

Während Erwin sich am Telefon herausredete, schaffte Levi es kaum, seinen Worten zu lauschen, obwohl es wichtig war, dass er gerade jetzt gut aufpasste. Der Mann auf der anderen Leitung sprach mit felsenfester Stimme und einem ungesunden Selbstbewusstsein, das bedauerlich nach jeder Autorität griff, die es in die Finger bekam.

»Ich riskiere jedes Mal meinen Hals für dich und so dankst du es mir?«, hörte Levi, dabei schaute er mit schmerzender Sehnsucht zu Erwin herüber, der mit aufmerksamer Miene beschwichtigend auf den »Rumänen« einredete. Die Worte kamen ihm einfach über die Lippen, gekonnt, völlig in seinem Element, als er die Situation mit einigen Änderungen und Flunkereien veränderte, überzeugend und menschlich, denn die besten Lügen waren jene, die zur Hälfte stimmten.

»Es gab einige Missverständnisse, aber das wird nicht wieder vorkommen«, erklärte er mit seiner Vorleserstimme, weshalb Levi unbewusst die Schultern lockerließ. Eine gewisse Entspannung überspülte seine Ruhelosigkeit. Erwin setzte seinen Willen durch. Er war standhaft und determiniert in seinen Vorstellungen, unbeirrbar, eben ein innbrünstiger Idealist.

Weil sie Ziele haben, beantwortete Levi sich selbst die eben gestellte Frage und senkte betroffen sein Haupt. Idealisten geben Hoffnung. Sie liefern dir den Zweck, den du so dringend brauchst. Eine Richtung, der du nachgehen kannst.

Levi schnaubte. Er war wirklich armselig.

»Danke sehr. Ich brauche aber vorher noch einen Berechtigungsschein«, verlangte Erwin, jetzt wo der »Rumäne« sich wieder etwas beruhigt hatte, Opfer seines vigilanten Mundwerks. Ein kurzer Wortwechsel, dann war das Gespräch beendet. »Ich kann Ihnen nur danken.«

»Ja, ja«, seufzte der Zacharias und winkte ab, bevor er Erwin vom Telefon wegscheuchte und die Manuskripte wieder verstaute. »Sag nur Bescheid, wenn du wieder was von Nanaba hörst, ja?«, fügte er noch schüchtern hinzu, eine Verlegenheit im Gesicht, die Levi ulkig fand. Der ist nie im Leben gut genug für Nanaba.

»Selbstredend«, erwiderte Erwin dennoch enthusiastisch, wieder voller Energie. »Ich werde Sie nicht wieder stören, sofern es mir möglich ist.«

Der Schnüffler bedachte ihn abwägend. »Was auch immer«, murmelte er und erhob sich vom Staubsessel, um die beiden aus seiner Wohnung zu werfen. Erwin war bereits die ersten Stufen hinabgestiegen, da drehte Levi sich noch einmal zum Zacharias herum. Er stand derweil im Türrahmen und observierte sie prüfend.

»Wie rieche ich eigentlich?«, fragte Levi, im Hintergrund war Erwins Seufzen zu vernehmen.

Der Zacharias überlegte einen Moment, als müsste er die Erinnerung Revue passieren lassen. »Vertrauenswürdig«, antwortete er mit demselben, selbstsicheren Nicken von eben.

»Ist das so?«, höhnte er indifferent und schaute zu Erwin herüber. Der wiederum bedeutete ihm mit einer Kopfbewegung, den Schnüffler in Ruhe zu lassen und runterzukommen. »Ein kleiner Tipp von mir«, begann er und wandte sich ein letztes Mal dem Zacharias zu. »Nanaba mag keine Hunde.«

»Levi«, ertönte es ernst hinter ihm.

»Komme schon.« Er begutachtete zunächst die gekränkte Miene vom Zacharias. »War nett mit dir, Schnüffler«, verabschiedete er sich und ging wortlos an Erwin vorbei, der sich bereits die Stirn hielt. Sobald sie den zweiten Stock erreichten, knallte die Tür über ihnen wieder zu und Erwin traute sich, frei zu sprechen.

»Das war nicht nötig.«

»Aber lustig.«

Eine Falte knickte Erwins Stirn. »Bist du nur mitgekommen, um mich in den Wahnsinn zu treiben?«

Levi streckte gemütlich den Rücken durch. »Größtenteils. Aber ich wollte auch wissen, was du treibst.«

Ein Schweigen hing über ihnen, bis sie ins Erdgeschoss zurückkehrten, lediglich ihre Schritte schallten laut gegen die Wände des Treppenhauses. Erwin hielt ihm wieder die Tür auf, es war genauso peinlich und verlangte Levi ein genervtes Stöhnen ab. Seine Wut war abgeschwächt, das Monster in ihm ein wenig besänftigt, nachdem er an Erwins Nerven gesägt hatte, doch sie lauerte weiterhin in seiner Kehle und wartete darauf, ungehindert auszubrechen.

