Kapitel 1: Unter Beobachtung
Vor einer Weile hatte Levi etwas entdeckt. Nicht etwas, jemanden. Es handelte sich um einen hochgewachsenen Mann mit goldglänzenden Haaren, die aussahen, als ob man sie bis auf jede Unebenheit glattgeschliffen hätte. Immerzu schien er Levi zu beobachten, von einem der alten Häuser aus, wo bodentiefe Fenster im Erdgeschoss das Licht brachen. Dort wartete er immer darauf, dass Levi über den Marktplatz lief.
Immer um zehn nach acht, wenn Levi sich auf den Weg zur Fabrik machte, und immer um zehn vor sechs, wenn er an diesem zerrütteten Laden vorbeimarschierte, um wieder nach Hause zu kommen, spürte er diesen starren Blick. Viel zu auffällig und penetrant, als dass man ihn nicht bemerken würde, er brannte geradezu.
Waren das vielleicht diese Zivilpolizisten? Die sich verkleideten, um Schieber zu enttarnen und Kleinkriminelle zu bespitzeln? Dabei hatte sich Levi in letzter Zeit gar nicht mehr strafbar gemacht. Trotzdem war er immer da und saß ihm stechend im Nacken, dieser aufmerksame Blick.
Nur ein einziges Mal hatte Levi es gewagt, aufzusehen. Zuvor hatte er sein Aussehen nur aus dem Augenwinkel erahnen können, jetzt wusste er mehr. In diesem Moment hatte er tief verwurzelte Entschlossenheit erahnen können, und er begann, den Fremden bis zu einem gewissen Grad als Bedrohung anzuerkennen. Wie ein roter Punkt auf seinem Radar. Dieser Mann hatte ein Ziel, und er würde nicht so schnell aufhören, Levi in die gottverdammte Seele zu starren.
Nachdem er das erste Mal Augenkontakt zu seinem Späher aufgenommen hatte, legte er fest, dass er handeln musste. Vielleicht war er tatsächlich einfach ein komischer, gelangweilter Kerl, aber dafür wirkte das alles hier zu gestellt.
Sein potentieller Feind hielt sich immer am selben Ort auf, es musste früher mal ein Lokal gewesen sein. Durch die schlampig aufgehängten Planen konnte man hölzerne Tische und einen Tresen erahnen, die zusammen an die Fassade eines Restaurants oder einer Bar erinnerten. Manchmal arbeitete der Fremde dort, schrieb ab und zu etwas. All das, fasste Levi zusammen, war verdächtig.
Am nächsten Tag passierte Levi den offenbar geschlossenen Laden nicht. Stattdessen wartete er einige Minuten. Sein Beobachter schien nämlich genau zu wissen, wann Levi zum Marktplatz musste, eine Verspätung würde ihn irritieren. Entgegen seinen Erwartungen würde Levi lautlos und kaum merklich durch die Tür schlüpfen, ein Vorteil seines gedrungenen Körpers.
Durch eine gelbe Scheibe, die in der Mitte der Holztür eingelassen war, erkannte er den Spanner. Merkwürdigerweise saß er auf dem Boden und schien etwas zusammenzubauen, ein Regal vielleicht, zumindest bis er den Schraubenzieher in seiner Hand auf den Tisch neben sich legte. Genau, wie Levi es sich dachte, überwachte er konzentriert die Straße, statt auf das Innenleben des Lokals zu achten.
Sachte presste Levi sich gegen die Tür, die glücklicherweise unter seinem Druck nachgab und leise ächzte. Bevor sie wieder zufallen konnte, hastete Levi flink zu besagtem Tisch und griff nach dem spitzen Werkzeug. Angesichts seiner schnellen Schritte musste der Kerl ihn gehört haben, weshalb er alarmiert den Kopf herumriss und zu Levi aufschaute ─ zu spät. Levi hatte sich bereits hinter ihm aufgebaut und trieb ihm den Schraubenzieher an den Hals.
»Warum beobachtest du mich?«, fragte er streng, weshalb der Blondschopf ihn überfordert anblinzelte.
»Oh, hallo«, hieß er den blinden Passagier willkommen. Er zog den Kopf ein, um das kühle Metall so weit wie möglich von seiner lebenswichtigen Aorta zu entfernen.
Levi folgte ihm mit bewusst eindringlichem Blick und drückte das Instrument an seine Kehle. Offensichtlich war er nicht hier, um Konversation zu machen. »Das geht schon seit Wochen so, oder irre ich mich? Wartest du auf etwas Bestimmtes?«
Verwundert über die gefährliche Situation überlegte er einen Moment, schluckte. »Nun ja, du wirktest interessant«, erwiderte er überraschend ruhig. »Ich habe eine Schwäche für interessante Charaktere.«
»Tagtäglich sitzt du in dieser Bruchbude und observierst jede meiner Bewegungen. Ich bin kein Experte, aber auf mich wirkt das suspekt. Reines Interesse klingt da für mich wie eine glatte Lüge.«
»Möchtest du in mein Geschäft einsteigen?«, fragte der Blondschopf ausweichend, seine Gesichtszüge entspannten sich allmählich.
Für einen Moment schaute Levi ihn bloß an, verärgert sogar. »Was spielst du hier für Spielchen, alter Mann?«, zischte er, indessen drückte er ihm das kühle Eisen tiefer ins Fleisch, es schnitt nicht, hinterließ nur einen Abdruck. »Bist du ein Perverser oder so?«
»Nein, nicht im Geringsten«, beschwichtigte er ihn vorsichtig. »Aber ich sehe, dass du nach einem Ausweg suchst. Und wenn du mir hilfst, kommst du aus deinem Elend vielleicht heraus.«
Verwirrt hielt Levi inne. Der Sonderling musste das anhand seiner Kleidung erkannt haben. Oder wegen des gleichgültigen Gesichtsausdrucks, den man Levi immer vorwarf. Vielleicht hatte ihn auch die Tatsache, dass er immer mit schmutzigen Händen nach Hause kam, verraten.
»Bei was helfen?«
»Mein Vater hat mir diesen Verkaufsraum zurückgelassen, er gehört zum Haus hier. Es war mal ein Café, aber aufgrund finanzieller Engpässe musste es leider dichtmachen«, erzählte er, in Erinnerungen schwelgend. »Seither war es ein kleiner Traum von mir, es wieder zu eröffnen.«
Eine grüblerische Falte knickte Levis Stirn. »Verstehe«, erwiderte er indifferent. »Wenn ich dir diesen Schwachsinn mal glaube, wieso käme ich infrage? Dabei, dir zu helfen?«
»Wieso nicht?«
Unbeeindruckt beäugte er den Blondschopf. »Machst du das immer so? Fragen mit Gegenfragen oder vagen Aussagen zu beantworten?«
»Schöner Binnenreim. Bist du Poet?«
Levi schnaubte beinahe amüsiert. »Sag mir endlich, was du wirklich willst, Scheißkerl.«
»Du fluchst sehr viel«, bemerkte der Fremde interessiert, kein Urteil lag darin.
