
#56 - Hilflos. Sprachlos. Boom.
Ich war nicht in der Lage, etwas zu sagen.
„Was machst du denn hier?", fragte Niall erstaunt.
Seine Haltung war jetzt nicht mehr so gespannt wie vorher, als er noch nicht wusste, wer in seine Wohnung eingedrungen – oder eingebrochen – war, aber jetzt, da er wusste, wer es war und dass es kein Einbrecher im klassischen Sinne war, war er nur noch alarmiert.
Klar, er war nicht blöd, er hatte genauso gerafft, wie das Ganze aussah, was Harry hier in Nialls Schlafzimmer erblickte.
Harry öffnete den Mund, aber er sagte nichts.
Keiner sagte in diesem Moment etwas. Wir waren alle neben der Spur, alle drei.
Dann zuckte ich heftig zusammen, weil Harry nämlich doch seine Sprache wiederfand.
„WHAT THE HELL?! Ernsthaft?! Ich glaube das nicht! Ich kann das nicht glauben!! Wie lange geht das schon?!?", schrie er und starrte uns jeweils an.
Ich hatte Harry noch nie so fuchsteufelswild erlebt. Wir hatten uns schon einige fetzige Streits und hitzige Diskussionen geliefert, in denen wir laut geworden sind, aber das hier... das hatte ich noch nie erlebt. Ich hätte niemals gedacht, dass er überhaupt so schreien konnte. Das passte nicht zu ihm.
Das passte nicht zu ihm.
Es warf mich vollkommen aus der Bahn. Es brachte mein gesamtes Universum durcheinander.
„Was? – Nein, Harry! Spinnst du? Du denkst echt, Sam und ich haben was am Laufen? Das kann doch nicht dein Ernst-"
„Halt die Klappe!", fuhr Harry ihm scharf ins Wort. „Halt einfach die Klappe!!"
„Nein, halt du deine Klappe!!"
Jetzt wurde Niall ebenfalls laut.
„Ich lass mir hier in meiner Wohnung von dir sicher nicht den Mund verbieten, Harry! Komm mal wieder runter, du drehst schon vollkommen hohl!!", wies er Harry zurecht, aber der hörte ihm überhaupt nicht zu.
Sein irrer Blick fokussierte jetzt mich und er kniff die Augen leicht zusammen. Er schnaubte verächtlich.
„Mit wem hast du denn noch alles was laufen außer mit Niall? Mit Justin sicher, so wie der schon bei den EMAs auf dich abgefahren ist."
Wieso hackte eigentlich jeder auf diesen bescheuerten EMAs herum, die schon gefühlte Millionen Jahre her waren?!
„Und mit deinem Ex sicher auch. Wie hieß er gleich nochmal? Ach ja, Nico. Der stand doch eh noch so auf dich. Zu dem bist du bestimmt gleich zurück. Vielleicht sonst noch jemand? Einer der Tänzer? Oder ein Kumpel, von dem ich nichts weiß?"
„Sag mal, bist du vollkommen bescheuert?!", herrschte ich ihn an.
Ich hatte endlich meine Stimme wiedergefunden. Und mit ihr auch mein Temperament, das jetzt vollkommen mit mir durchging.
„Du hast doch nicht mehr alle Latten am Zaun!! Weißt du eigentlich, wie viel ich wegen dir geweint habe?"
„Ja, geeeenau. Sonst noch irgendwelche Märchen auf Lager?", spuckte er mir entgegen und verschränkte amüsiert die Arme vor der Brust.
Die Worte blieben mir im Hals stecken.
Wer war er? Und wo war der Harry, den ich kannte und liebte?
Das hier war er nicht. Das hier war ...keine Ahnung wer oder was, aber ich hatte Schiss vor ihm. Er würde mich nur verletzen, das wusste ich.
„Du bist so ein Arschloch!!!", schrie ich und sprang aus dem Bett.
Ich stürmte auf ihn zu und knallte ihm eine mit voller Wucht. Das hatte er nicht kommen sehen. Sein Kopf flog zur Seite und im nächsten Moment packte er meine Handgelenke. Ein plötzlicher Schmerz durchfuhr meine Arme und ich hätte beinahe vor Schmerz und Überraschung aufgeschrien.
„Ich?", zischte er mir ins Gesicht und seine Augen funkelten gefährlich.
Er stieß mich von sich und ich stolperte ein paar Schritte nach hinten.
„Ja, du!"
Ich ließ mich nicht von ihm einschüchtern. Was glaubte er eigentlich, wer er war?
„Was glaubst du eigentlich, wer du bist?", schrie ich aus diesem Gedanken heraus. „Bist du Gott oder was? Du hast voll den Knall, du drehst echt durch, Niall hat Recht!!"
„Ja, klar hat dein lieber süßer kleiner Niall Recht, der könnte sonst etwas sagen und du würdest ihm Recht geben!"
Mit diesen Worten drehte er sich um, riss die Tür hinter sich auf und verschwand.
„Harry! Bleib hier!!", brüllte ich zornig und rannte hinter ihm her. „Du wirst jetzt nicht abhauen! Du Feigling!!!"
Abrupt blieb er an der Wohnungstür stehen. Ich blieb ebenso plötzlich wie er stehen, ein paar Meter von ihm entfernt. Außer Reichweite von ihm, ich wollte nicht schon wieder so gepackt werden. Wahrscheinlich würde ich Blutergüsse oder blaue Flecken an meinen Handgelenken bekommen, bei so etwas war ich echt empfindlich.