Sie schlüpften beide in den Käfer, kein Schutz vor der Kälte, aber ein kleiner Widerstand gegen den Wind, der draußen wehte. Levi lehnte sich langsam ins Polster zurück und wartete darauf, dass Erwin den Motor startete, jedoch blieb der VW fest an seinem Platz stehen.

»Was ist?«, kläffte er. »Hast du schon vergessen, wie man fährt, alter Mann?«

»Ich schätze, wir müssen etwas klären«, seufzte Erwin, dabei hielt er den Blick starr geradeaus zum blassen Himmel.

»Wie ich rieche?« Er schnupperte an seinem Ärmel. »Ich glaube, der Kerl hat gelogen. Ich rieche nach Putzmitteln.«

»Du weißt, was ich meine.«

»Nein«, behauptete er unbeteiligt. »Fahr jetzt. Wir müssen zum Laden.«

Erst jetzt wandte Erwin sich ihm wieder zu. Entgegen der Anspannung in der Luft trug seine Miene eine gewisse Milde zur Schau. »Levi.«

»Fahr«, widerholte er genervt, Erwin allerdings bedachte ihn nur stumm, gefasst und undurchdringlich wie immer. Es brachte Levi auf die Palme. »Erwin, du weißt, ich bin bereit, Sachen kaputtzumachen. Und das schließt dich mit ein.«

»Ich weiß, aber das wirst du nicht«, beurteilte er gelassen die Situation. »Du lehnst dich jetzt zurück und wir besprechen eine Kleinigkeit, die mir auf dem Herzen liegt.«

Levi fletschte die Zähne, er konnte sich nur mit Mühe zusammenreißen. Einige Sekunden intensiven Augenkontakts vergingen, in denen er aufgebracht Blitze nach Erwin schleuderte. Der parierte die Aggressionen allerdings geschickt mit unerschütterlicher Ruhe.

Etwas in Levi zerbrach, erkannte Erwins erhabene Präsenz als zu mächtigen Gegner an, und er ließ sich zurück in den Sitz fallen.

»Ein Teil von mir will dich gerade töten«, zischte er indigniert, wie ein besiegtes Rudeltier, das sein Revier nicht hatte verteidigen können.

»Auch das weiß ich, aber du lässt mir keine andere Wahl«, behauptete er, weshalb Levi zwei Finger an seine Schläfe legte. »Merkst du nicht, dass du deine Grenzen ein wenig überstrapazierst?«

»Tss. Ich merke nur, dass du mir auf die Nerven gehst.«

»Levi«, unterbrach er ihn, nur zwei Silben, die mit dieser tiefen Stimme viel zu wichtig, viel zu kontrovers klangen, politisch sogar. »Versteh mich nicht falsch, ich finde es in Ordnung, wenn du deinen Emotionen freien Lauf lässt. Es ist gut, dass du dich nicht zurückhältst. Du bist natürlich, das gefällt mir sehr an dir. Du sagst, was du denkst, ungeschönt und unzensiert.«

Erwin versuchte eindeutig, Levi in Verlegenheit zu bringen, ihn in ein gutes Gefühl von Zuneigung und Bestätigung zu wiegen. Und es klappte auch noch.

»Und du hast Glück. Ich habe starke Nerven und die nötige Geduld, um mit deinem Temperament umzugehen. Du weißt, ich bin sehr tolerant. Und nun ja, was wir beide untereinander machen, wie wir miteinander umgehen, das ist letztlich unsere Sache.« Eine gefährliche Härte mischte sich in seinen Unterton. »Aber wenn du anfängst, meine Arbeit zu beeinträchtigen, weiß ich nicht, ob ich dir weiterhin dasselbe Verständnis entgegenbringen kann.«

Das Glitzern in Erwins Topasaugen war verschwunden, ein dunkler Schatten darüber gefallen, ernst, resolut. Levi fand dort nichts Beruhigendes mehr, keine Idylle, keinen Idealismus, nur reine Kaltblütigkeit, irgendetwas Inhumanes, Abnormes, das seinen Körper bis tief ins Mark erschütterte. Er atmete bebend ein, das Herz schlug ihm ganz hoch, heiß, nervös, was war das für ein Gefühl? Als hätte Erwin ihn erst geküsst und danach geschlagen. Verführt und getäuscht. Zuckerbrot und Peitsche.

»Ich wollte nicht ...«, brachte Levi hervor, spürte, dass er sonst nichts anderes sagen konnte. Nachzugeben, vor ihm zu kapitulieren, war plötzlich der einzige Ausweg, einerseits angetrieben von der aufregenden Furcht, aber auch dieser rastlosen Sehnsucht, die ihn durchströmte und von seinem Atlas bis hinunter in sein Steißbein reichte. Er verzehrte sich nach Erwin, seiner Wertschätzung, der Intensität, auch wenn er sich das ungern eingestand.