»Da, wo ich herkomme, gehört das zum guten Ton.« Levi drängte die Kante des stumpfen Werkzeugs gegen eine Vene, die an seinem Hals hervortrat. »Und wenn du noch einmal vom Thema ablenkst, zerreiß ich dir die Kehle, alter Mann. Jetzt rede.«
Erwin beäugte ihn mit geradezu kindlicher Neugier. »Nanaba hatte Recht, du bist wirklich paranoid.«
Skeptisch verengte Levi die Augen. Binnen einer Sekunde schoss seine Herzfrequenz in einen besorgniserregenden Bereich, der Mund flau und trocken. Ohne es zu merken, hielt er den Atem an, den er sogleich wieder ausstieß und sich zur Ruhe zwang. Bis jetzt hatte er es jawohl auch geschafft, der Kerl hatte nichts gegen ihn in der Hand.
»Woher kennst du diesen Namen?«, fragte er und kehrte dabei erfolgreich zu seiner allzeit geliebten Monotonie zurück.
Ein herausforderndes Lächeln umspielte seine Lippen. »Habe ich etwa dein Interesse geweckt?« Als Levi daraufhin schwieg, fuhr Blondie fort: »Du hast lange Zeit mit ihr gearbeitet, nicht?«
Levi verfestigte seinen Griff um den Schraubenzieher, bis es schmerzte. »Ja, und ich bin fertig mit ihr. Ich habe meine Schulden abgearbeitet.«
»Ach nein, du siehst das hier doch nicht etwa als Zwangsveranstaltung«, bedauerte er und neigte den Kopf. »Und glaub mir, Nanaba hat hiermit nichts zu tun. Aber sie meinte, du leistest gute Arbeit. Und auf ein Talent wie dieses kann ich einfach nicht verzichten.«
Entgeistert starrte er den Mann vor sich an, der momentan still seinen Schachzug feierte. Das musste bedeuten, Blondie war Teil von Nanabas Leuten. Levi wusste gar nicht, dass seine ehemalige Chefin jetzt Hupfdohlen für ihre Selbstmordkommandos rekrutierte, um ihre seltsamen Geschäfte im Osten abzuwickeln. Bis heute hatte er nur einen Bruchteil von dem mitbekommen, was Nanaba eigentlich gemacht hatte, er war ja nur der dumme Fahrer gewesen, der mit manipulierten Wägen über unebene Straßen gebrettert war und ab und zu ein paar Offiziere in zinngrauen Uniformen belogen hatte.
»Ich bin hin und her gefahren. Mehr nicht. Woher das Gerücht von wegen ›Talent‹ kommt, weiß ich nicht.« Levi riss den Schraubenzieher an sich und schleuderte ihn beiseite, wo er gegen eine Kommode schlitterte. »Und ich möchte mit diesem Scheißdreck nichts mehr zu tun haben.«
»Hör mich an«, bat er nonchalant, kein bisschen erschüttert von den Drohungen des Kerls, der ihm eben den Hals hatte zerstechen wollen. »Ich möchte dir ein einmaliges Angebot machen. Du kannst es ablehnen oder akzeptieren, wie es dir beliebt.«
Levi schnaubte. »Dann sollte es besser verdammt gut sein. Frage Nummer eins: Beinhaltet dein Angebot vielleicht eine gute Fee?«
Blondie räusperte sich. »Dass du zynisch bist, hat Nanaba auch erwähnt.« Da Levi darauf nicht reagierte, ging er dazu über, ihm Argumente zu liefern. »Sehen wir uns mal die Fakten an. Du steckst in einer miserablen Lage.«
»Ich habe mir hier etwas aufgebaut.« Levi kaufte sich das nicht einmal selbst ab. »Und eine sichere Arbeit habe ich auch.«
»Die mühselig und unter deiner Würde ist, nehme ich an.«
Blondies Gesichtsausdruck verriet, dass er wusste, wie Recht er hatte. »Wie man's nimmt.«
»Du müsstest mir hier nur bei den Vorbereitungen helfen, danach würden wir zusammen den Laden werfen. Und ab und zu kommen Leute, die nicht nur Kaffee wollen, sondern vielleicht Ware für uns haben. Noch dazu könntest du direkt ein Stockwerk über deinem Arbeitsplatz wohnen. Wie fändest du das?«
»Grauenhaft«, antwortete er angewidert. Levi hatte keine Ahnung, was diesen gestörten Mann dazu veranlasste, ihn anzuheuern, wenn er doch sicherlich jemand Vertrauenswürdigeren beschäftigen könnte. Es wäre sicher ein Fehler, sich wieder in dieses Milieu zu begeben.
Dennoch musste Levi gestehen, dass das Ganze gar nicht so bescheuert klang. Bei allem Argwohn konnte er nicht leugnen, dass er seine derzeitige Arbeit hasste. Sie war sinnlos und dreckig, zwei Eigenschaften, deren Kombination Levi wie die Pest verabscheute. Sich eine Schürze umzubinden, einen Schreibblock zu halten und manchmal durstenden Kriminellen Kaffee zu servieren, wirkte dagegen wie ein Segen.
»Aber es klingt besser, als in einer Fabrik schuften zu gehen.« Nachdenklich musterte er ihn. »Trotzdem würde ich gerne wissen, wie ihr mich bezahlen wollt. Es ist nicht wie damals, jetzt müsste ich schon Kohle sehen.«
»Unsere Einnahmen hängen größtenteils von den Schiebergeschäften ab, und die lassen sich schwer kalkulieren. Wir wissen nicht, was für Ware wir bekommen und was davon wir überhaupt in den Osten schaffen können«, gab er aufrichtig zu und machte eine Geste mit der Hand, die sein fälschlicher Kunde aufmerksam überwachte, als könnte er ihn potentiell damit erschlagen. »Aber wenn wir gemeinsam daran arbeiten, können wir mal schauen, wie es läuft.«
»Hast du in diesem Gespräch Geld gegen dich gesetzt?«, spottete Levi. »Weil sonderlich überzeugend bist du nicht.«
»Aber ich täusche dich nicht oder mache dir falsche Hoffnungen.« Ein süffisantes Lächeln umspielte seine Lippen. »Spricht das nicht für mich?«
»Nein, das spricht dafür, dass du ein Idiot bist«, entgegnete er abfällig und runzelte die Stirn. »Ich habe das Gefühl, dass du nicht kapierst, um was es hier geht. Wenn ihr mich wieder in diese Scheiße reinzieht, solltet ihr besser was auf der Hand haben, mir irgendwas bieten. Ich will bezahlt werden. Und zwar richtig.«
Levi würde ja gerne so tun, als ob seine Zweifel moralisch motiviert wären, aber alles, woran er gerade denken konnte, war seine ranzige, heruntergekommene Mietswohnung, die er euphemistisch »Zuhause« nannte. Alles, woran er denken konnte, war das Klopfen an seiner Tür, wenn er wieder das Geld nicht hatte zusammenkratzen können, die falsche Hoffnung, dass er keine Probleme bekommen würde. Ein klein bisschen Sorglosigkeit, ja, das wäre geradezu ein Traum nach knapp siebenundzwanzig Jahren Stress, Angst und Qual.
