Prolog
Es war Nacht.
Eine Nacht, in der sich das Leben zwei junger Katzen für immer ändern sollte.
Denn das war ihre Bestimmung. Eine Bestimmung, die vor langer Zeit von den Heiligen Fünf vorausgesagt worden war.
Leise wisperte der Wind, sein Geflüster erzählte von Geschichten, die seit Ewigkeiten vergangen waren.
Nur Sonne, Mond und Sterne kannten diese Legenden, und bewahrten sie für die Unendlichkeit.
Heute war der Mond nur ein Kratzer am wolkenverhangenen Himmel, dennoch flackerten kleine Lichter im Wald und auf dem Moor, ebenso wie in den Bergen und am Meer.
Diese Orte waren Totengräber, eines für jeden Clan.
Und in dieser Nacht klangen die Stimmen der Ahnen unruhig, aufgeregt. Als könnten sie spüren, dass sie ihr aller Schicksal entscheiden würde.
Eines der Gräber lag auf einer kleinen Lichtung. Sie war über und über bedeckt mit den verschiedensten Blumen, großen und kleinen, mit langen Stielen oder runden Blättern.
Tulpen, Rosen, Veilchen, Narzissen, Lavendel, Mohn, Lilien, Nelken und viele andere Pflanzen wuchsen dort, eine riesige Vielfalt an Blüten.
Sie alle leuchteten in demselben, gespenstischen Licht, das sie glühen ließ wie Sterne.
Eine Pflanze leuchtete heller als alle anderen. Es war ein junger Ahornbaum am Rande der Lichtung. Das Leuchten wurde immer heller, gleißend hell, bis es strahlend weiß schimmerte. Und dann, als wäre sie aus dem Boden gewachsen, stand sie da.
Es war eine Kätzin.
Ihr bleiches, cremefarbenes, langes Fell war von blutroten Flecken bedeckt, in ihren dunkelblauen Augen spiegelte sich das Licht des Mondes, der hinter den Wolken hervorlugte, als wolle selbst er sehen, was dort unten in der Welt vor sich ging.
Die silbrig glänzenden Schnurrhaare der Kätzin zuckten amüsiert, als hätte sie gerade noch etwas unglaublich Lustiges gehört.
»Du machst dir zu viele Sorgen, Blattstern«, murmelte sie. »Alles wird gut werden, du wirst schon sehen!«
Sie heftete ihren kristallklaren Blick auf die anderen Blüten, als wartete sie auf eine Antwort. Diese schwiegen jedoch.
Die Kätzin schüttelte ihr langes Haarkleid und betrachtete ihre Pfoten. Sie waren weiß. Ihre Augen wanderten über ihren immer noch leicht schimmernden Pelz, wie jemand, der zum ersten Mal sein Spiegelbild sieht.
Wieder musste sie schmunzeln, während sie daran dachte, was eine zufällig vorbeikommende Katze wohl von ihr halten musste. Denn zugegeben, normal war sie ganz und gar nicht:
Über ihre dunkelroten Flecken zogen sich feine Linien, wie Adern durch Haut, die an den Enden zusammenliefen. So bildeten sie ein immer gleiches Muster von den Blättern des Baumes, der sich schließlich in die Kätzin verwandelt hatte.
Ihr Fell war durchscheinend, sodass man die Blumen und Bäume hinter ihr erkennen konnte. Nur ihre Umrisse glühten noch genauso hell wie vorher der Ahornbaum.
Doch das Außergewöhnliche an der Kätzin war wohl, dass sie eigentlich tot war. Trotzdem putze sie sich gerade mitten auf einer Lichtung voller leuchtender Blüten den Pelz, als sei es das Normalste der Welt.
Mit langen, gründlichen Strichen zog sie ihre Zunge durch ihr Fell. Sie wischte sich mit ihrer Pfote über's Ohr, dann über das andere. Schließlich beendete sie ihre Wäsche und rappelte sich auf die Pfoten.
Die Kätzin sah auf die funkelnden Blumen. Mit ihren Augen fixierte sie eine Pflanze in der Mitte.
Sie schien das Zentrum der anderen Blüten zu sein, denn sie alle waren kreisförmig um sie herum ausgerichtet.
Die Kätzin blinzelte kurz, dann neigte sie den Kopf.
Schnellen Schrittes entfernte sie sich von der Lichtung. Sie war in Gedanken gewesen, doch es gab wichtigere Dinge in dieser Nacht, Dinge, die getan werden mussten.
Die cremefarbene Geisterkatze schlug den einzigen Weg ein, der von der Lichtung wegführte. Es war ein schmaler Pfad, der sich wie ein Fluss durch eine kleine Hügelgruppe hindurchschlängelte.
Sie folgte dem Pfad, bis sie einen umgestürzten Baumstamm erreichte.
Mühelos glitt sie unter den herabhängenden Zweigen hindurch.
Der Weg hatte sie auf eine weitere Lichtung geführt.