Ein kleines Lächeln umspielte Erwins Lippen, der Triumph stand ihm quer ins Gesicht geschrieben. »Schon in Ordnung.«

Levi wollte irgendetwas sagen, quasi sein Revier verteidigen, aber er konnte nicht.

Er hasste das, diese Ohnmacht, wollte Erwin hassen, weil er mit ihm spielte, weil er so viel Kontrolle in die Finger bekam, ohne es auch nur zu versuchen. Denn Levi wollte ihn mehr als umgekehrt. Für Erwin war das gestern nur ein Fehler, ein Ausrutscher, eine der wenigen roten zwischen all den schwarzen Zahlen, die er sein ganzes Leben lang geschrieben hatte. Nicht wahr?

Falls das stimmte, falls Levi sich das nicht nur einredete, weil er ein chronischer Fatalist war, ja, dann verfluchte er Erwin, verfluchte ihn dafür, so unerreichbar zu sein, der Professor, der Pragmatiker, der Teufel. 

Levi sah stumm aus dem Fenster, versank in Scham und Frust, während Erwin den VW in den erwachenden Verkehr einordnete.

•  •  •

Seit einigen Minuten schon starrte Levi in den Spiegel, der kaputte im Badezimmer, um genau zu sein. Die Scheibe erstreckte sich breit und sauber über die Wand, frisch geputzt. Hinter Levi war die Tür nicht verschlossen, aber mit einem Hocker gegen die Klinke abgesperrt, auch wenn das nur eine jämmerliche Sicherheitsmaßnahme darstellte.

Die Kante des Spiegelglases schnitt seine Waden ab, ließ aber genug Platz, damit Levi sich selbst eine Weile betrachten konnte. An sein Gesicht hatte er sich mittlerweile gewöhnt, den abweisenden Blick und den scharfen Kiefer, aber dem Rest seines Körpers schenkte er in der Regel wenig Beachtung. Vor allem nicht, wenn er vollkommen entblößt war.

Seine Schultern standen eng und gedrungen gegen die Kacheln, die Arme adernüberwuchert und gezeichnet von Arbeit, dann diese schmale Taille, die langen Beine, die ihn schon seit mehreren Jahrzehnten durchs Leben trugen. Seine Muskeln waren nicht mehr so stark und gespannt, wie einst gewesen. Früher hatte er mehr gekämpft, geübt, von Kenny gelernt, der mit seinem Alter immer etwas langsamer, Levi jeden Tag schneller geworden war.

Damals in Dresden war es schwierig gewesen ─ Gewalt, Angst und Elend wohin das Auge reichte. Es war die einzige Möglichkeit, sich durchzusetzen und zu überleben. Levi würde behaupten, er hätte nie einen Kampf verloren. Zwar war er nicht immer glimpflich davon gekommen ─ das bewiesen die Narben, die überall dort glänzten, wo er unvorsichtig gewesen war, stolz gegen seine Gegner, die seine Überheblichkeit skrupellos ausgenutzt hatten. Aber er hatte nie verloren. Das ein oder andere eingesteckt, aber nie verloren. Kenny hätte ihn sonst dafür verdroschen.

Levi ließ die Hände von seinem Nacken hin zu seiner Hüfte wandern und inspizierte sie abgestoßen. Unruhig wandte er sich ab, zittrige Hände, mit denen er sich selbst umarmte, als würde es Schutz bieten. Ihm tat alles weh. Er musste sich waschen.

Binnen weniger Sekunden stellte er sich unter den dampfenden Wasserstrahl, das Wasser so heiß, dass es sich in seine Haut brannte. Energisch rieb er mit den Händen über seine Unterarme, seine Taille, seinen Rücken, den er so schlecht erreichen konnte, bis seine Haut ganz rot wurde. Es tat gut, guter Schmerz, nein, schlechter Schmerz, nein, einfach nur Schmerz, Schmerz der unaufhörlich pulsierte und wehtat.

•  •  •

Die nächsten Abende verbrachte Levi damit, sein Zimmer, den Flur und die Küche auf und ab zu reinigen. Seine Hände brannten vor Anstrengung und die Reinigungsmittel zerfraßen seine bleiche Haut, die Knie waren ihm schwer, seine Bewegungen erschöpft und verbissen.

Bei der Arbeitsfläche angekommen, schrubbte er das Holz mit aller Kraft, bis seine Arme pochten. Ihm tat alles weh, aber er musste weitermachen, also kratzte er auch die Flecken vom Gasherd herunter und wischte in den Kratzern vom Esstisch herum. Dabei spürte er immerzu Erwins stechenden Blick im Nacken, diese alles analysierenden, intelligenten Augen, die mit Besorgnis Levis Verhalten studierten.