»Ich wünschte, ich könnte dir etwas Konkretes garantieren«, fügte Erwin sachlich hinzu. »Es gibt keine Quoten oder Prognosen, auf die ich mich verlassen kann. Aber du kannst dich zu hundert Prozent darauf verlassen, dass ich dich finanzieren werde. Du wirst nie ohne nichts dastehen.«
Levi spürte, wie automatisch Skepsis seine Gesichtszüge zeichnete. Ihm wurde schlagartig bewusst, in was für ein Abhängigkeitsabkommen er sich damit begeben würde. So wäre er nicht nur auf dieses Café angewiesen, sondern auch auf diesen eigenartigen Mann selbst, den er doch gerade erst kennengelernt hatte.
Diese Erkenntnis ließ Levi den Blick senken. Mit einem Schlag würde jede Entscheidung dieses Wahnsinnigen auf ihn zurückfallen.
Unvermittelt realisierte er, dass dieser Mann genau das wollte. Eine Art Angestellten fürs Leben. Jemand, der nicht einfach abspringen und sein Leben wie gehabt fortführen konnte. Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. Das verstand Levi gut, es war ein gutes Credo, ein weises Credo. Er würde es nicht anders machen.
Mal abgesehen davon hatte Nanaba das Ganze scheinbar abgesegnet, dafür musste sie einen guten Grund haben. Eigentlich hatte Levi seine langjährige Chefin und Freundin als klug und raffiniert in Erinnerung, nie würde sie eine Fährte zu ihm legen, ohne das genau durchdacht zu haben.
Levi stieß ein gedehntes Seufzen aus. »Ich traue dir nicht«, sagte er langsam und kniff die Augen zusammen. »Und ich halte auch nicht viel von deiner Idee mit diesem Verbrechercafé.«
Gespannt schickte der Blondschopf dem ein »Aber?« hinterher.
»Aber«, wiederholte er duldsam, »wem ich traue, ist Nanaba. Und ja, du liegst richtig. Ich bin in einer echt beschissenen Lage.« Nachgiebig reichte er ihm die Hand, damit er sich aufrichten konnte ─ Levis Äquivalent zu einem Friedensangebot. »Und du bist verrückt, aber wirkst sehr standhaft. Ich verlasse mich mal darauf, dass du dich nicht unterkriegen lässt.«
Blondie griff nach der Hand des Neuankömmlings und zog sich beim Aufstehen daran hoch. Seine Mundwinkel zuckten nach oben, als würde er diesen Sieg stolz zelebrieren. »Also kann ich auf dich zählen?«
»Wenn es sein muss«, knirschte Levi kühl und sah herüber zu der Treppe am Ende des Raumes, die sich lebhaft nach oben schlängelte. Der Umzug wäre zumindest nicht schwer, Levi besaß ja nichts. »Dann werde ich also hier leben, was?«
Erfreut, dass der Gedanke offenbar ankam, schaute sein potentieller Chef auf ihn herab. »Das steht zur Auswahl, ja.«
Wie Levi das ankotzte.
Aber er würde sich schon daran gewöhnen. Er gewöhnte sich daran, wie er es immer schon getan hatte. In all der Zeit, die Levi bereits auf der Erde weilte, hatte es schon so viele Vorgesetzte und Tyrannen gegeben, die ihm das Leben zur Hölle gemacht hatten, und jedes Mal hatte er sich einfach daran gewöhnt. Mit diesem Schicksal hatte er bereits seinen Frieden geschlossen.
Levis aluminiumgraue Augen trübten sich, als würde das helle Metall darin oxidieren. »Wird es hier Tee geben?«
Einige Sekunden herrschte Stille.
»Wie bitte?«
Ergeben schaute Levi zu ihm auf. »Tee. Du weißt schon. Wenn man heißes Wasser auf getrocknete Pflanzen gießt.«
Verwundert über die Frage zog Erwin die Augenbrauen hoch. Aber er verstand langsam. »Ich schätze, ja.«
»Grünen?«
»Bestimmt.«
»Und Schwarzen?«
»Sicher doch, alle Sorten, die du dir wünschst«, erwiderte er voller Vorfreude.
»Gut«, schloss er das Thema ab und nickte besänftigt. »Jetzt fehlt mir nur noch dein Name, alter Mann.«
»Erwin Schmidt«, erwiderte er und nickte ihm grüßend zu. »Und dich spreche ich mit Levi an, nicht wahr?«
Gereizt biss er sich in die Wange. »Ja, Levi.«
Einen Moment wartete Erwin. Er dachte, da käme noch was. »Levi, und weiter?«, hakte er sicherheitshalber nach.
»Nur Levi. Mehr brauchst du nicht zu wissen.«
• • •
Genau wie Erwin vorhergesagt hatte, musste sich Levi (zunächst) keine Gedanken um die Finanzen machen. Ein Gefühl, das er so gar nicht kannte. Seit Anbeginn seines Lebens waren Angst und Hunger sein treuer Begleiter gewesen. Erwin musste sofort erkannt haben, dass Levi nicht nur in Elend lebte, sondern darin auch gediehen und großgeworden war.
Nach all den Jahren, in denen Levi seine sparsame Überlebensweise perfektioniert hatte, war ihm diese neue Sorglosigkeit fremd: Wenn er Hunger hatte, musste er nicht genau nachkalkulieren, wie er sich jeden Krümel einteilte, oder wenn ihm danach war, konnte er sich auch einfach hinlegen und zum Schlafen kommen. Natürlich verschwanden alte Gewohnheiten nicht so leicht, deshalb behielt er seine sture Mathematik stets bei, jedoch schien die Furcht Stück für Stück von ihm abzufallen.
Eines allerdings störte Levi immer noch ein wenig. Bei Erwin zu leben war merkwürdig. Zwar logisch, aber doch merkwürdig. Einerseits war es logisch, denn damit würden sie unnötige Kosten sparen, eben wie die von Levis Höllenwohnung. Zudem war sein Arbeitsplatz jetzt nur ein Stockwerk tiefer, er müsste bloß eine Treppe laufen, statt immer mit dem Zug hin und her schwarzzufahren. Andererseits war es merkwürdig, immerhin hatte Levi seit einigen Jahren nicht mehr mit jemandem zusammengelebt. Und er traute Erwin nicht.