„Ich bin ein Feigling? Ich?! Wer ist denn vor mir immer abgehauen, wenn ich ihr hinterhergeflogen bin?"
„Abgehauen?!", echote ich ungläubig.
„Jaa, abgehauen! Nur damit du ja nicht mit mir reden musst!", keifte er und starrte mich finster an.
„Du hast echt den Verstand verloren." Meine Stimme klang tonlos und leise. „Ich weiß nicht mehr, wer du bist."
„Tja, ich weiß auch nicht mehr, wer du bist. Auf jeden Fall nicht meine Sam. Denn meine Sam würde nicht bei anderen Jungs im Bett schlafen."
„Du spinnst so!!!", schrie ich jetzt wieder aufgebracht, aber er drehte sich einfach um und ging hinaus.
Ich schlüpfte schnell in meine Schuhe und stürmte hinter ihm die Treppe nach unten. Er war schon bei der Haustür angekommen.
„HARRY!!!"
Ich rannte hinter ihm hinaus und zuckte zusammen, als mir der Regen mit voller Wucht ins Gesicht klatschte. War ja klar. Nach wenigen Sekunden war ich schon durchnässt, obwohl ich immer noch Nialls ach so tollen Pulli trug.
„Harry!!! Bleib stehen!!", kreischte ich schon fast und war erstaunt, als er das dann auch wirklich tat. Er blieb stehen und drehte sich zu mir um. Sein Gesicht war ausdruckslos.
„Was", sagte er, ohne einen fragenden Unterton, ohne irgendeine Regung zu zeigen.
Das verwirrte mich.
„Bist du jetzt vollkommen durchgedreht?!", fragte ich und starrte ihn aus zusammengekniffenen Augen an, weil ich so viele Regentropfen ins Gesicht bekam. „Spinnst du komplett?!"
„Du bist hier", keuchte ich leise und ich konnte mich kaum selber verstehen, aber Harry schien mich wohl verstanden zu haben.
„Ich werde dir überall hin folgen", flüsterte er zurück und ließ mich wieder nach unten.
Ich löste meine Arme von seinem Hals und sah in seine Augen, die hier in der Dunkelheit schwarz aussahen.
Ganz vorsichtig, als wäre ich etwas ganz Kostbares, das zerbrechen konnte, legte er eine Hand an meine Wange und ich spürte seine Haut federleicht und samtweich über meine streichen. Eine unglaubliche Gänsehaut überzog meine Arme, meinen Nacken, meinen Rücken, meine Beine... meinen ganzen Körper. Mein Herzschlag war in den lebensbedrohlichen Bereich gekommen und ich atmete nur noch ganz flach.
Langsam strich er mit der Hand ein paar Haarsträhnen, die sich in mein Gesicht verirrt hatten, zur Seite und flocht seine Finger dann vorsichtig in meine Locken. Mit der anderen Hand strich er jetzt über meine andere Wange und ich spürte, wie mir das Blut in die Wangen schoss und ich wirklich drohte umzukippen.
„Ich werde dir überall hin folgen", wiederholte er seine Worte und hielt mich dabei nicht nur mit seinen Händen, sondern auch mit seinen Augen fest.
Dann beugte er sich langsam zu mir nach unten und es geschah das, wonach ich mich so sehr sehnte, dass es nicht nur seelisch, sondern auch körperlich schmerzte.
Er küsste mich.
Ich krümmte mich leicht zusammen, als die Erinnerung an unseren ersten Kuss mich durchflutete. Wie er mich damals angeschaut hatte. Wie zaghaft er mich berührt hatte. Als wäre ich nicht real. Als könnte er sein Glück nicht fassen. Als wäre ich etwas ganz Besonderes, etwas ganz Kostbares und Zerbrechliches.
Wo war dieser Harry?
Die Person, die ich über alles liebte und für dich ich sterben und durch die Hölle gehen würde?
Das hier war er nicht. Dieser irre Kerl, der mich mit seinen grünen Augen böse anfunkelte. Das war er nicht. Das konnte er nicht sein, denn so war er nicht.
Nein.
Das war er nicht.
Aber wahrscheinlich war er es doch.
Und ich hatte gedacht, ICH drehte durch. Ich dachte, ich würde den Verstand verlieren, weil ich überfordert mit meinem Leben war. Aber wenn ich mir ihn genauer ansah... dann änderte ich meine Meinung wohl doch ziemlich schnell.
„Nein, das bist du. DU bist verrückt. Du bist doch die, die hier mit jedem in die Kiste springt", fauchte er laut.
„Ich?! Du bist doch krank!!! Ich?!? Und was war das mit Cara Delevingne bitte?!? Dieses Foto?! Was war das?!", fragte ich die Frage, die mir seit einer gefühlten Ewigkeit auf dem Herzen und auf meiner Zunge brannte und ein riesiges Loch in meiner Seele hinterlassen hatte.
Er antwortete nicht.
„Ich habe dich etwas gefragt, also gib mir eine Antwort!", schrie ich ihn an.
„Das geht dich rein gar nichts an", sagte er leise.
Ich schnappte nach Luft.
Hilflos.
Sprachlos.
Boom. Was für ein Schlag in die Magengrube.
Ich wusste überhaupt nicht, was ich noch erwidern sollte.
Es fühlte sich so an, als würde er mein Herz zwischen seinen schlanken, aber starken Fingern zerquetschen.
Mit bloßen Händen. Erbarmungslos.
Erschrocken wich ich einen Schritt zurück und starrte ihn nur an.
Hatte er das ernst gemeint?! War das sein Ernst?! Das konnte doch nicht sein Ernst sein!
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