9 | treason
Eine Woche vergeht, ohne dass ich auch nur ein Wort von den anderen höre. Dasselbe gilt auch für Natasha. Seit dem Gespräch im Krankenhaus habe ich sie nicht wiedergesehen. Deshalb bin ich umso überraschter, als Tess mir einen Anruf einer unbekannten Nummer durchstellt und Nats Stimme aus dem Hörer dringt.
»Ist der Kanal verschlüsselt?«, fragt sie.
Ich schließe vorsichtshalber meine Zimmertür, während Tess den Kommunikationskanal sichert. »Jetzt schon.«
»Gut. Wir brauchen deine Hilfe.«
»Bitte sag mir nicht, dass es ist, was ich denke, dass es ist.«
»Wir müssen die anderen aus dem Raft befreien.«
Das ist genau das, was ich befürchtet habe. »Nat, ich würde mich da gerne raushalten, okay?«
»Die Sicherheitssysteme und Überwachungskameras müssen unschädlich gemacht werden...«
»Ich hab Hausaufgaben und zwei Essays vorzubereiten.«
»...und dann sind wir ganz schnell wieder draußen. Niemand wird verletzt, niemand erfährt, dass du es warst.«
Ich seufze und fahre mir durch die Haare. »Ich kann euch da nicht reinhacken. Dazu müsste ich vor Ort sein.«
»Kein Problem, schick uns einfach eine Bedienungsanleitung.«
»Übers Internet? Verdammt unsicher.«
Es wird kurz still in der Leitung. Dann Gemurmel im Hintergrund. Sind da noch mehr Leute? »Schreib die Anweisungen auf einen Zettel. Wir holen ihn ab.«
»Wie wollt ihr das denn anstellen?« Noch während ich den Satz ausspreche, wird mir die Antwort darauf bewusst. Natürlich, wer sonst kann sich teleportieren? »Gut, ich mach's. Grüßt Wanda von mir. Und Clint und Sam. Und den Ameisenkerl.«
»16 Uhr. Leg den Zettel auf deinen Schreibtisch. Schaffst du es bis dahin?«
»Seh ich aus wie ein Amateur? Um vier geht klar.«
»Danke, Judy.«
Noch hat sie nicht aufgelegt. Ich hole tief Luft. »Auf Wiedersehen, Nat. Ich werd dich ehrlich vermissen.«
Ich kann sie durch den Telefonhörer lächeln sehen. »Wir sehen uns wieder, ganz bestimmt.«
Krk. Langsam lasse ich das Handy sinken. Dann folgt mein Kopf auf die Tischplatte. Worauf lasse ich mich da nur ein? Ich helfe nur den weltweit meistgesuchten Schwerverbrechern in ein Hochsicherheitsgefängnis einzubrechen, da ist doch nichts dabei, rede ich mir ein. Dann denke ich, Das bin ich ihnen schuldig, nach allem, was passiert ist.
Kurz vor vier Uhr verlasse ich mein Zimmer. Da kommt es mir sehr gelegen, dass Dad gerade unterwegs zur New Avengers Facility ist. Ich will nämlich um keinen Preis noch im Raum sein, wenn der Zettel abgeholt wird. Upstate erwartet uns Rhodes. Er wurde aus dem Krankenhaus entlassen, und heute soll er die neuen Prothesen ausprobieren, die Dad ihm gebastelt hat. Prototypen eines Exoskeletts. Er ist zuversichtlich, dass sie Rhodey helfen werden, wieder normal zu gehen.
Ich betrete mittlerweile den Gemeinschaftsraum. Es ist still. Nur Vision sitzt auf einem Sofa und dreht gedankenverloren eine Schachfigur in der Hand.
»Ich weiß noch, wie wir alle Jenga gespielt haben, und Clint es sich mit Natasha verscherzt hat«, sage ich.