Ihrer Abmachung nach hätte Levi die Wahl gehabt, sich umzuentscheiden, aber das war ihm ebenso nicht recht. Auch wenn er es ungern zugab, Erwins Wohnung war geräumiger und wärmer. Man musste keinen großen Wert auf Komfort legen, um ein gemütliches Bett zu schätzen.
Als Levi das erste Mal das obere Stockwerk betreten hatte, war er über die antike Einrichtung nicht verwundert. Alle Möbel waren massiv und aus Holz gefertigt, dazwischen lugten lederne, abgewetzte Sessel mit verblassten Mustern. In Messingvasen reckten weiße Lilien die Blüten in die Höhe und richteten sich sehnsüchtig nach der schwachen Sonne aus. Im Wohnzimmer prangte über ihren Köpfen sogar ein Kronleuchter, ausnahmslos alle Glühbirnen daran waren geplatzt. Nur ihre übriggebliebenen Scherben ragten an den Rändern in die Höhe. Levi fragte sich, ob das vom Krieg war.
»Sehr altertümlich«, bemerkte er, Erwin nickte.
»Das Haus ist auch sehr alt. Unsere Familie hat es über Generationen weitervererbt.«
Dann musste es wohl viel überstanden haben. Levi schaute sich die schlecht tapezierten Wände an, die Asche im Ofen und einen Riss in der Wand, der zur Hälfte von einem verwitterten Gemälde überdeckt wurde. Niemand sprach über den Krieg. Es war ein totes Thema, ein schweres Thema, wie ein fauler Geschmack im Mund oder ein verhasster Regentag, in dem die Menschen wie Schiffe versanken und einander verzweifelt in den Dreck zogen, um sich an die Oberfläche kämpfen zu können.
Widerwillig ließ Levi zwei Finger über den Rand eines Kolonialschranks fahren. Als er einen Blick auf seine Hand warf, war sie voller Staub. »Uralt«, stellte er angeekelt fest und rümpfte die Nase. Schnell schüttelte er seine Hand aus und schaute wieder zu Erwin auf. »Machst du hier auch mal sauber?«
Unangenehm berührt vermied er es, Levi direkt anzusehen. »Nun«, begann er zögerlich. »Regelmäßig.«
»Du lügst«, entgegnete Levi, dabei inspizierte er die Romane und Klassiker, die den Schrank füllten. Die bekannten Namen auf den Buchrücken deuteten darauf hin, dass Erwin Akademiker war. Überraschend war das nicht, selbst wenn er sich auf etwas Ehrloses wie Schiebergeschäfte herabließ.
»Mir ist das eben nicht so wichtig.«
Levi war zutiefst entsetzt. »Ich habe mich mit einem Monster eingelassen, unglaublich.«
Eine überraschte Miene legte sich über seine markanten Züge. »Wirklich? Das findest du bisher am schlimmsten?«
»Auf jeden Fall.«
Zufrieden atmete er aus. »Ich muss zugeben, dass mich das ein wenig erleichtert.«
Von Levis Seite kam ein überhebliches Schnauben. »Herzlichen Glückwunsch, alter Mann.«
»Ich finde es nicht schön, dass du mich ›alter Mann‹ nennst«, klagte er eingeschnappt.
»Ich mag das.« Dafür, dass Erwin nur ein paar Jahre älter als Levi selbst sein konnte, gefiel ihm der Spitzname zu sehr. Blondies eiserne Miene jedoch verriet, dass seine Forderung nicht verhandelbar war. »Natürlich könnte ich mir auch etwas anderes überlegen. Zum Beispiel was mit deinen Augenbrauen.«
Erwins Augenbrauen waren dicht, buschig und breit und erinnerten Levi an Tiere, an zwei fellüberwucherte Tiere, die sich gegenseitig anknurrten. Mit Sicherheit würde er sich irgendwann daran gewöhnen, aber in diesem Moment stachen sie ihm ins Auge wie das Gift eines Skorpions.
»Was hast du gegen meine Augenbrauen?«
Levi zog die Stirn kraus. »Soll das ein Witz sein? Sie sind dick und hässlich wie ein Cholesterin-überfressener Bourgeois.«
»Du bist nicht zimperlich. Zumindest weiß ich jetzt, dass du mich nie aus Freundlichkeit belügen wirst.«
Levi entspannte sich. »Ich kann nicht anders. Wenn sich deine Augenbrauen bewegen, fühlt es sich an, als würde ich zwei Kakerlaken beim Dominanzkampf zuschauen. Über deinen Augen findet das reinste Massaker statt, brutal ist das.«
Levi wären bestimmt noch weitere Vergleiche eingefallen, doch Erwin unterbrach ihn schnell. »Weißt du, du musst das nicht so bildlich sagen. Ein einfaches ›Hässlich‹ hätte gereicht.«
»Ich wollte dich nicht enttäuschen. Da du mich ja für einen Poeten hältst«, erklärte er und blitzte Erwin herausfordernd an, was ihm lediglich ein tadelndes Kopfschütteln einhandelte.
»Komm, machen wir uns ans Werk.«
• • •
Der Verkaufsraum begrenzte sich auf einige Tische und den Tresen, allesamt verstaubt und teilweise noch mit Flecken übersät, was Levi schrecklich auf die Nerven ging. Erwin hatte erklärt, dass er sich mit den Möbeln zufriedengab, nur ein paar Bücherregale sollten dem Café zusätzlich ein besonderes Ambiente verleihen. Darüber hinaus war jegliche Elektronik außer Kraft, dementsprechend mussten sie alle Gerätschaften neu anschaffen.
»Und diese extrem wichtigen Sachen hast du immer noch nicht besorgt?«, fragte Levi, sie sprachen hier immerhin nicht von einer kaputten Lampe. Hier konnte derzeit niemand auch nur einen Espresso zubereiten. Eine schlechte Voraussetzung für ein Geschäftsmodell, das genau darauf beruhte.
»Im Prinzip haben wir noch die alten Geräte, aber sie sind überholt und größtenteils kaputt«, erwiderte Erwin, weshalb Levi zuvorkommend aufschaute.
»Ich habe mal ein halbes Jahr vorgegeben, Handwerker zu sein. Lass mich einen Blick darauf werfen«, schlug er vor und schob sich an Erwin zum Tresen vorbei. Küchenschränke säumten die Ecruwand, sowie eine hölzerne Arbeitsfläche mit einem Waschbecken. Darauf ruhten drei silberne Kaffeemaschinen, das Metall glänzte matt und fleckig.
