*Erinnerungen*
„Maya! Bitte, hör mir doch mal zu!" Kai steht in meinem Wohnzimmer während ich noch nach dem Autoschlüssel suche. Seit wir vor zwei Tagen im Krankenhaus waren, weicht er mir nicht mehr von der Seite. Tief in meinem Inneren möchte ich ihm glauben, dass alles wieder gut wird. Aber dieser Teil wird abgeschirmt. Ich habe keine Ahnung was die Kontrolle übernommen hat, aber mein Herz ist definitiv nicht beteiligt. Das liegt in tausend Stücke zerbrochen am Boden und schafft es gerade eben so mich am Leben zu erhalten.
„MAYA! Jetzt bleib doch endlich mal stehen! Du kannst das nicht machen verdammt!" Er gestikuliert wild mit den Händen und genau da sehe ich meine Autoschlüssel. Mit eiskaltem Blick renne ich fast schon auf ihn zu und Kai ist für einen Moment so überrascht, dass ich ihm meine Schlüssel einfach aus der Hand reißen kann.
Ich drehe mich um und gehe ohne ein Wort zur Tür. Ich muss das machen. Anders geht es einfach nicht. Doch gerade als ich die Wohnungstür öffnen will, packt Kai mich am Arm, fester als vermutlich beabsichtigt. „Maya, was soll der Scheiß? Du wirst das auf keinen Fall tun! Ich glaube, du hast sie nicht mehr alle!" Das reicht. Schon die letzten Tage redet er ständig auf mich ein und jetzt ist das Maß voll.
„Du hast mir nicht zu sagen, was ich kann und was nicht! Das ist ganz allein meine Entscheidung. Und wenn du damit nicht klar kommst kannst du dich aus meinem Leben verpissen!" Schon während ich die Worte ausspreche, bereue ich sie zutiefst. Vor allem als ich sehe, wie mein bester Freund mich geschockt und zutiefst verletzt anschaut. Meine Worte haben ihn schlimmer getroffen als jede Ohrfeige, doch ich erreiche damit genau das was ich will. Er lässt mich los und ich kann gehen.
Unten vor dem Haus renne ich aber gleich in den nächsten Kerl. Paul. „Hey alles ok bei dir?", fragt er und mustert mich besorgt. „Ja und jetzt lass mich, ich muss los!", fahre ich ihn an. Paul aber lässt sich nicht abwimmeln. „Ist Kai noch oben?" Ich nicke nur, weiche seinem Blick aus. „Wenn du mir das jetzt auch noch ausreden willst, dann lass es direkt!"
Aber Paul macht genau das Gegenteil. Er schiebt mich zur Beifahrerseite seins Wagens. „Steig ein. Ich fahre dich hin." Unsicher und misstrauisch schaue ich ihn an. „Maya... ich werde dir nicht reinreden. Du kennst meine Meinung, aber es ist deine Entscheidung und wenn du das wirklich möchtest bin ich für dich da. Ich lass dich das nicht alleine machen. Also steig bitte ein." Stumm nicke ich und lasse mich in den Sitz fallen. Meine Hände zittern beim Anschnallen so heftig, dass ich wahrscheinlich selber gar nicht hätte fahren können.
Während der Fahrt reden wir kein Wort, erst als Paul auf dem Parkplatz vor dem Backsteingebäude anhält und aussteigt, finde ich meine Stimme wieder. „Du musst nicht mit rein. Ich rufe mir nachher ein Taxi." Aber Paul schließt einfach sein Auto ab, nimmt meine Hand und geht mit mir zusammen nach drinnen. Auch als ich mich am Empfang anmelde und im Wartezimmer platz nehme, lässt er sie nicht los. Auch wenn ich es nicht gedacht hätte, aber es tut gut, ihn an meiner Seite zu haben. Obwohl ich auch ein schlechtes Gewissen gegenüber Kai habe.
„Ich hoffe, du bekommst jetzt wegen mir keinen Ärger mit Kai. Ich möchte nicht, dass ihr euch meinetwegen streitet." Paul schenkt mir ein süßes Lächeln und legt seinen Arm um meine Schultern, sodass ich meinen Kopf an ihn lehnen kann. „Keine Sorge, er wird das verstehen. Und wenn nicht, ziehe ich mich einfach aus, dann kann er mir gar nicht mehr böse sein." Ohne es zu wollen, kichere ich leise. Genau deshalb habe ich Paul so gerne. Er benimmt sich einfach ganz normal, auch wenn die Situation alles andere als normal ist.
