IV.
Als Heidejunges in die Kinderstube zurückkehrte, war das Wetter wieder sonniger geworden, das Lager längst nicht mehr so verschlammt wie am Morgen und auch die schiefergrauen Regenwolken hatten einem Stück saphirblauem Himmel Platz gemacht. Kein Wind fegte durch das Schilf und auf dem trockenen Boden konnte man die schleifenden Pfotenschritte des dunkelgrau-weiß gefleckten Katers kaum hören.
Er wusste nicht, was er getan hatte – oder warum. Was er wusste, war, dass Schmetterlingsstern durch ihn eine Sorge weniger hatte, dass Vipernschatten ihn als Heilerschüler aufnehmen würde und dass er seinen Eltern nichts von seinem Vorhaben erzählt hatte. Mit gesenktem Kopf trat er auf den schilfgeflochtenen Bau zu und wollte ihn gerade betreten, als er zwei laute Stimmen von innen vernahm.
»Bist du denn nicht stolz auf deinen Sohn? Bedeutet dir die Position eines Heilers nichts?«
»Doch, natürlich. Wofür hältst du mich?«
»Aber du hättest es vorgezogen, wenn er Krieger geworden wäre, so wie du.«
»Nein! Aber es wäre schön gewesen, wenn er es uns erzählt hätte und ich es nicht erst von Vipernschatten und Schmetterlingsstern erfahren müsste. Das ist eine gewaltige Entscheidung, die er da gefällt hat. Er hätte mit uns reden sollen.«
Heidejunges duckte sich tief auf die sandige Erde. Ging es um ihn? Streiten sie wegen mir? Seine Eltern hatten niemals eine Meinungsverschiedenheit gehabt, seit er auf der Welt war.
»Er ist nun einmal verschlossen und zurückhaltend.«
»Das bin ich auch! Aber nicht so. Wenn er so weitermacht, wird er sich nie im Clan behaupten können.«
»Spiegelwasser!«
»Es ist doch wahr. Nie spricht er aus, was er denkt, immer gehorcht er allem, was man sagt.«
Ängstlich legte der grau gestreifte Kater die Ohren an, um sie vor den harten Worten seiner Mutter zu schützen. Doch es stimmte, was sie sagte. Heidejunges hatte immer geglaubt, dass es die erwachsenen Katzen gerne sahen, wenn er ihnen so wenig Aufwand wie möglich bereitete. Mit Schneejunges war es ganz anders. Sie war aufgeweckter als er und auch viel begabter im Kampf. Ein fähiger Krieger würde er nie werden. Aber dann ist es doch gut, wenn ich Heiler werde, oder?
»Willst du nicht, dass er Heiler wird, weil du ihn zu dem formen willst, was du bist? Ein starker Krieger, unerschrocken im Kampf und schnell bei der Jagd? So ist er nicht. Jede Katze hat andere Stärken und seine sind Ruhe und Geduld.«
»Aber er ist erst drei Monde alt. In diesem Alter sollte man der Anführerin keine Versprechen geben. Woher soll er wissen, was gut für ihn ist?«
Ist das wahr? Habe ich vorschnell gehandelt? Er glaubte jedoch nicht, dass er seine Meinung noch ändern würde. Nicht, wenn er Schmetterlingsstern und Vipernschatten dadurch enttäuschte. Und wenn er an Kämpferpfote dachte, war er sich beinahe sicher, dass er sein ganzes Leben damit verbringen könnte, andere Katzen zu heilen.
»Ich denke sehr wohl, dass er in der Lage ist, das selbst zu beurteilen«, sagte Schneefänger und setzte ein Vertrauen in seinen Sohn, das dieser selbst nicht besaß. Der weiße Krieger trat einen Schritt aus der Kinderstube. »Oh.« Seine Augen blieben an Heidejunges hängen, der den Kopf gesenkt hielt, damit er seinem Vater nicht in die Augen schauen musste.
»Was ist denn los?«, schimpfte Spiegelwasser von innen und trat ebenfalls ins Lager heraus. »Heidejunges! Wie viel hast du mitgehört?«, fragte sie streng.
Aus Angst, seine Stimme könnte versagen, antwortete das Junge nicht und starrte still zu Boden.