Levi entdeckte einen roten Lappen, den er sogleich unter das warme Wasser hielt und begann, die erste Maschine zu reinigen. Trotz Erwins zweifelnder Miene schrubbte er das Metall, bis es strahlte, dann säuberte er den Wasserbehälter und die Abtropfschale, eigentlich jedes noch so kleine Örtchen, das er mit dem Stoff erreichen konnte.
»Du sagtest, du hättest es nur vorgegeben? Handwerker zu sein?«, gab Erwin noch einmal zu bedenken, doch Levi ließ sich nicht beirren und begann mit seiner Inspektion. Nachdem er die Kaffeemaschine an den Strom angeschlossen hatte, schaltete er sie ein und wartete. Ein lautes Dröhnen ließ den Automaten wie wild zittern, anschließend lief in Schüben Wasser aus den Düsen. Höllischer Krach erschütterte den Raum.
»Weißt du, Chef?«, rief Levi über den Lärm hinweg, ihm sprang das Problem direkt ins Auge. In einer schnellen Bewegung schaltete er das Gerät wieder aus. »Ich weiß nicht, ob du noch nie eine Kaffeemaschine bedient hast, aber die hier muss nur entkalkt werden. Mehr nicht.«
»Ah«, erwiderte er enthusiastisch. »Das heißt?«
Levi richtete sich auf und straffte die Schultern. »Dafür gibt es extra solche Lösungen, ich weiß nicht genau, wie sie heißen. Ich werde sie kaufen, wenn ich sie sehe.«
»Fantastisch.«
»So.« Levi schlug die Hände zusammen und drehte sich zu Erwin um. »Jetzt zeig mir, was du außerdem nicht benutzen kannst, weil du offensichtlich zu blöd dafür bist.«
Erwin schüttelte enttäuscht den Kopf. »Du solltest dir diese Sprache wirklich abgewöhnen.«
»Tut mir leid, dass ich dem Herrn Professor nicht ›intellektuell‹ genug bin«, entgegnete er sarkastisch und deutete mit dem Kopf eine Verbeugung an, die Erwin gar nicht gefiel.
»Es geht darum, dass du dir damit nur Probleme einhandelst. Ich möchte nicht, dass du so auch mit unseren Kunden sprichst.« Per Augenkontakt versuchte er, das mit einer Mahnung zu untermalen, Levi jedoch hatte etwas anderes im Blick. »Bitte hör auf, meine Augenbrauen anzustarren.«
»Das passiert ganz von allein, ich kann es nicht beeinflussen. Jedes Mal, wenn du anfängst zu reden, stechen sie aufeinander ein wie die Geier.« Mittels Schauspiels mit den Händen versuchte er, das Gesagte auch darzustellen. »Du solltest daran wirklich was ändern.«
Erwin packte seine Hände, sodass er sie nur noch stillhalten konnte. »Du gibst dir sichtlich Mühe mit deinen Beleidigungen.«
»Du könntest sie abkleben«, empfahl Levi mehr oder weniger hilfreich. »Schlimmstenfalls musst du sie abrasieren. Wobei, das will auch keiner sehen. Ich könnte sie dir zupfen.«
Erwin stieß ein kehliges Lachen aus. »Ich will sicher nicht, dass du mit einem spitzen Gegenstand in meinem Gesicht herumfummelst. Wir hatten das schon einmal, angenehm war das nicht.«
Levi schnaubte überheblich. »Glaub mir, hätte ich dich verletzen wollen, hätte ich das schon längst getan. Ich bin schneller, stärker und agiler als du.«
Netterweise entließ Erwin ihn aus seinem festen Griff. »Wie? Agiler? Für wie alt hältst du mich eigentlich?«
»Meine Antwort würde dich nur beleidigen, leg es nicht darauf an.« Mit einer ausschweifenden Geste deutete er auf die Arbeitsfläche. »Ich kann hier saubermachen und mich um die Elektronik kümmern. Mach du lieber etwas, dass du auch tatsächlich kannst.« Er stoppte kurz. »Musst du dich nicht noch mit der Bürokratie beschäftigen?«
»Das ist korrekt.« Fast schon mitfühlend schaute er Levi an. »Aber ich finde es nicht gut, dich nur die ganze körperliche Arbeit verrichten zu lassen.«
»Mir ist das aber wichtig«, insistierte Levi und griff nach dem Lappen. »Ich möchte, dass hier alles blitzblank ist. Und funktioniert.«
Tolerierend nickte er, ein eher widerwilliges Lächeln auf den Lippen. »In Ordnung.«
• • •
Die ersten Nächte in Erwins Haus waren der reinste Horror. Nicht nur, weil Levi sich schwer an neue Umgebungen anpassen konnte, sondern weil ihn wieder die Alpträume plagten. Immerzu sah er weinende Gesichter, rotes Haar in Flammen, zinngraue Uniformen, pulververschmierte Läufe, spitzen Stacheldraht und Blut, Blut an seinen Händen, Blut an seiner Kleidung, Blut überall, und dann wachte er auf.
Dann wachte er auf und schnappte nach dem Messer, das er sicherheitshalber zwischen seine Matratze und den Lattenrost gestopft hatte. Einige Sekunden ließ Levi die Klinge durchs Nichts sausen und versuchte verzweifelt, die Bedrohung zu finden, die es nicht gab. Schwer atmend hielt er inne und ließ den Blick durch den Raum schweifen.
Aus den durchsichtigen Vorhängen in seinem Zimmer fiel das goldene Licht einer Straßenlaterne, sodass er die Ränder der Möbel erkennen konnte. Weder Erwin noch sonst irgendjemand war in sein Zimmer eingedrungen, es war komplett leer, frei von jeder Menschenseele.
Nur die gebogene Klinge schimmerte silbrig in seiner Hand und wartete darauf, eingesetzt zu werden, während Levi immer noch nach dem Feind suchte. Keuchend ließ er die Waffe sinken und legte eine Hand an seine pochende Stirn, wo er nasses, klebendes Haar ertastete. Er war vollkommen durchgeschwitzt.
Entnervt strich er seine schwarze Mähne zurück und klemmte das Messer wieder unter die Matratze. Er starrte zunächst einige Minuten Löcher in die Luft, bevor er die Augen wieder schließen konnte.
• • •
Wann immer Levi allein in Erwins Wohnung war, sorgte er für Ordnung. Da er nicht mehr zur Fabrik hetzen musste, hatte er genügend Zeit dafür, während Erwin machte, was auch immer er eben machte. Nachmittags steckten sie dann die Köpfe zusammen und überlegten sich neue Konzepte für das geplante Café. Ein angenehmer Tagesablauf, wie Levi fand.
Auch wenn er dem widerstrebte, begann Levi, sein Leben hier zu mögen. Erwins Domizil war bequem und die Reinigungsmittel dufteten gut, nach Gebirgsluft gemischt mit frischen Sprossen. Sie vertrieben den Geruch von verwesenden, abgenutzten Buchrücken ─ wenn man sich jedoch nah an die Regale herantraute, lag die Note von altem Papier nach wie vor in der Luft.
Genauso roch Erwin auch. Nach abgenutzten Buchrücken und altem Papier, versetzt mit Holz oder Nadelblättern, Levi konnte es nicht genau sagen.
»Du musst das nicht tun«, ertönte Erwins Stimme hinter ihm. Wenn man vom Teufel spricht.
Levi ließ den Staubwedel sinken und wandte sich Erwin zu, dem er mit abgebrühter Miene begegnete. »Und du weißt, dass mir das bewusst ist.«
Erneut zeigte er Levi dieses seltsame Lächeln. »Ich wollte es trotzdem nochmal sagen.« Anerkennend nickte er. »Aber danke sehr, Levi.«
Dass Erwin diese Worte auch genauso meinte, störte ihn. »Ich tue das nicht für dich, bild dir bloß nichts ein.«
Vergnügt betrachtete er Levis Antlitz. »Du siehst übrigens interessant aus. Mit dem Mundschutz.«
Levi legte eine Hand an das weiße Tuch, das seine Nase bedeckte, und rückte es penibel zurecht. »Soll das ein Kompliment sein?«
»Ich überlasse das deiner freien Interpretation.«
Während Levi sich wieder an die Arbeit machte, spürte er weiterhin Erwins Präsenz in seinem Rücken. Es verunsicherte ihn keineswegs, war aber trotzdem unangenehm, vor allem als er sich nach dem obersten Brett des Regals streckte und gefrustet feststellte, dass er es selbst auf Zehenspitzen nicht erreichen konnte. Seufzend ließ er die Fersen wieder sinken und hoffte innig, Erwin würde einfach verschwinden.
Jedoch vernahm Levi da bereits Schritte, die sich auf ihn zubewegten. Behutsam nahm ihm Erwin den Staubfeger aus der Hand und strich sorgfältig über das gesamte Brett, bis der Stoff ganz grau war. Seine Größe verschaffte ihm einen ungerechten Vorteil, fand Levi.
Erwin gab ihm den Staubwedel wieder zurück und ließ Levi in Ruhe die Wohnung von Schmutz befreien. Abgesehen von seinen eigenen Bewegungen war für einige Minuten nichts zu hören, bis Erwin sich nochmals an ihn richtete: »Ich setze gleich Tee auf. Möchtest du?«
»Nein«, antwortete Levi, denn Erwins Tee schmeckte bitter und zerging pelzig auf der Zunge. Außerdem machte er ihn immer zu heiß, alles Gute vom Tee ging dadurch verloren. Und so ein Psychopath wollte ein Café wiedereröffnen, der hatte doch gar kein Fingerspitzengefühl.
»Du siehst aus, als wolltest du mir etwas sagen. Etwas Gemeines.«
Das musste ihm Levis finsterer Gesichtsausdruck wohl vorweggenommen haben. »Ich mag deinen Tee nicht. Er ist widerlich.«
»Ich dachte, du magst Grünen.«
»Nein, nicht die Sorte, die Art, wie du ihn machst«, erklärte er, Levi war nicht gut mit Worten. »So willkürlich.«
»Du meinst die Zubereitung?«, fasste Erwin zusammen, auch wenn er immer noch nicht schien, recht zu verstehen. »Es fällt mir schwer, das zu glauben, angesichts der Tatsache, dass Tee sich nur aus zwei Zutaten zusammensetzt. Es ist im wahrsten Sinne des Wortes Wasser mit Blättern.«
Erneut drehte er sich nach Erwin um, musterte ihn herablassend. »Du bist doch ein Psychopath.«
Trotz der allgemeinen Strenge, die Erwin immerzu ausstrahlte, fand Levi auf einmal, dass seine Züge weich aussahen. »Bedeutet dir das wirklich derart viel?«
Levi schwieg. Er mochte es nicht, dass ihn Erwin so offenkundig ansah.
»Dann zeig mir doch, was ich falsch mache«, bat er neugierig, nicht in einer Art und Weise, die sich über Levi lustig machte, sondern ehrlich und aufrichtig neugierig. »Es kann nie schaden, seinen Horizont zu erweitern.«
Staubpartikel segelten durch die Luft.
»Du redest so daher, man könnte meinen, du wärst Poet.«
»Bedaure, ich bin nicht sonderlich künstlerisch veranlagt«, scherzte er und deutete anschließend mit dem Kopf in Richtung Küche. »Aber das Teekochen werde ich jawohl lernen können.«
Erwin schien auf eine Antwort zu warten.
»Wenn ich fertig bin.«
Einverstanden nickte er.
• • •
Durch die Fenster in Erwins Küche fiel farbloses, schwaches Licht. Da der späte Herbst hereinbrach, wurden die Tage immer kürzer und Regenwolken zogen auf, die die Altstadtpflaster des Marktplatzes tränkten. Die Lichter der Straßenpfähle wogen wie glimmende Papierlaternen in den Pfützen.
Dieses Jahr war der Oktober unbeugsam und bissig, nass und kalt. Viele Erwachsene mit dunklen Mänteln und dicken Mützen streiften die Aussicht, Kinder trugen bunte Gummistiefel und hüpften in Schlaglöcher, die sich randvoll mit saurem Wasser gefüllt hatten.
Teilnahmslos beobachtete Levi die kleinen Gören, wie sie laut lachten und sich gegenseitig jagten. Einige Sekunden später tauchten ihre Eltern auf. Sie schimpften, weil ihre Kleidung sich jetzt mit eiskaltem Wasser vollgesaugt hatte. Die Mutter setzte dem Mädchen der Truppe eine flauschige Mütze auf, damit es sich nicht erkältete.
»Schön, nicht wahr?«, erklang Erwins tiefe Stimme an Levis Seite, weshalb er sich langsam aufrichtete. »Ich beobachte gerne die Menschen.«
»Habe ich gemerkt«, seufzte er, immerhin war er zu Beginn Opfer von Erwins unverwandten Starren gewesen. Intelligente Augen, die durch Mark und Bein gingen.
»Du etwa nicht?« Anscheinend erhoffte er sich eine Antwort, die würde er allerdings nicht bekommen. »Es ist interessant. Wie die Menschen sich bewegen und verhalten. Miteinander kommunizieren. So komplex, man könnte tausende Bücher damit füllen, und es wäre nie genug.«
»Er philosophiert wieder«, unterbrach Levi seine Schwadronade prompt.