Erst als ich aufgerufen werde, lässt er mich wieder los. „Ich warte hier auf dich. Und egal wie du dich entscheidest, ich bin für dich da. Und Kai auch." Ich drücke nochmal seine Hand und stehe dann auf. „Meine Entscheidung steht. Das hier ist nur Pflicht", sage ich noch leise und folge dann der Schwester in das Behandlungszimmer. Ich komme seit ich vierzehn bin regelmäßig her und doch fühle ich mich heute extrem unwohl. Auch als Dr. Jochen hereinkommt und mich mit ihrer typischen überschwänglichen Art begrüßt, macht es das nicht besser.
„Ok Maya. In deiner Akte wurde schon vermerkt warum du hier ist. Natürlich bin ich bereit dir eine Bescheinigung auszustellen, mit der du dann zur Beratungsstelle und anschließend in eine Klinik gehen kannst. Aber zuvor müssen wir ganz genau darüber reden, damit dir klar ist, was du da tust." Bevor sie weiterreden kann unterbreche ich sie sofort. Denn den Vortrag hat mir Kai in den letzten beiden Tagen zu genüge gehalten.
„Ich bin mir vollstens bewusst was ich tue. Ich kenne die Folgen und Risiken. Also bitte machen sie einfach die nötigen Untersuchungen und geben mir die Bescheinigung." Mein Ton ist vielleicht ein bisschen harsch, doch entschuldigen kann ich mich auch später noch. Doch Dr. Jochen lässt sich in ihrer Frohnatur gar nicht beeindrucken.
„Maya, ich weiß, dass du eine intelligente junge Frau bist und dass du weißt was auf dich zukommt. Doch trotzdem ist das hier eine Ausnahmesituation. Die Entscheidung ist endgültig. Du wirst mit mir darüber reden müssen, denn sonst kann ich dir nicht guten Gewissens dabei helfen. Aber das Reden können wir noch verschieben. Als erstes werden wir mal die Untersuchungen machen und wenn wir alles beisammenhaben, unterhalten wir uns. Einverstanden?"
Ich nicke nur und hoffe, dass ich sie schnell überzeugen kann. Ich will einfach nur, dass das alles vorbei ist. Ich entledige mich also meiner Hose und Unterwäsche, nehme danach auf dem Stuhl Platz. Sobald ich richtig liege schließe ich meine Augen und versuche alles um mich herum auszublenden. Ich höre zwar die Stimme meiner Ärztin, allerdings nehme ich ihre Worte gar nicht richtig auf. Sie erklärt mir glaube ich was sie macht, doch es interessiert mich eigentlich nicht. Es soll nur vorbei gehen.
Wie in Trance liege ich einfach da und wie von selbst taucht sein Gesicht vor mir auf. Seit ich wieder arbeiten gehe, habe ich nicht mehr an ihn gedacht. Abends war ich so müde, dass ich nicht mal mehr geträumt habe. Doch jetzt kommt alles wieder hoch. Ich kann beinahe seine weichen Locken zwischen meinen Fingern spüren. Seine funkelnden braunen Augen, die mich mit so viel Liebe betrachtet haben. Sein liebevolles Lächeln. Alles eine Lüge. Mit der er davon kommt. Ich muss mit den Folgen leben.
Während sein Bild immer mehr verschwimmt, nehme ich am Rande meines Verstandes ein leises unruhiges Flattern war. Das Geräusch zieht mich immer mehr zurück in die Realität, zurück in das Behandlungszimmer. Das wummernde Geräusch wird lauter und jetzt höre ich es ganz deutlich, kann es aber nicht zuordnen. Ich öffne meine Augen und schaue nach unten zu Dr. Jochen. Sie erwidert meinen Blick, ihr Lächeln ist jetzt viel weicher und mitfühlender. Fast schon mütterlich.
„Was...?" Mein Hals ist ganz trocken, deshalb bekomme ich kaum ein Wort heraus. Aber die junge Frau scheint mich trotzdem verstanden zu haben. Ihr Lächeln wird noch breiter und irgendwie wissend. „Das, meine Liebe, ist der Herzschlag von deinem Baby." Mein Herz setzt für einen Schlag aus. Der Herzschlag. Es hat bereits einen Herzschlag! Dr. Jochen wendet ihren Blick von mir ab und dem Monitor vor ihr zu. Ich folge ihrem Blick und schaue ebenfalls auf den Bildschirm. Erst sehe ich da gar nichts außer graues Rauschen. Doch dann spüre ich, wie meine Ärztin den Ultraschallstab etwas bewegt und da sehe ich es.
Eine kleine weiße Blase, darin ein schwarzer... Punkt. Der in einem ähnlichen Takt zu dem Wummern im Raum flattert. Einen Moment kann ich nur auf den kleinen Punkt starren. Das ist ein Baby. Das ist MEIN Baby! Mein Baby und ich... ich wollte es wegmachen lassen... was bin ich bitte für eine Mutter?! Erschrocken schlage ich mir beide Hände vor den Mund und muss laut schluchzten. Ich werde Mutter! Ich werde die Mama von dem kleinen Pünktchen da sein! Auch wenn dieses kleine Etwas mich mein Leben lang an Erik erinnern wird, ich kann es nicht abtreiben lassen. Es hat einen Herzschlag!