Aus irgendeinem Grund hatte er ein Buch zur Hand, er las es offensichtlich nicht, zu beschäftigt mit dem Schwarzkopf, der durch seine Küche wuselte und ihn bewusst ignorierte. Levi wollte, dass er ihn in Ruhe ließ, damit er all seine Wut ungestört an den Möbeln auslassen konnte, die er auf Hochglanz polierte. Wenn man überschüssige Energie hatte, investierte man sie in Arbeit. Ein guter Vorsatz.

»Deine Hände sind sehr trocken«, ertönte Erwins Stimme neben ihm, sobald er einen Blick auf Levis Griffel erhaschte.

»Das kommt von harter Arbeit«, konterte Levi und wischte weiter den Tisch, ohne aufzusehen. »Etwas, das du und dein Silberarsch nicht kennen.«

Erwin schwieg, begutachtete ihn still. Lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Wartete.

»Du solltest weniger aggressiv putzen«, sagte er vorsichtig, stets mit seinen Therapeutensamthandschuhen, als könnte Levi jederzeit hochgehen. »Die Reinigungsmittel greifen deine Haut an. Das ist ungesund.«

»Hey.« Er wandte sich ihm zu, begegnete schimmernden Topasaugen. »Beschwere ich mich je über deine Hände?«

Verwundert hielt er inne. Dann schaute er auf seine Handflächen. »Was ist denn mit meinen Händen?«

Sie sind warm.

»Nichts, ich ...« Er presste den Lappen zwischen den Fingern zusammen, wollte jemandem wehtun, egal wie, es sollte nur irgendwer leiden. »Ich brauche deine dämlichen Ratschläge nicht.«

»In Ordnung«, seufzte Erwin und versuchte, so auszusehen, als würde er lesen. Levi kaufte ihm die Scheiße nicht ab.

»Ich will dir eins sagen, alter Mann«, zischte er und ließ den Lappen auf die Tischplatte sinken, Erwin schlug verwundert die Augen auf. »Das ist alles deine Schuld. Dein Hexenwerk.« Er durchlöcherte ihn mit dem tödlichsten Blick, den er erübrigen konnte. »Du warst es, der unser Arbeitsverhältnis so verkompliziert hat, schon von Anfang an. Und du warst es auch, der mich am liebsten über den Tisch gebeugt hätte, als wäre ich deine kleine, persönliche Sekretärin.«

Gequält schüttelte er den Kopf. »Levi.«

»Ich bin hier nicht das Problem«, schickte er drohend hinterher. »Ich weiß, was ich will. Du nicht.«

Levi wollte, dass Erwin zu sich stand. Ehrlich war. Die Fassade ablegte. Zumindest nur vor ihm. Mehr erwartete er nicht. Nur vor Levi sollte er das tun: zu sich stehen. Vor niemand anderem. Dann würde es nur ihnen beiden gehören. Die Nähe, die Hitze. Es wäre ganz allein ihres.

Eine nachdenkliche Falte hatte sich auf Erwins Stirn gebildet und er öffnete den Mund, um etwas zu sagen. Im letzten Moment entschied er sich allerdings dagegen und atmete aus.

In Levis Innerem polterte erneut die Wut und gewann schließlich die Überhand. »Du bist so erbärmlich«, fauchte er und lehnte sich vor, bis er unmittelbar vor Erwins Gesicht haltmachte. Ein Spektakel von Emotionen, die Hilflosigkeit darunter stach am meisten hervor. »Glaub mir, wenn ich dir sage, dass ich dich dafür zutiefst verabscheue.« Das letzte Wort spuckte er ihm entgegen und hoffte, dass es saß, dass Erwin ihre Giftwirkung einsetzen spürte, bevor er sich wieder von ihm entfernte und den Raum verließ.

Während er den Flur durchquerte, rieb er sich über die Arme, bis sie rot wurden. Als er in seinem Zimmer ankam, schloss er die Tür und lehnte sich dagegen, sodass er an ihr zusammensacken und durchatmen konnte.

Natürlich würde Erwin nicht, niemand hatte das je getan. Niemand hatte jemals zuerst an Levis Bedürfnisse gedacht, dafür waren sich alle zu schade. Wie hatte er auch denken können, dass sich das eines Tages änderte? Er würde wohl nie daraus lernen.

Auch diesmal hoffte er aus irgendeinem Grund, dass Erwin ihm vielleicht nacheilte, ein paar besänftigende Worte ins Ohr flüsterte, sagte, dass alles, was Levi dachte, nicht stimmte, aber natürlich tat er das nicht, und es machte ihn unglaublich wütend. Ob auf Erwin oder auf sich selbst, wusste er nicht.

•  •  •

Als der Abend hereinbrach, verschlug es Levi nach draußen. Er gab Erwin nicht Bescheid, warf sich nur seinen Mantel über und verließ das Haus, eine Eiseskälte saß ihm im Nacken. Der Schnee der letzten Tage war wieder abgeklungen und verteilte sich nur noch matschig auf dem Boden, es war nichts mehr Schönes oder Träumerisches daran. Als er vor der Fassade einer altbekannten Kneipe zum Stehen kam, waren seine Stiefel schon ganz durchnässt. Er klopfte sie vor dem Gebäude etwas ab, allerdings half es nicht gegen das ekelerregende Gefühl von feuchten Socken.

Missmutig wandte er den Blick nach oben und studierte die Bruchbude, alles daran war ihm zuwider. Die trüben Fenster wurden bereits von verwelktem Efeu eingerahmt und die Fassaden waren alt und dreckig, auch wenn scheinbar jemand vor einigen Jahren versucht hatte, sie neu zu streichen. Orangene Pinselstriche traten aus dem verkommenen Braun hervor.

Seufzend stieß Levi die Doppeltür auf und wurde sofort mit allen möglichen Sinneseindrücken konfrontiert. Es roch nach billigem Alkohol, Schweiß und alten Säcken, der Lärm fast ein Segen gegen diese schreckliche Kombination. Männer mit blutunterlaufenen Augen und roten Visagen verteilten sich über den Raum, während ihm Gerede und Gelächter in den Ohren dröhnte.

Levi suchte die Tische nach einem hochgewachsenen Goldlöckchen ab, wurde aber nicht fündig. Vielleicht war es besser so. Er hatte sowieso nie verstanden, wie jemand wie Nanaba sich hier aufhalten konnte.

Egal, was ihm in seinem Leben widerfahren war, Levi hatte nie angefangen, zu trinken. Auch zum Spaß nicht. Er könnte den Gedanken nicht ertragen, keine vollkommene Kontrolle über sein Bewusstsein zu besitzen. Vielleicht ein Symptom seiner Paranoia, er wollte immer alles um sich herum wahrnehmen können, scharf und genau, immerhin hatte ihn das jahrelang am Leben gehalten.

Naserümpfend kämpfte er sich durch den Laden und versuchte dabei, die vielen Störfaktoren auszublenden. Am Tresen angekommen, entdeckte er eine vertraute Gestalt, jung mit Zinnoberhaar und dieser eitlen Aufsässigkeit, die jedem Greis ein Stirnrunzeln abverlangte.

Levi ließ sich auf einem der Hocker nieder und beobachtete, wie der Knirps ein Bierglas polierte. Es war irgendwie ironisch, ausnahmsweise auf der anderen Seite zu sitzen.

»Hey, Flöckchen«, spottete er, woraufhin der Angesprochene den Blick hob. Einen Moment lang fokussierte er Levi still, dann wurden seine Augen groß und er erkannte ihn wieder.

»Abend«, murmelte er perplex. »Was kann ich für dich tun?«

Levi verschränkte die Arme und stemmte sie auf den Tresen. »Was von Nanaba gehört?«

Flocke zog eine Augenbraue hoch und ließ das Glas sinken. »Wer?«

Entnervt verdrehte er die Augen. »Du weißt schon, Nanaba«, erklärte er und lehnte sich weiter vor. »Große Frau, blond, kurze Haare.«

Schamlose Belustigung formte sich in seinem Gesicht. »Sie ist gar nicht so groß«, schmunzelte er brüsk, es war zum Kotzen.

Levi biss die Zähne zusammen. »Also weißt du, von wem ich spreche«, fuhr er langsam fort und zwang sich zur Geduld. »War sie wieder hier?«

»Ich weiß nicht«, antwortete er süffisant und stellte das Glas auf die Arbeitsfläche. »Vielleicht hilfst du meinem Gedächtnis mal auf die Sprünge.«

Verständnislos starrte Levi ihn an, am liebsten hätte er ihm für diese Respektlosigkeit eine runtergehauen. »Rotznase«, knurrte er, holte aber seine Brieftasche hervor und schob wider Willen einen Schein über den Tresen. »Komm, sag schon.«

Flocke beäugte das Geld zunächst kritisch, als hätte Levi es mit Schwefel versetzt, stopfte es dann aber eilig in seine Hosentasche und nickte. »Sie war nicht hier«, antwortete er achselzuckend. »Schon seit Monaten.«

Levi wartete noch ein paar Sekunden, nur für den Fall, dass der Kerl womöglich eine dramaturgische Pause machte. Doch er schwieg bloß. Wie ein stures Kind, dem man den Abwasch auferlegt hatte. Und dann besaß er sogar die Frechheit, weiter diese dämlichen Gläser abzutrocknen, als wäre nichts gewesen.