»Tut mir leid«, lachte er und begegnete herzlich Levis Blick. »Du wolltest mir zeigen, wie man Tee kocht?«
Die Trance, die Levi bis eben noch wie eine warme Wolldecke umhüllt hatte, schien von ihm abzufallen. »Ja.«
Levi wusste bereits, wo er den Tee finden konnte, da er Erwins Wohnung direkt bei seinem Einzug danach durchsucht hatte. Zwischen Mehl, Gerste und Roggen war eine bronzefarbene Metalldose eingequetscht, dort waren die Teeblätter am besten aufgehoben. Neben geruchsneutralen Lebensmitteln verloren sie ihr Aroma nicht. Zumindest das hatte Erwin richtig gemacht.
Anschließend stellte er die Dose auf die Arbeitsfläche und öffnete sie interessiert. Klein gehackte, dunkelgrüne Blätter füllten das Metall bis zur Hälfte mit Jade.
»Sehr schön«, sagte er und klappte die Dose wieder zu, bevor er sich dem Teekessel widmete. Eine kurze Inspektion genügte, damit Levi auffiel, wie viel Kalk sich darin gesammelt hatte. »Ich brauche Essig.«
Verwirrt hielt Erwin inne, ihm kam jedoch schnell die Erkenntnis. »Das löst den Kalk.«
Levi wartete, bis Erwin ihm eine dunkle Flasche mit vergilbtem Aufdruck reichte. Zunächst füllte er den Teekessel mit Leitungswasser, dann gab er noch einen Schuss Essig hinzu und platzierte das Gefäß auf eine Feuerstelle des Gasherds. Als er eines der Rädchen zum Erhitzen herumdrehte, ertönte in periodischen Abständen ein Geräusch, das einem Klatschen gleichkam.
»Wir sollten uns nicht hier aufhalten, wenn der Essig kocht.«
»Wegen des Säuregehalts, nehme ich an«, vermutete Erwin und folgte Levi ins Wohnzimmer, nachdem er die Tür geschlossen hatte. Beide ließen sich nieder, Levi auf das beigefarbene Sofa, Erwin auf einen der knarzenden Sessel.
»Eigentlich würde ich jetzt sagen: ›Abwarten und Tee trinken.‹ Aber wir haben ja noch keinen Tee«, sagte Erwin ohne jegliche Regung im Gesicht, weswegen Levi von Fremdscham berührt eine Hand an seine Stirn legte.
»Du machst solche Vaterwitze.«
Zufrieden lehnte er sich zurück. »Irgendwann wirst du über sie lachen.«
»Nie im Leben.«
»Wetten wir?«
»Um was denn, bitte?«
»Was du willst.«
Abwägend stützte Levi den Kopf gegen seine Hand. Er hatte das eigentlich eher aus Intuition gesagt, als Konter eben, normalerweise wettete er gar nicht. »Fünf Mark.«
Erwin schnaubte. »Ziemlich viel dafür, dass ich mir meines Sieges so sicher bin.«
Das fachte Levis Sturheit nur noch mehr an. »Fünf Mark. Nicht mehr und nicht weniger.«
Habe ich dich, sagte sein Blick. »Sollten wir das festhalten? Weil ich die fünf Mark eines Tages gerne sehen würde.«
»Wirst du nicht.«
»Wetten wir?«
Levi fühlte sich provoziert. »Schreiben wir es doch auf.«
Ohne zu zögern, griff Erwin nach der Zeitung auf dem Tisch vor sich, riss ein Stück der ersten Seite heraus und nahm einen Bleistift zur Hand. »Levi wettet mit Erwin um fünf Mark, dass er nie über seine Witze lachen wird«, notierte er und sprach jedes Wort laut mit, damit es auch transparent war.
»Das ist lächerlich«, sagte Levi betont desinteressiert, weil er es hasste, dass ihm die Idee gefiel. Er war kein Fanatiker, was das Glücksspiel anging, aber harmlose Wetten wie diese klangen durchaus interessant.
»Ich bin mir sicher, dass es dir irgendwann gefallen wird«, warnte Erwin ohne tatsächlichen Hintergrundgedanken, da war sich Levi sicher. Allerdings lag etwas Dunkles in seinem Blick, das ihm einen Schauer über den Rücken jagte.
»Wohin damit?«, lenkte Levi ab und deutete mit einem Nicken auf das melierte Papier.
»Ich finde dafür schon etwas.« Er stand auf und begann, die Regale und Kommoden nach etwas abzusuchen, in dem sie dieses wichtige Dokument aufbewahren konnten. Kurz darauf holte er eine Truhe hervor, die die Form eines Buches hatte und sich auch genauso öffnen ließ. Natürlich, was sonst?
Zum Schluss riss er ein weiteres Stück aus der Zeitung heraus und kritzelte in beinahe unleserlicher Schrift »Levis und Erwins Wetten« darauf. Er friemelte eine Falte hinein, um sie zwischen den beweglichen Teilen der Truhe einzuklemmen.
Abgestoßen schaute Levi zu ihm auf. »Du gibst nicht viel auf Sorgfalt, was?«
»Tja«, antwortete er ungerührt und legte ihre erste, offizielle Wette dazu. »Dafür soll es genügen.«
»Machen wir das jetzt öfter? Wetten?«, leitete Levi aus dem Schriftzug ab, ihre Blicke begegneten sich magnetisch.
Ein verschmitztes Schmunzeln zierte seine Lippen. »Ich wette gerne.«
Unbeeindruckt zog Levi die Augenbrauen zusammen. »Weil du bestimmt nur wettest, wenn du dir sicher bist, dass du gewinnst. Oder wenn der Einsatz nicht so hoch ist.«
»Nein«, lachte Erwin kopfschüttelnd. »Aber es macht Spaß, alles zu riskieren, um zu gewinnen.«
Wieder erkannte er diese Finsternis in Erwins Blick, tief verborgen in seinem Innersten, als würde Levi dem Teufel direkt in die Augen sehen.
Es flößte einem Respekt ein.
»Ich verstehe«, erwiderte Levi, ließ sich auf die Offensive erst gar nicht ein. »Wenn man dich zum Freund hat, braucht man sicher keine Feinde mehr.«
»Ah, es freut mich, dass du mich schon als Freund siehst«, ignorierte er bewusst den zweiten Teil des Satzes und schlug die Truhe eifrig zu. »Wir harmonieren hervorragend.«
Levi verzog keine Miene. »Wenn du das sagst.«
• • •
Nachdem Levi noch dreimal Wasser aufgekocht hatte, um den Essiggeruch loszuwerden, konnten sie endlich mit der Teezubereitung beginnen. Interessiert schaute Erwin ihm über die Schulter und beobachtete, wie Levi jeweils einen Teelöffel der getrockneten Blätter in zwei Tassen streute.
»Die Blätter sind klein gehackt, je nach Menge wird der Tee sehr viel stärker sein. Also sollte ein Teelöffel genügen«, erklärte Levi und verschloss die Metalldose wieder, bevor er sie zurück in den Schrank über der Arbeitsfläche stellte.