Vision verzieht den Mund zu etwas, das man als Lächeln deuten kann. »Die Spielregeln verbieten keine Präzisionspfeile. Nicht explizit.«
»Oder Monopoly«, fahre ich fort und streiche dabei mit den Fingern über die Spielesammlung im Schrank neben dem Fernsehbildschirm. »Steve war kein sehr guter Kapitalist.«
»Judy, du hast Wanda gesehen. Wie ging es ihr?«
Ich kaue auf der Innenseite meiner Wange. »Sie war... sie...« Mir fällt keine gute Lüge ein, also sage ich die Wahrheit. »In Freiheit würde es ihr definitiv besser gehen. Ich glaube nicht, dass ihr in den Fesseln viel Bewegungsfreiraum bleibt.«
Vision stellt den Turm zurück auf das Schachbrett. »Ich würde sie ungern nie wiedersehen.«
Doppelte Verneinung? Was ist denn mit ihm los? »Du magst sie sehr, oder?«
»Wir sind verbunden. Durch das hier.« Er tippt sich an die Stirn. »Vermutlich wird der Stein uns bald wieder zusammenführen.«
Er weiß nichts von dem, was ich getan habe, aber seine Aussagen bestärken mich in dem Gefühl, dass es richtig war. »Das hoffe ich für euch.« Ich sehe zur Küche. »Hey, hast du jemals Pfannkuchen gemacht?«
Wenig später stoße ich die Tür zum Trainingsraum auf, mit den Füßen, denn in meinen Händen trage ich einen Teller, auf dem sich mindestens ein Dutzend Pfannkuchen stapeln. Dad hilft gerade Rhodey beim Aufstehen.
»Ein kleines Genesungsessen, genau, was du jetzt brauchst«, sagt Dad, als er mich sieht.
Es klopft am Fenster. Ein Mann in einer FedEx Uniform sieht auf ein kleines Paket. »Sind Sie Tony... Stank?«
»Ja, das ist Tony Stank«, sagt Rhodey und deutet auf Dad, »wie er leibt und lebt. Und vielen Dank auch! Das bleibt so, das wirst du nicht mehr los.« Er hangelt sich an der Haltestange entlang. »Ein Tisch für Mr. Stank! Direkt an den Toiletten.«
»Eine Lieferung Pfannkuchen für Tony Stank«, sage ich lachend.
Dad verdreht die Augen. »Ich – werd einfach mal das Paket annehmen, wenn ihr mich entschuldigt.«
»Kein Problem, Mr. Stank«, sagt Rhodey, »wir warten hier auf Sie.« Er lässt sich auf einen Stuhl fallen.
Dad verlässt den Raum und ich stelle den Teller auf dem Tisch ab, bevor ich mich gegenüber von Rhodey auf den Stuhl setze.
»Und? Wie läuft es sich?«
»Ich fühl mich wie ein Cyborg«, sagt er.
»Stell dir vor, du hättest so echte Roboterbeine, wie so'n Transformer.«
»Ich bin froh, dass ich die hier noch habe.« Er klopft sich auf die Oberschenkel. »Auch, wenn sie in ihrer Funktion eingebüßt habe.«
»Naja, ich hab jetzt zwar kein Wunderheilmittel, aber Pfannkuchen helfen fast immer. Also greif zu.«
Spät am Abend kommen wir wieder Zuhause an. Von Tag zu Tag fühle ich mich einsamer im Tower. Dieser große und leere Kasten wird von Tag zu Tag kälter.
Vorsichtig öffne ich die Tür zu meinem Zimmer. Mein Blick fällt zuerst auf meinen Schreibtisch. Das Blatt mit den Instruktionen ist verschwunden. Dafür liegt etwas anderes an seiner Stelle. Ein Zettel, halb zusammengefaltet. Als ich ihn hochhebe, fällt etwas heraus. Ein Snickers-Riegel. Auf dem Zettel stehen nur fünf Worte: Fakt des Tages: meine Lieblingssnack.
Ich drehe meinen Kopf zur Seite und schließe für einen Moment die Augen. Wieso? Wieso hat er das getan? Wieso kann er nicht einfach–
Ich knülle den Zettel zusammen und werfe ihn in den Mülleimer. Dann lasse ich mich auf meinen Schreibtischstuhl sinken. Den Kopf in eine Hand gestützt beäuge ich den Schokoriegel. Meine Zimmertür öffnet und schließt sich wieder. Ich drehe mich nicht einmal um.