»Rede mit mir!«
Schneefänger ging dazwischen. »Du musst nicht, wenn du nicht willst. Komm, wir gehen ein Stück. Wollen wir Kämpferpfote und Sumpfläufer besuchen?« Heidejunges nickte schwach, doch aus dem Augenwinkel entging ihm nicht, wie sein Vater Spiegelwasser einen auffordernden Blick zuwarf. Die weiße Kätzin mit den dunklen Flecken stimmte dem Vorschlag zu und, Heidejunges in die Mitte nehmend, liefen sie alle zum Heilerbau, der goldbraun leuchtend am Rand des Lagers lag.
Vipernschatten schien nicht da zu sein, also gingen sie ungestört hinein. Als sie die Nester der Verletzten erreichten, bemerkten sie einen grau und schwarz gescheckten Kater, der ruhig an der Seite von Kämpferpfote kauerte, die Schultern zusammengesunken.
»Wir warten hier«, miaute Schneefänger, als sie in Blickweite der Katzen waren.
Heidejunges blickte unsicher zu Schattenwächter, aber als dieser sich nicht zu bewegen schien, nutzte er die Gelegenheit, um seinen Eltern eine Frage zu stellen. »Ist es wirklich so schlimm, wenn ich Heiler werde?«
Schneefänger wurde ernst. »Nein, wo denkst du hin? Wir sind stolz auf dich, egal was du machst.«
Behutsam hockte sich Spiegelwasser neben ihn, sodass sie ihm ins Gesicht sehen konnte. »Hast du dir das auch gut überlegt? Willst du das wirklich?«
Zögernd wandte sich der dunkel getupfte Kater von seiner Mutter ab und richtete seine Augen auf Kämpferpfote, der ausgezehrt, aber lebend auf dem Moos lag. Schattenwächter hatte sich erhoben und war gegangen, also konnte er nun richtig zu dem verwundeten Schüler herantreten. Vorsichtig beschnupperte er seine Wunde, die schon viel weniger nach Fäulnis roch als am Tag zuvor. Schattenwächters Schüler schlief immer noch wie ein Igel in der Blattleere.
»Heidejunges«, ertönte ein Flüstern von nebenan.
Er zuckte zusammen und wirbelte ruckartig herum. Ein freundliches, farngrünes Augenpaar begegnete ihm und Sumpfläufer schlug amüsiert mit dem Schweif. »Kämpferpfote war gestern kurz wach. Er wollte sich bei dir für deine Hilfe bedanken. Du hast ihm das Leben gerettet.«
Heidejunges strahlte vor Glück und richtete seine freudesprühenden orangefarbenen Augen auf den großen Schüler, dessen Flanke sich methodisch hob und senkte. Dass diese Katze lebte, war allein ihm und Vipernschatten zu verdanken, keinem Einsatz eines Kämpfers oder Jägers. Ein Heiler konnte so viel mehr erreichen, als alle Kriege der Welt – so viel Gutes. Nichts würde ihn je davon überzeugen können, dass ein gut gezielter Krallenschlag dem Clan mehr bringen würde als ein heilendes Kraut. Nun war er sich sicher.
»Ja«, hauchte er erleichtert. »Ich will Heiler werden.«
Mit größerer Entschlossenheit als jemals zuvor tappte Heidejunges aus dem Heilerbau und wurde sogleich von Schneejunges begrüßt, die ihn schon überall gesucht hatte. »Heidejunges, da bist du ja! Du musst unbedingt mitkommen. Schattenwächter will uns zeigen, wie man sich an Landbeute anschleicht.«
Der graue und weiße Kater neigte verwirrt den Kopf. »Sind wir nicht zu jung dafür? Außerdem will ich Heiler werden«, verkündete er stolz.
Dies schien die weiße Kätzin nicht zu überzeugen. »Na und«, schnaubte sie. »Denkst du, du musst als Heiler nicht wissen, wie du dich selbst versorgst?«
So hatte Heidejunges bisher noch nicht über die Sache nachgedacht. Bedeutete das, dass er auch Jagen und Kämpfen lernen musste, wie jeder andere Schüler auch? Das wäre ja doppelt so viel Arbeit!