Offensichtlich war es ein Lager. Einige kleine, schwarze Gestalten huschten über den grasbewachsenen Grund der Lichtung, ruhiger Atmen und sanftes Schnarchen tönten aus verschiedenen Bauen an das Ohr der Kätzin.
Ein wehmütiges Funkeln lag in ihren dunkelblauen Augen, die sie auf ein geschütztes Dornengebüsch am Rande der Lichtung geheftet hatte.
Wie von selbst trugen ihre Pfoten sie dorthin. Die anderen Katzen nahmen keine Notiz von ihr, für sie war sie unsichtbar. Vorsichtig schob sie sich durch die dichten Zweige in die warme, nach Milch duftende Kinderstube.
Dort, in einem weichen Nest aus Moos und Farn lag eine hübsche, gescheckte Königin. Ihren Schwanz hatte sie liebevoll um fünf Junge geschlungen, die tief und fest in der Beuge ihres Körpers schliefen.
Auch ihre Flanke hob und senkte sich leicht, sie befand sich, wie ihre Jungen, im Reich der Träume.
»Ich wusste doch, dass ich dich hier treffen würde.«
Erschrocken wirbelte die Geisterkätzin herum. Sie war so auf die Mutter und ihre Jungen fixiert gewesen, dass sie den Neuankömmling gar nicht bemerkt hatte.
Bei diesem handelte es sich ebenfalls um eine Kätzin, und auch sie war ein Geist.
Ihr braun geflecktes Fell war durchsichtig, feine Sonnenblumen zeichneten sich auf ihrem Körper ab.
Die erste, cremefarbene Kätzin neigte den Kopf.
»Sei gegrüßt, Blattstern«, miaute sie höflich. »Dich hatte ich hier nicht erwartet. Warum bist du hier?«
»Aus demselben Grund wie du, Ahorntraum«, erwiderte Blattstern ruhig. »Die Zeit ist gekommen. eine neue Prophezeiung muss erfüllt werden. Unsere Generation war einmal, unsere Taten haben keine Bedeutung mehr. Es muss neue Helden geben, um den Sturm abzuwenden, der kommen wird.«
Wie auf Kommando hob die Königin, die zuvor geschlafen hatte, ihren zierlichen Kopf. Verwirrt blickte sie von einem Geist zum anderen.
»Ahorntraum? Blattstern? Was..?«
»Pst!«, zischte Ahorntraum. »Niemand darf wissen, dass wir hier sind!«
Die Königin öffnete ihr Maul, klappte es jedoch wieder zu, ohne das ein Wort ihren Mund verließ. Mit großen Augen blickte sie die beiden Katzen an.
Ahorntraum seufzte, und begann: »Hör zu, wir haben nicht viel Zeit. Wir sind wegen deiner Jungen gekommen.«
Sie warf einen betrübten Blick auf die kleinen Häuflein Fell an der Seite der gescheckten Königin, dann fuhr sie fort.
»Ihr beide wollt euren Jungen einfach nur gute Eltern sein, aber manchmal bedeutet das auch, selbst Opfer zu bringen. Ihr habt euch den Kopf zerbrochen, Tag und Nacht, was mit ihnen geschehen soll. Wir stimmen euren Überlegungen zu. Ihr wisst was das bedeutet?«
»Nein!«, jaulte die Königin. »Ihr könnt nicht von uns verlangen, dass wir sie aufgeben!«
»Sag's ruhig noch lauter, ich glaube es gibt ein paar Katzen am Sternenmeer, die dich noch nicht gehört haben«, bemerkte Blattstern sarkastisch.
»Was Blattstern eigentlich sagen wollte,«, entgegnete Ahorntraum rasch, nicht ohne der ehemaligen Anführerin einen Musste-das-jetzt-sein-Blick zuzuwerfen. Sie hatte die gescheckte Königin zwar nie besonders gemocht, aber darum ging es hier nicht.
Im Moment war es nicht wichtig, dass sie Ahorntraum als Schülerin immer gehänselt hatte, es war nicht bedeutend, dass sie sich gegenseitig verabscheut hatten. Selbst, dass sie ihr die Liebe ihres Lebens weggeschnappt hatte, weil sie überlebte während Ahorntraum starb, war jetzt nicht von Bedeutung.
Das Einzige, was zählte, war, dass die Königin ihre Taten bereute. Und Ahorntraum konnte verzeihen.
»Was Blattstern eigentlich sagen wollte, war, dass eure Entscheidung nicht zwingend bedeuten muss, die Jungen zu verlieren. Es wird das Beste für sie sein. Weißt du, unsere Geliebten werden nie für immer von uns gehen, denn solange wir an sie denken, leben sie in unseren Herzen weiter.«
Unsere Zeit ist vorbei. Früher haben wir die Welt gerettet. Jetzt müssen wir darauf vertrauen, dass es neue Katzen geben wird, die uns retten. Und dass wir gerettet werden müssen, ist nur eine Frage der Zeit.
Alles hat sich verändert, und wenn wir uns nicht auch verändern, wird die Welle der Veränderung uns alle überrollen.
~ 1193 Wörter ~
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