»Wie es aussieht sind die Ehren-Gefangenen des Raft Prison ausgebrochen«, sagt Dad.
»Hm.«
»Das letzte, was die Soldaten gesehen haben, bevor sich alle internen Systeme ausschalteten, waren zwei bewaffnete Männer.«
»Klingt nach Steve, wenn du mich fragst.«
»Und nach jemandem mit einem Händchen für alles Technische.« Jetzt sehe ich doch auf. Natürlich hat er mich im Verdacht. Und dann lässt er die Bombe platzen. »Ich ziehe den Anzug ein. Du wirst ihn in nächster Zeit sowieso nicht brauchen.«
»Aber–«, protestiere ich.
»Konzentrier dich lieber auf dein letztes Schuljahr.«
Das ist doch unfair! Er kann nicht einmal beweisen, dass ich da meine Hände im Spiel hatte, doch wenn ich jetzt anfange, zu diskutieren, mache ich mich erst recht verdächtig. »Ziehst du Spider-Mans Anzug auch ein?«, frage ich bissig.
»Spider-Man ist – ich geb ihm eine Chance, sich als maskierter Held zu beweisen. Einer, der en kleinen Leuten hilft. Dann werde ich weitersehen.«
»Wer ist er? Du weißt, ich finde das innerhalb weniger Stunden heraus.«
»Gib dem Kerl ein wenig Privatsphäre. Und bevor du fragst, Cassandras Ausrüstung steht bereits in einem schicken Kasten in der New Avengers Facility.«
»Du willst mir also mein Spielzeug wegnehmen.«
»Ich will verhindern, dass du weiter in solche Sachen verstrickt wirst. Bleib unten. Mach deinen Abschluss. Dann sehen wir weiter.«
Ich kneife die Augen zusammen.
Dad setzt sich auf die Bettkante und stützt die Ellenbogen auf die Oberschenkel. »Steve ist verschwunden. Er hat gut die Hälfte der Avengers mitgenommen, also sind wir gerade ein wenig unterbesetzt. Und die Sokovia Accords sehen vor, dass wir sowieso nichts tun, was die UN uns nicht ausdrücklich erlaubt. Gerade du nicht, Judy.«
»Na schön, in Ordnung«, sage ich widerwillig.
»Gut. Dann hätten wir das abgehakt. Zweiter Punkt: Ich werde den Tower verkaufen, das heißt, das ganze Zeug hier muss raus und zum Avengers Compound.«
»Wir ziehen um?«
»Upstate ist es sehr schön. Ruhig. Idyllisch. Rhodey bleibt vorerst auch erstmal dort.«
»Und wer fährt mich den ganzen Weg bis zur Schule?«
»Happy ist ab jetzt dein Ansprechpartner, wenn es darum geht. Außer natürlich, du machst deinen Führerschein. Dann kannst du ab November auch alleine fahren.«
Das ist momentan echt meine geringste Sorge. Womit verbringe ich denn meine Freizeit, wenn nicht damit, an meinem Anzug herumzuschrauben?
»Ich habe noch eine Frage. Was ist in dem Bunker passiert?« Seit wir Sibirien per Hubschrauber verlassen haben, hat Dad kein Wort darüber verloren. »Du solltest als Freund kommen, hast du ihnen das nicht gesagt? Wieso habt ihr euch schon wieder geprügelt? Du wusstest doch, dass dieser Zemo-Typ Barnes manipuliert hat.«
»Es ist wohl einfach... nicht so gelaufen, wie es sollte. Das spielt jetzt keine Rolle mehr.« Er steht auf und macht sich daran, mein Zimmer wieder zu verlassen. »Übrigens, ich weiß, dass du es warst, Ross nicht. Sei bloß froh, dass ich dir keinen Hausarrest verpasse.«
Die Tür fällt zu und ich lasse meinen Kopf zurück auf die Tischplatte sinken. Mit einem Finger stoße ich den Snickers an, der immer noch vor mir liegt. Nur dumm, dass ich allergisch auf Erdnüsse reagiere.
---
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro