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240 TAGE NACH SOKOVIA
Wir sind wohl die merkwürdigste Weihnachtsgesellschaft, die man sich nur vorstellen kann. Dad hat sie allesamt in den Avengers Tower eingeladen, doch ursprünglich war es meine Idee gewesen, das Team auf diese Art zu versammeln. Cass feiert selbstverständlich mit ihrer Familie, und Matt ist mit seiner Mutter zu seinen Großeltern gefahren. Das bedeutet, mir bleibt nur dieser bunte Haufen hier.
Natasha und Pepper haben darauf bestanden, sich um das Festtagsessen zu kümmern. Dad hat heute Morgen schon Omelette zum Frühstück gemacht, und Wanda präsentierte uns stolz einen Kuchen, den sie ›ganz ohne Magie‹ gebacken hat.
Zu meiner Verteidigung, ich wollte in der Küche helfen, aber nachdem eine Glasschüssel zu Bruch gegangen ist, wurde ich direkt wieder hochkant rausgeworfen. Daher stehe ich jetzt am Eingang zum Wohnzimmer. The Pigeon und Rhodey tauschen bei einer Flasche Bier Sidekick-Geschichten aus. Steve starrt mit verschränkten Armen aus dem Fenster, und Wanda und Vision sind in ein Gespräch vertieft.
Es gibt einige, die heute nicht mit uns feiern können. Zunächst wäre da Clint, Gott hab ihn selig. Nein, er ist nicht tot, sondern auf seiner beschaulichen Farm mit Laura und seinen drei Kindern. Der kleine Nathaniel Pietro Barton müsste mittlerweile ein halbes Jahr alt sein. Der echte Pietro kann ebenfalls nicht hier sein. Noch Wochen nach seinem Tod war Wanda echt fertig, und der Kummer hat ihre Gesichtszüge verhärmt. Sie ist kaum ein Jahr älter als ich, und doch ein vollwertiges Mitglied der Avengers und in Steves Spezialkommando.
Thor hat es ins All verschlagen. Er ist besessen von der Idee, diese Infinity-Stein-Dinger zu finden. Von Banner und dem verschwundenen Quinjet haben wir keinen Mucks mehr gehört. Er ist wie vom Erdboden verschluckt. Oder vielmehr vom Himmel.
Als ich die Truppe so betrachte, legt mir Dad von hinten einen Arm auf die Schulter. Er zerwirrt mir die Haare und wirft beinahe meinen Rentiergeweih-Haarreifen herunter. Empört richte ich ihn wieder gerade.
»Zerstör mir bloß nicht meine Deko«, warne ich ihn.
»Schade nur, dass es nicht blinkt.«
Im Gegenzug trägt er einen weihnachtlichen Pullover in Rot. Statt einem Rentiermuster befinden sich darauf allerdings kleine Ausgaben der Iron Man Rüstung.
»Hey Tony«, ruft Rhodey zu uns rüber. »Ich erzähl Sam gerade von der Episode mit Justin Hammer, erinnerst du dich an den Kerl? Was ist mit ihm passiert?«
Dad drückt mir noch kurz die Schultern, schlendert dann auf die Sofagruppe zu und genehmigt sich eine Flasche Bier. »Der hat eine gemütliche Zeit im Seagate Prison.«
Ich sehe, dass Wanda jetzt alleine vor dem Kamin sitzt, und gehe zu ihr. »Hey«, sage ich.
Sie verzieht den Mund zu einem Lächeln. Heute bestimmt wieder der Kummer ihre Miene, dabei habe ich sie in letzter Zeit immer häufiger fröhlich gesehen. Doch natürlich bringt die ganze Weihnachtsstimmung die Erinnerungen wieder hoch.
»Weinachten haben wir nie groß gefeiert«, sagt Wanda nach einer kleinen Weile. Der künstliche Kamin wirft ein warmes Licht auf uns beide. »Der Baum war jedes Mal mickrig. Wir schmückten ihn mit Strohsternen und Wollfäden. Danach besuchten wir den Gottesdienst. Manchmal gab es Fisch oder eine knochige Ganz. Als wir zehn waren, hat Pietro einen halben Truthahn aufgetrieben.« Der Flammenschein glitzert in ihren blauen Augen. Wanda erinnert sich an ihre Familie, die sie viel zu früh aufgeben musste.
»Ich denke auch an sie«, sage ich. »Mein Mum. Mein Großtante Martha.«
»Sie fehlen dir sicher sehr.«
»Wir können es uns nicht leisten, die ganze Zeit um sie zu trauern. Das bringt weder uns noch ihnen etwas.«
Wanda bedenkt mich mit einem abwesenden Blick.