»Was ist jetzt? Kommst du?«
Überrumpelt von seinen Gedanken beeilte sich Heidejunges zu nicken und lief seiner Schwester hinterher, um nichts zu verpassen. Was hat sie gesagt? Schattenwächter will uns etwas beibringen? Wieso gerade er? Zwar war er der Bruder ihrer Mutter, aber nachdem, was er am Morgen vor Schmetterlingssterns Bau erlebt hatte, wunderte er sich über den plötzlichen Stimmungswandel des Kriegers. Vielleicht war er einfach nur sauer auf Schmetterlingsstern, das ist alles.
Aber warum sollte er wütend auf seine Anführerin sein? Hatte es etwas mit Schlangenfell zu tun, der Zweiten Anführerin und seiner Gefährtin? Von Glanzschwinge hatte Heidejunges in Form einer Geschichte erfahren, dass die schildpattfarbene Kätzin ihre Stellvertreterin schon vorher unfair behandelt hatte. Warum die sonst so nette Anführerin das tun sollte, war Heidejunges ein Rätsel, aber angeblich ging es um den Posten des Zweiten Anführers, den sie vor vielen Monden an Schlangenfells Stelle eingenommen hatte. Doch jetzt, wo sie ihre damalige Konkurrentin zur Stellvertreterin ernannt hatte, musste alles wieder gut sein, oder? Der kleine, grau getupfte Kater konnte sich nicht vorstellen, dass zwei Katzen sich so lange hassen konnten. Er selbst war niemals neidisch auf jemanden gewesen.
Als sie sich Schattenwächter näherten, fiel ihm auf, dass der große Kater bereits auf sie wartete und eine kleine Maus direkt vor seinen Pfoten platziert hatte. Seine verschiedenfarbigen Augen musterten sie eindringlich – das eine gelbgrün, das andere grau – und mit seinen breiten Schultern, brüchigen Zähnen und seinem durchlöcherten Fell sah er fast ein bisschen unheimlich aus.
Aber davon ließ sich Heidejunges nicht beirren. Beurteile eine Katze nie nach ihrem Aussehen, hatte Spiegelwasser einmal zu ihm gesagt. Vielleicht hatte sie damit genau ihre Brüder gemeint, denn sie waren alle drei kein schöner Anblick. Neben Schattenwächter mit seinen komischen Augen war da noch Mottenkralle, der unzählige tiefe Narben auf dem Rücken aufwies und Mausestreif, dessen steifes Hinterbein ihm immer im Weg zu sein schien.
Heidejunges' Mutter hatte ihm nie erzählen wollen, woher die Verletzungen der Krieger stammten und er hatte auch Glanzschwinge nicht dazu bewegen können, ihm irgendetwas zu verraten. Also musste er es allein herausfinden oder seine Neugier verklingen lassen.
Schattenwächter winkte die beiden Jungen mit seinem schweren Schweif zu sich und positionierte sie links und rechts von seinen stämmigen Beinen. »Ihr wollt also wissen, wie man sich an Landbeute anschleicht, hm?«
Die Geschwister nickten, Schneejunges etwas entschlossener als Heidejunges, und spitzten aufmerksam die Ohren.
»Im Prinzip gelten die gleichen Regeln wie bei Wasserbeute. Euer Schatten darf nicht auf sie fallen und sie darf euch auch nicht hören, verstanden?«
Es gab eine Pause, in der sich die drei Clangefährten weiter von der toten Maus entfernten, um so zu tun, als könnte sie sie sehen. »Zusätzlich darf sie euch aber auch nicht riechen, deswegen müsst ihr so stehen, dass der Wind in eure Richtung weht. Ja, genau so. Jetzt macht mir alles genau nach.«
Schattenwächter demonstrierte das Vorgehen, indem er in das typische Jagdkauern verfiel und sich lautlos an seine Beute anschlich. Als er zwei Katzenlängen von ihr entfernt war, lief er schneller und sprang auf sie zu. Mit Staunen beobachteten die Jungen, wie seine mächtigen Pfoten exakt auf dem graubraunen Körper landeten und ihn unter sich begruben.
Schneejunges schnurrte aufgeregt, als er sich wieder zu ihnen umwandte. »Jetzt ich!«, rief sie und kauerte sich genauso hin, wie es der Kater vor ihr getan hatte. »So?«, fragte sie.
Schattenwächter begutachtete ihre Haltung. »Ja, aber halte deinen Schweif gerade. Sonst könnte er über den Boden schleifen.«
Schneejunges gehorchte und saß bald darauf schnurrend auf der Maus, die inzwischen schon ganz zerquetscht war. »Du bist dran«, rief sie Heidejunges zu.
Der grau gestreifte Kater zögerte. »Warum müssen wir das lernen?«, fragte er Schattenwächter. »Wir sind RegenClan-Katzen. Wir jagen doch eigentlich im Wasser, oder?«
»Schon. Aber wenn der Fluss im Blattfall austrocknet, müssen wir uns anderweitig versorgen.«
»Das kann passieren?«, miaute Heidejunges mit aufgerissenen Augen. »Obwohl es so viel Wasser gibt?«
»Gelegentlich.« Der schwarz-graue Kater zuckte mit dem Ohr. »Es ist in meiner Zeit nur zweimal vorgekommen. Aber es könnte jederzeit wieder passieren.«
Heidejunges hielt die Luft an. Das würde auch bedeuten, dass dann keine Kräuter mehr wuchsen und sie keine Kranken mehr behandeln könnten. Dummkopf. Deswegen hat Vipernschatten ja den Vorratsbau.
»Heidejunges«, schnappte Schneejunges. »Du willst dich nur drücken.«
Kopfschüttelnd drückte sich der kleine Kater tief auf den Boden. Schattenwächter musste seine Haltung mehrmals ausbessern und selbst dann fiel es ihm schwer, seine Beute nicht zu verfehlen.
»Es war nur das erste Mal«, beruhigte ihn der dunkle Krieger. »Beim nächsten Mal wird es besser.«
Heidejunges nickte beklommen und sah Schattenwächter fragend hinterher, als dieser von Schlangenfell zur Patrouille eingeteilt wurde. So freundlich und redselig kannte er ihn gar nicht. Während seines Besuches im Heilerbau und auch während seines Gesprächs mit Schmetterlingsstern war Schattenwächter ihm irgendwie kalt und distanziert vorgekommen. Sicherlich nicht wie der lustige Kater, der Junge aus Spaß unterhielt. Doch möglicherweise hatte sich Heidejunges auch geirrt und sein Verhalten missverstanden. Katzen verhielten sich immer anders im Streit, sogar Schneefänger konnte seinen Humor verlieren, wenn er wütend war.
Ob der Zorn etwas mit den Köpfen der Krieger anstellte?, fragte sich der junge Kater hilflos. Was würde er wohl mit ihm machen? War er jemals wütend geworden?
Schneejunges kam ihm entgegen und unterbrach seine verzwickten Gedanken. »Schade, dass er so schnell wegmusste.« Sie deutete auf den Schilftunnel, durch den Schattenwächter das Lager verlassen hatte. »Was wollten Schmetterlingsstern und unsere Eltern eigentlich von dir? Sie haben mir nichts gesagt.«
»Ach, nichts«, sagte Heidejunges ausweichend und schlenderte zur Kinderstube. »Sie haben mich nur gefragt, ob ich wirklich Heiler werden will.«
»Und du hast ja gesagt?«
Er nickte. »Ich glaube, ich muss es tun.«
Schneejunges seufzte, zuckte aber schließlich mit den Schnurrhaaren. »Wir können ja immer noch zusammen Schwimmen lernen.«
Nicht wissend, was er sonst tun sollte, stimmte Heidejunges ihr einfach zu und setzte seinen Weg fort. Er hoffte, dass seine Schwester nicht allzu sehr unter seiner Entscheidung zu leiden hatte und sie trotzdem Freunde blieben. Er hatte niemanden außer ihr.
In der Kinderstube angekommen, beobachtete Heidejunges, wie sich Traumjäger und Mausestreif in einer Ecke die Zunge gaben, Spiegelwasser aber alleine zusammengerollt in ihrem Nest lag. Waren sie und Schneefänger immer noch zerstritten? Er hatte nicht sehen können, ob die beiden nach der Visite im Heilerbau noch einmal miteinander geredet und sich vertragen hatten. Was, wenn es seine Schuld war, dass sie sich nicht verstanden?
In einem Versuch, die hell gefleckte Kätzin zu trösten, schmiegte sich Heidejunges an sie und schnurrte für sie beide. Es schien zu wirken, denn Spiegelwasser legte ihren seidigen Schweif um ihre Jungen und entspannte sich. Auch, wenn die Welt untergehen würde, wäre sie für Schneejunges und Heidejunges da.
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