»Das ist alles?«, hakte Levi nochmal nach und kniff die Augen zusammen. »Scheißkerl, ich hab' dir die Kohle nicht für 'nen Blankoscheck gegeben.«

Er beugte sich provokant über den Tresen. »Du musst mir vielleicht nochmal auf die Sprünge helfen.«

Gereizt stand Levi auf, gefährliches Temperament in den Adern. »Willst du dir eine fangen?«, zischte er und nutzte die Chance, um ihm am Kragen zu packen und ein stückweit über den Tresen zu ziehen.

Unbeeindruckt zog er eine Augenbraue hoch. »Und wenn?«

Irgendein Schalter legte sich in Levi um, der all die Wut, die sich die letzten Tagen angesammelt hatte, freisetzte. Er schnappte dem Rotkopf das Glas aus der Hand und zerschlug es auf dem Tresen, weshalb der Knirps erschrocken zusammenzuckte, das Gesicht aschfahl, die Augen blank.

Mit gefährlicher Ruhe hielt Levi die übriggebliebene Scherbe an seine Kehle. »Dann schneid' ich dir die den Hals auf und du kannst nie wieder so einen Scheißdreck reden.«

Überfordert zuckten seine Pupillen hin und her, der Körper starr vor Angst, er wusste nicht, wohin mit seinen Händen. »D-Deine Hand blutet.«

Witzig. Levi spürte es gar nicht. »Komm, Schneeflöckchen, ganz ruhig«, befahl er und schwenkte hämisch die Scherbe in seiner Hand, streifte kurz seine nervöse, kalkweiße Haut. »Sag mir einfach nur, was du weißt.«

»I-Ich weiß nicht v-viel«, brachte er bebend hervor und sah sich vergeblich nach Hilfe um, aber im Laden herrschte entweder einfach zu viel Chaos, oder es interessierte die Leute nicht genug, als dass jemand hilfsbereit einschritt. Es wäre schon ein Wunder, wenn jemand überhaupt etwas sagen würde, schließlich war es in der DNS dieser Nation verewigt, wegzuschauen und den Schwanz einzuziehen. Besonders dann, wenn die Situation heikel wurde.

»Kein Problem, ich bin ein Mann, der sich mit wenig zufriedengibt. Sag mir nur, was du weißt.«

»I-Ich habe sie kurz reden gehört, mit e-einer Frau, das ist alles«, erwiderte er und presste die Augenlider angestrengt zusammen. »S-Sie sagte, sie muss nach Suhl, aber ich habe keinen Schimmer, wo das ist.«

Suhl grenzte direkt an Hessen. Verwaltungsbezirk in Thüringen. Das würde Levi nie vergessen.

»Was will sie da?«, fragte er weiter nach, durchdrang panische Schilfaugen mit kühler Gleichgültigkeit.

»Hat sie nicht gesagt, Scheiße, jetzt lass mich doch los!«, flehte er, weshalb Levi ihm noch einen letzten, abschätzigen Blick schenkte, bevor seinen nutzlosen Körper von sich stieß. Er legte die rotüberströmte Scherbe auf den Tresen und wischte seine Schnittwunde am Hocker ab. Als er sich herumdrehte, lagen einige verstörte Mienen auf ihm, die sich schnell wieder abwandten.

»Was willst du überhaupt von ihr?«, ertönte nochmals Flockes verzerrte Stimme hinter ihm. »Seit Ewigkeiten hast du dich nicht blicken lassen, warum jetzt auf einmal?«

Levi schuldete ihm keine Antwort. Jetzt erst recht nicht.

Ohne ihn weiter zu beachten, verließ er das Lokal und durchstreifte in der kühlen Nachtluft die Kleinstadtstraßen. Ich wollte sie einfach sehen, antwortete er in Gedanken, schämte sich ein wenig dafür, dass er so verzweifelt nach etwas suchte, das eigentlich längst verloren war. Als er nach Hause kam, erwartete Erwin ihn bereits mit besorgter Miene, studierte das Blut an seinen Ärmeln und Händen, sagte aber nichts und machte ihm Tee. Levi war ihm dankbar dafür.

•  •  •

Nachdem Erwin immer wieder kritisch zu Levis Wunde gesehen hatte, versorgte er sie nun. Die Taubheit hatte nachgelassen und seine Hand pulsierte höllisch, als würde jemand glühende Kohlen dagegen drücken. Levi dachte, es könnte nicht schlimmer werden, doch als Erwin zwei winzige Scherben herausfriemelte und die Wunde mit Alkohol säuberte, musste er einige Male schmerzverzerrt ächzen, pure Folter. Nach etwas, das sich wie eine Ewigkeit angefühlt hatte, verband er die Wunde und ließ Levis Hand wieder auf den Esstisch sinken.

»Gut so?«, fragte er sanft.

Levi inspizierte seine fest umwickelte Handfläche. Der schlampige Knoten drumherum drückte gegen die Wunde und tat weh.