In dem Moment wird mir klar, dass Kai vollkommen recht hat. Ich war bereit, mein eigenes Kind umzubringen. Und ich blöde Kuh habe ihn noch dafür angebrüllt. Ich kann nicht mehr. Alles bricht aus mir heraus und ich fange beinahe hysterisch an zu weinen. Ich sehe nichts, höre nichts, kann nur weinen und alles rauslassen. Nur nebenbei bekomme ich mit, wie meine Beine runtergelegt und eine Decke über mich gelegt wird. Jemand verlässt den Raum und kurz danach kommt jemand wieder rein. Erst als er seine warmen Hände um mein Gesicht schließt, seine Stirn von oben an meine legt und ich seinen vertrauten Geruch wahrnehme, weiß ich wer es ist.
Ich strecke meine Hände nach ihm aus und nehme meinerseits sein Gesicht in beide Hände. „Es tu-ut mir so-o le-eid Kai. Ich...hä-ätte dich nich-cht so anschreine so-ollen. Ich lie-iebe di-ich do-och." Ich spüre seine Lippen an meiner Stirn, an meiner Schläfe, an meiner Nase. „Schschsch, alles gut kleine Biene. Alles wird gut. Ich bin hier meine Kleine. Bitte hör auf zu weinen." Aber egal wie sehr ich es versuche, ich kann einfach nicht.
Erst als mir schon der Kopf vom vielen Weinen richtig schmerzt und nur noch stumme Schluchzer meine Kehle verlassen beruhige ich mich langsam. Kai steht immer noch am Kopfende und wischt mir allmählich meine Tränen von den Wangen. Jetzt, wo der Tränenschleier sich klärt, erkenne ich Kais blaue Augen, die mich besorgt, aber auch liebevoll anschauen. „Hey, da bist du ja wieder.", grinst er schwach, legt nochmal seine Lippen an meine Stirn.
„Kai?" Er richtet seinen Blick wieder auf mich. „Mmh?!" Ich streiche über seine rauen Wangen. Der zwei-Tage-Bart steht ihm irgendwie, auch wenn er den Stress der letzten Tage wiederspiegelt. „Ich werde bald Mama." Es laut auszusprechen verleiht dem ganzen eine viel realere Bedeutung. Aber irgendwie fühlt es sich auch verdammt gut an. Vor allem, als ich das kleine Lächeln auf Kais Lippen erkenne.
„Willst du das denn? Also... das Baby?" Er ist vorsichtig, aber ich kann das Lächeln immer noch sehen. Und so langsam überträgt es sich auch auf meine. „Ja, das möchte ich. Das ist mein Baby." Ich ziehe ihn ein bisschen näher zu mir, bis sein Ohr direkt neben meinem Mund ist. „Und es wird die besten Patenonkel der Welt haben, die auf es aufpassen werden." Kai richtet sich wieder ein wenig auf, seine Augen funkeln wie zwei Sterne und ich kann ihm deutlich die Freude ansehen, die ich ihm gerade gemacht habe.
„Wirklich?!", fragt er wie ein kleiner Junge an Weihnachten. Ich nicke nur und allein für diesen Ausdruck purer Freude lohnt sich das Ganze. „Ich werde der beste Onkel, den die Welt je gesehen hat! Ich werde mit ihm spielen, ihm zeigen wie man Basketball spielt, ihm zeigen wie man Mädchen rumkriegt, oder auch Männer! Ich werden ihm..." Lachend unterbreche ich meinen überschwebglichen besten Freundin.
„Kai, stopp! Also erstens solltest du vielleicht mit reden und laufen lernen anfangen bevor du an den Aufreißerfähigkeiten arbeitest. Und zweitens, woher willst du wissen das es ein Junge wird? Vielleicht wird es ja auch ein Mädchen?!" Kai schaut mich mit großen Augen an. „Ja hast recht. Und ist doch egal ob Mädchen oder Junge! Ich werde mich um euch beide kümmern. Egal was kommt. Wir sind doch eine Familie."
Und heute sitze ich wieder hier im Wartezimmer, vermutlich zum letzten Mal mit meinem Kind unter dem Herzen. Wenn alles glatt läuft halte ich in vier Wochen mein Baby in den Armen. Um ehrlich zu sein kann ich es kaum noch erwarten. Kaum zu glauben, dass das wirklich passiert.