»Verstehe«, erwiderte Erwin, um zu demonstrieren, dass er voll bei der Sache war.
»Für guten Tee braucht es auch gutes Wasser.« Er griff nach dem Teekessel. »Wasser für Tee sollte viel Sauerstoff enthalten, der geht beim Kochen aber teilweise verloren. Deswegen solltest du altes Wasser nie ein zweites Mal verwenden.«
Levi hielt den Teekessel unter den Wasserhahn und füllte ihn bis zur Hälfte. »Und auf den Kalk musst du achten, der macht den Geschmack fade und fest.« Prüfend studierte er das glänzende Metall, das sich von den weißen Ablagerungen verabschiedet hatte. »Deshalb musst du den Teekessel immer mal wieder reinigen.«
Während Levi wartete, bis das Wasser siedete, lehnte er sich gegen die Arbeitsfläche, Erwin stand ihm gegenüber und stützte sich gegen den Tisch. Es war unvermeidbar, dass ihre Blicke sich trafen.
»Du nimmst das sehr ernst«, erkannte Erwin.
Da Levi nicht wusste, was er darauf erwidern sollte, schwieg er.
»Gibt es einen Grund, warum du dich ausgerechnet mit Tee so gut auskennst?«
»Ich kenne lediglich ein paar Tricks«, widersprach er kopfschüttelnd, wie nutzlos. Tee machen zu können, wer brauchte das schon?
Nachdenklich schaute er auf seine Handflächen, erinnerte sich an Hunger und höllische Bauchschmerzen. Sie drohten, einen von innen heraus aufzufressen, weil sie vergeblich dieses Sattheitsgefühl in einem gähnend leeren Magen finden wollten.
»Ich gehe. Einfach sorgsam mit Lebensmitteln um«, ergänzte er, spürte absolut gar nichts, während er das sagte. Als er sich nach einem Gefühl ausstreckte, fasste er nur ins Leere.
Erwin nickte, seine klugen Augen vereinnahmten ihn. »Ah.«
Er hatte kein Recht, Levi so anzusehen. Wissend. Ein hohes Pfeifen hielt ihn jedoch davon ab, Erwin darauf anzusprechen.
»Das Wasser ist fertig«, sagte er tonlos und schob den Kessel vom Gasherd, wo er ihn zunächst ruhen ließ. »Wir sollten zwei Minuten warten, bevor wir das Wasser aufgießen. Grüner Tee ist sehr empfindlich.«
»Ich finde es schön, dass du das so hingebungsvoll machst.«
Peinlich berührt vermied Levi es, ihn anzusehen. »Sei still und schau lieber zu, was ich dir jetzt zeige«, zischte er und nahm den Deckel vom Teekessel. »Bei kalkhaltigem Wasser bildet sich normalerweise ein weißer Film hier oben. Aber das Wasser in deiner Gegend scheint weich zu sein.«
»Faszinierend«, sagte Erwin verblüfft, Levi dachte fast, es sei gespielt. Ein Blick zu ihm verriet jedoch, dass es ihn tatsächlich erstaunte.
»Kannst du dich für jeden Dreck derart begeistern?«
Erwin lachte. »Ich lerne gerne.«
Levi taxierte ihn rätselnd. So einen trifft man kein zweites Mal, dachte er.
Danach hob er den Teekessel an und führte ihn zu den Tassen. In kreisenden Bewegungen goss er das heiße Wasser in das meisterhaft bemalte Porzellan, das sich elegant nach oben kräuselte.
»Das ist eigentlich schon die ganze Kunst«, murmelte Levi in den Dampf hinein, der sein Gesicht streichelte. Behutsam griff er nach den Untertassen und platzierte sie unwillkürlich an gegenüberliegenden Positionen auf dem Esstisch.
Beide setzten sich hin, warteten erneut. »Du hast sehr viel Geduld.«
Wieder kreuzten sich ihre Blicke. Aber es war keineswegs unbehaglich, Levi hielt stand und ließ sich darauf ein, verirrte sich in dem Meerblau, das so unendlich schwer zu ergründen war. Man konnte nie genau wissen, was in Erwin vorging. Das war in Ordnung, Levi wollte auch nicht so viel über Erwin wissen. Es war vermutlich besser so.
»Koste«, befahl Levi mild, ohne hart klingen zu wollen, nur mild, wie Frühlingswetter.
Aufmerksam beobachtete er, wie Erwin die Tasse an seine schmalen Lippen setzte und daran nippte, leise schluckte. Die unveränderte Miene offenbarte Levi noch keinen seiner Eindrücke.
Jetzt wagte auch Levi, seinen Tee zu probieren. Er war noch etwas heiß, aber das störte Levi nicht, für ihn war er genau richtig. »Merkst du das? Er schmeckt viel frischer. Und weicher.«
Noch mit sich hadernd, linste Erwin in die Tasse und nickte. »Mh, aha, ja. Hervorragend.«
Enttäuscht senkte Levi die Tasse. »Du merkst keinen Unterschied, oder?«
Erwin zuckte nur mit den Achseln, es wirkte wie eine symbolische Entschuldigung. »Nein, leider nicht. Aber trotzdem danke, ich habe mir alles gemerkt. Wenn ich das nächste Mal Tee für uns beide mache, achte ich genau auf die einzelnen Schritte.«
Missmutig beobachtete Levi, wie er beide Hände um die Tasse legte, um sich aufzuwärmen. »Meinetwegen.«
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Hallo! Nachdem ich mich in letzter Zeit bei der Veröffentlichung meiner Bücher eher still verhalten habe, fällt es mir schwer, einen Kommentar nach diesem Kapitel zu verfassen. Nichtsdestotrotz möchte ich zunächst einmal alle Attack on Titan und Eruri Fans sowie Freunde der deutschen Geschichte begrüßen. Wer es spätestens jetzt noch nicht gerafft hat, der sollte besser wissen, dass die Geschichte seinen Platz im geteilten Deutschland findet, genau genommen in der BRD.
Wenn wir das abgehakt hätten, würde ich mich für die Geduld der wenigen Leserinnen, die ich noch habe, bedanken. Da es sich um eine historische Fiktion handelt, versuche ich natürlich weitestgehend, akkurat zu bleiben, deswegen darf ich erst Recht keine Logikfehler machen und muss etwas sorgfältiger Korrektur lesen, zumal die Kapitel auch so lang sind.
Ehrlich gesagt kann ich gar nicht einschätzen, ob diese Story spannend oder generell irgendwie »gut« ist? Das nächste Kapitel ist auf jeden Fall ereignisreicher, man muss ja erstmal reinkommen. Egal, ich hoffe einfach mal, dass die Story zumindest jemandes Interesse weckt und gebe mein Bestes!! ᕙ(⇀‸↼‶)ᕗ Alles Liebe! <3
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