»Ja«, sagte er dennoch und ließ die Hand unterm Tisch verschwinden.

Erwin musterte ihn abwägend, Levi verfolgte teilnahmslos die Muster im Holz. Einige Minuten vergingen, in denen sie bloß dasaßen und ihren Gedanken nachhingen. Nein, keine Gedanken. Nur Erwin machte sich Gedanken. Levis Kopf war völlig leer, im Hintergrund das dumpfe Echo eines Schamgefühls.

Irgendwann stand Erwin auf. Anscheinend hatte er das Gefühl, nach diesem schweren Abend brauche Levi Raum für sich, vermutlich eine gut gemeinte Geste. Doch er fühlte sich sofort wieder ganz allein, als Erwin ging.

Plötzlich übermannte ihn die Müdigkeit und er musste auf dem Stuhl in sich zusammensacken, den Kopf zur Seite kippen, weil ihn spätestens jetzt alles einholte. Seine Stirn begann zu pochen und in seinen Ohren wechselten sich Herzschlag und das Rauschen von Blut damit ab, seine Nerven zu töten. Ihm tat alles weh.

Mit einem tiefen Seufzen stand er auf, streckte den Rücken durch und ging den Flur herunter. Ursprünglich hatte er in seinem Bett versinken wollen, bemerkte aber, dass Erwin noch im Wohnzimmer saß. Normalerweise thronte Seine Majestät immer auf dem Sessel, heute fand er auf dem Sofa Platz. Anscheinend genügte auch das.

Levi biss sich auf die Unterlippe und verfluchte sich dafür, so schwach, so dumm zu sein. Dann trat er ein und schaute ihm hinter dem Sofa über die Schulter. Sein Nacken verspannte sich, sobald er Levis Präsenz im Rücken spürte. Momentan hatte er ein Notizbuch zur Hand, das mit krakeligen Buchstaben gefüllt worden war, die eindeutig nicht von ihm stammten.

»Was ist das?«, fragte Levi und beugte sich über die Lehne, um sich ein genaueres Bild machen zu können. Zwischen hingeschmierter Schrift prangten einige Zeichnungen, die zirkuläre Prozesse darstellten. Irgendetwas mit Zellen.

»Hanjis Aufzeichnungen«, antwortete Erwin und schlug das Buch mit einer Hand zwischen den Seiten zu, damit er sich merken konnte, bis wohin er gelesen hatte. Kurz darauf zeigte er Levi den Einband, und ─ tatsächlich ─ ihr voller Name stand dort, darüber eine sachliche Überschrift: Über die Klonierung.

»Woher hast du das?«, fragte er skeptisch. Seit wann interessierte Erwin sich für Hanji, geschweige denn ihre Arbeit?

»Ich habe sie danach gefragt«, antwortete er achselzuckend. »Manchmal habe ich etwas zugehört, wenn ihr darüber gesprochen habt. Ich bin nur Laie, was die Naturwissenschaften angeht, aber es hat mich durchaus interessiert.« Er schlug das Buch genau dort auf, wo er eben stehengeblieben war. »Möchtest du etwas daraus hören?«

Sein Verstand, seine Ratio sagte ihm, er sollte das Angebot abschlagen, aber die Möglichkeit, Erwin nah zu sein, war eine viel zu große Versuchung. Also umrandete Levi das Sofa und setzte sich neben ihn, zwar mit einem entschuldbaren Abstand, aber so, dass er noch knapp auf die Seiten des Buches schielen konnte.

Erwin verstand das als Zustimmung. »Enthält also der Zellkern jegliche genetische Information, so müsste es doch eine Möglichkeit geben, ihn zu extrahieren und anschließend zu transportieren«, begann er, in der Zwischenzeit ließ Levi sich wortlos zurücksinken und lauschte auf Erwins warme Vorleserstimme, die jeden Zorn verrauchen ließ. »Wir wissen, dass alle Zellen über dieselbe Erbinformation verfügen, ergo sollte sie sich übertragen lassen können, ohne dass etwas fehlt. Es stellt sich allerdings die Frage, ob die Information der DNS unfehlbar ist.«

Levi verschränkte die Arme vor der Brust und senkte den Kopf, sodass er ihn zwischen seine Schlüsselbeine platzieren und seine Halswirbel entlasten konnte.

»Sie hat einen sehr eigenen Schreibstil«, meinte Erwin neben ihm schmunzelnd. »So frage ich mich, ob und inwiefern es möglich ist, eine Person identisch zu duplizieren, da wir nicht genau wissen, inwieweit sich Umwelteinflüsse auf den Phänotyp auswirken.«

»Was bedeutet das?«, murmelte Levi und schloss hyperkonzentriert die Augen, um sich voll und ganz auf den Inhalt von Erwins Worten zu konzentrieren. Seine Vorleserstimme schmeckte nach Honig.