Aber Kai hat Wort gehalten. Keine Woche nach diesem alles verändernden Tag wurde ich schon vor vollendete Tatsachen gestellt. Kai hat sich vor seinem Vater geoutet und ihm gleich auch Paul vorgestellt. Der arme Theo war äußerst überrascht, aber doch total cool. Für seine mittlerweile sechzig Jahre ist er ziemlich locker drauf. Auch auf meine Schwangerschaft hat er überraschend gut reagiert. Er war sogar richtig aus dem Häuschen. Großvater zu werden findet er super. Auch wenn wir nicht durch Blut verbunden sind, sind wir doch eine Familie.
Aber ich hätte Kai wirklich erwürgen können, als er mir freundlicherweise mitgeteilt hat, dass ich ab sofort mit ihm und Paul zusammen in einer Wohnung in einem nennen wir es Luxusviertel wohnen werden. Während er mir das gesagt hat, haben Paul und Charlie schon fleißig mein Zeug zusammengepackt. Aber wehren konnte ich mich nicht wirklich. Paul war total auf Kais Seite und sogar meine beste Freundin stellte sich gegen mich. Aber im Nachhinein bin ich ihnen wirklich dankbar dafür. Auch wenn Kai wirklich nervig sein kann. Ich kann nicht mal meine Nase kratzen ohne dass er gleich überfürsorglich wird.
Und genau das ist der Grund warum Kai nicht mehr mit zum Arzt darf. Er ist einfach unmöglich. Er hat jedes Buch über Schwangerschaften, Babys und allem was dazu gehört gelesen und mit diesem Wissen geht er nicht nur mir auf die Nerven. Genau deshalb wartet jetzt auch Paul im Wartezimmer auf mich, als ich zusammen mit Dr. Jochen das Behandlungszimmer verlasse. „Na dann. Wenn alles gut läuft sehen wir uns in vier Wochen zur Geburt. Sollte irgendetwas sein, rufst du mich oder auch die Hebamme an. Lieber einmal zu viel als einmal zu wenig. Alles gute Maya."
Mit einem breiten grinsen gehe ich zu Paul, der einen Arm um meine Schultern legt. „Und? Alles roger da drin?", fragt er und legt seine freie Hand auf meinen mittlerweile riesigen runden Bauch. Ich spüre wie ein kleines Füßchen sich von innen gegen die Bauchwand drückt, direkt in Pauls Hand. Das Lächeln auf seinen Lippen ist einfach zu süß. „Da hast du deine Antwort." Zusammen verlassen wir die Praxis und kaum haben wir das große Backsteingebäude verlassen, klinget auch schon mein Handy. Ich muss nicht mal auf das Display gucken um zu wissen wer das ist.
Ich gehe aber erst ran, nachdem ich mich mühsam ins Auto gequält habe. Schwanger sein im Hochsommer ist einfach nur scheiße! „Solltest du nicht in der Vorlesung sitzen?"", frage ich direkt und kurz kommt auch nichts. Erwischt! Nach kurzem Zögern antwortet mir Kai doch. „Ja, ich werde ja wohl auch mal auf die Toilette gehen dürfen!" Ich habe ihn erwischt und er reagiert wie ein patziges kleines Kind. Aber ich ärgere ihn gerne ein bisschen. Ein bisschen Spaß muss mir ja auch noch bleiben.
„Ach, und da hast du dir gedacht, wo ich schonmal auf dem Klo sitze ruf ich doch mal meine beste Freundin an, die ganz zufällig gerade von ihrem Frauenarzt kommt." Ich höre Kai am anderen Ende undeutlich vor sich hin brummeln, bevor er kleinlaut antwortet. „Sagst du es mir trotzdem?" Ich schaue schmunzelnd zu Paul, der nur grinsend auf die Straße schaut und sich in den Verkehr einordnet. Er weiß ganz genau wer am anderen Ende ist.
„Es ist alles in Ordnung. Größe, Gewicht und Lage sind gut und Dr. Jochen meint, dass es so aussieht als würden wir den Geburtstermin am 16. September einhalten. Es ist alles in Ordnung Kai. Und jetzt mach, dass du zurück in den Hörsaal kommst!" Damit lege ich einfach auf. Tue ich es nicht, könnte ich mir jetzt wieder einen Vortrag und tausend Fragen anhören.
Ich stecke mein Handy zurück in meine Handtasche und lehne mich halbwegs entspannt zurück. Dabei lege ich beide Hände auf meinen Bauch, streiche sanft über die Rundung und stelle mir vor wie es wäre, mein Kind in den Armen zu halten. Zu meinen Händen gesellt sich noch eine dritte. Paul streichelt ebenfalls über meinen Bauch und bekommt prompt wieder Antwort von drinnen. „Ok, was wollen meine beiden Mädels zum Mittag essen?"
Da hat Maya ein unvergessliches "Souvenir" aus Australien mitgebracht... Und sich zum Glück für das neue Leben entschieden!
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