»Da fragst du mich was«, scherzte Erwin amüsiert, er wusste es wirklich nicht. »Der Phänotyp seien all jene Merkmale, die durch die DNS exprimiert werden, entgegen jener, die ihnen gegenüberstehen und nicht exprimiert werden. Es seien jene Allele, die sich durchsetzen«, fügte er hinzu, weich, angenehm, wie eine Decke, die sich um Levis Körper wickelte. »Ich schätze, damit ist die äußere Erscheinung gemeint.«

»Weißt du, sie könnte totalen Quatsch schreiben und wir wüssten es nicht.«

»Da hast du leider Recht«, erwiderte er lachend. »Aber wie steht es um Kinder, die zur Geburt blonde, später braune Haare tragen? Ist auch das genetisch bedingt oder durch die Umwelt? Die Klonierung ist stets mit Vorsicht zu betrachten. Aufgrund vieler Wissenslücken, die weiterhin offenstehen, können wir nicht genau sagen, wie eine Kopie sich entwickelt.«

Mit der Zeit tat sich in Levi das unterschwellige Bedürfnis auf, sich gegen Erwins Schulter zu lehnen. Auf einmal war seine Sehnsucht unglaublich stark, er wollte ihn wieder spüren, diese Wärme, diese Lebendigkeit, diese Ruhe. Er wollte seinen Duft in der Nase haben, von Holz, Büchern und einfach Erwin selbst, es war schwer zu beschreiben.

Aber das hatte Levi sich selbst zu verdanken. Er hatte es darauf ankommen lassen, hatte sich zu nah an den Professor herangewagt und musste sich jetzt bemühen, nicht den Verstand zu verlieren. Es wäre dumm, es wäre schwach.

»So könnte ich meine DNS in eine Keimzelle setzen und zum Leben erwecken, doch es bestünde stets die Frage, welche Wechselwirkungen mit der Umwelt sie schließlich zu dem machen, was es letztlich ist. Vielleicht ist das auch meine größte Hoffnung, nämlich dass eine Neuentwicklung den Klonierten zu einem Individuum macht, und dennoch wäre es gewissermaßen mein eigen Fleisch und Blut.«

Bei diesem Satz hielt Erwin inne. Auch Levi spürte, wie sein Herz einen Schlag aussetzte.

Er schlug die Augen auf und versuchte, Erwins chaotische Miene zu lesen. Sie war von vielen Emotionen erfüllt, zu vielen, um ihnen expliziten Ausdruck zu verleihen: Er sah überfordert aus, nachdenklich aber auch, desillusioniert sogar.

Ruckartig schlug er das Buch zu und Levi zuckte, der Knall hallte durch den gesamten Raum.

»Das genügt«, sagte er leise. Sie beide wussten, warum.

Ein bedrückendes Schweigen hing über ihnen, während Levi an Kastanienaugen in Tränen dachte.

Erwin legte das Buch wieder auf den Tisch und rieb sich das Kinn. Es schien, als wollte er aufstehen, da hielt Levi ihn mit seinen Worten zurück.

»Ich fände es schön, wenn du dich gut mit Hanji verstehst«, gestand er überraschend ehrlich und senkte kraftlos die Augenlider. Er war schwach geworden, noch schwächer, hatte Erwin ein Stück Wahrheit offenbart. Ohne Gegenleistung.

»Das werde ich«, versprach er selbstsicher und legte eine Hand in Levis Nacken, kniff ihn sanft. Es war eine zärtliche Berührung, liebevoll, irgendwie sehr intim, und schickte einen warmen Schauer über seinen Rücken. Es war eine Einladung, sich gehen zu lassen, die Verteidigung abzuschalten und sich in dieses Gefühl hineinzulehnen, und Levi schämte sich dafür, dass er das zuließ, sich nicht dagegen wehren konnte.

Es vergingen nur wenige Sekunden, dann zog Erwin seine Hand wieder weg, übergangslos, Levi wünschte sie sich sofort zurück. Der Stoff neben ihm senkte sich und Levi hörte Schritte, die sich von ihm entfernten, während er in seiner Einsamkeit zurückblieb.

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Whoop. Ich habe momentan ein paar Probleme mit Kapitel 12, deswegen weiß ich nicht, wie schlau es ist, das hier trotzdem zu veröffentlichen. But I feel like I owe this to you, meine zwei Stammleser.

Wäre dieses Buch ein echtes, hätte ich es sicher »Der Pragmatiker« genannt. Klingt wie ein Roman vom Diogenes-Verlag, oder? Aber »Heimvorteil« war das Erste, was mir in den Sinn kam. Er hat mir sofort richtig gefallen. Ich mag Titel, die nur aus einem Wort bestehen.

Vielen Dank fürs Lesen und alles Liebe! <3

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