»Aber für heute, denke ich, ist es okay.«
366 TAGE NACH SOKOVIA
Ein ganzes Jahr lang habe ich mich vor diesem Tag gefürchtet. Erst im Frühjahr sind die Nachrichtenfluten abgeflaut, und jetzt müssen sie den alten Brei selbstverständlich nochmal neu aufkochen.
In der Schule gibt es eine Gedenkveranstaltung anlässlich des Jahrestags der Sokovia-Katastrophe. Ich habe es in Erwägung gezogen, sie einfach zu schwänzen, aber da ich mich dieses Schuljahr nicht wirklich bei Mr. Morita beliebt gemacht habe, und auch, weil ich von Cass und Matt dazu genötigt wurde, quetsche ich mich nun wider Willen mit den anderen Schülern meines Jahrgangs ins Auditorium.
Als die Veranstaltung beginnt sitze ich zwischen Bree, mit seit Neustem rosa getönten Haaren, und Matt, der seine Finger mit meinen verschränkt. Eine süße, unauffällige Geste, die vermutlich eher dazu dient, mich vor einer Flucht abzuhalten.
Es wird ein kurzer Dokumentarfilm gezeigt. Ich werde gezwungen, diese grauenvollen Stunden ein weiteres Mal zu erleben: Die panischen Menschenmassen, die Roboter, die aus dem Boden kriechen, und schließlich, wie die Stadt abhebt. Hier enden die Aufnahmen der Fernsehkameras. Was nun folgt ist eine schlechte Montage von Handyfilmchen mangelhafter Qualität. In einem dieser Clips ist eine Gruppe kämpfender Gestalten zu sehen. Kurz verstärkt sich Matts Griff um meine Hand. Seine Sorge ist unbegründet. Nur, wenn man weiß, dass diese zehn Pixel zu drei Jugendlichen aus unserer Schule gehören, könnte man sie eventuell unter großer Mühe erkennen. Das tut aber niemand.
Einige Schüler um mich herum gähnen oder schauen gelangweilt durch die Gegend. Das macht mich wütend. Für sie mag dieses Video vielleicht öde sein, mag der ganze Trubel, der darum gemacht wird, ihnen unverständlich vorkommen, doch sie wissen nicht, wie es wirklich war. Sie haben keine Ahnung von den Zuständen, die in der zum Tode verurteilten Stadt geherrscht haben. Sie haben weder die Hitze gespürt, die aus dem Boden kam, noch die eisige Kälte, die über den Wolken geherrscht hat. Sie muss nicht gegen Ultrons Zinnsoldaten kämpfen, um Sokovias Bewohner zu beschützen, denen das Grauen und die Hilflosigkeit ins Gesicht geschrieben stand. Sie haben keinen der ihren sterben sehen, und haben nicht die Angst gespürt, die in ihre Glieder gekrochen ist und sich über ihren Körpern ausgebreitet hat, so wie der Staub, der die Stadt verhüllte. Der Staub, der die Leichen bedeckte, und das Chaos, und die Hoffnung.
Zwei Leute steigen auf das Podest hinauf, eine kleine Frau und ein bärbeißiger, breitschultriger Mann. Überlebende, die die Schulleitung von was-weiß-ich-woher aufgegabelt hat. Die Frau beginnt zu sprechen, in einer dünnen Fistelstimme begleitet für einen osteuropäischen Akzent, die es schwer machen, auch nur ein Wort zu verstehen. Der Mann redet lauter, doch bei dem, was er zu sagen hat, wünsche ich mir die Mäuschenstimme zurück.
»Die Avengers nehmen Schaden wie diesen leichtfertig in Kauf, um sich mit Ruhm zu bekleckern. Wenn sie nur gewartet hätten, sich vielleicht dazu bequemt hätten, das Militär mit einzuschalten, wäre es nie zu diesen hohen Opferzahlen gekommen.«
»Und wer hätte den Kometen aufgehalten? Gandhi vielleicht?« Ich habe den Mund geöffnet, ohne nachzudenken, und nun muss ich den Preis dafür zahlen.
Der Kopf des Mannes schwillt puterrot an. Einige Schüler kichern, andere tuscheln nervös oder drehen sich zu mir um. Aus der Lehrerecke ernte ich Todesblicke. Das war's dann wohl, denke ich. Ich stehe auf, trotz Matts eisernem Griff und warnendem Blick, und verlasse das Auditorium. Damit habe ich so gut wie mein Schulverweis unterschrieben. Wenn das so ist, kann ich auch gleich nach Hause gehen. Ich hohle allerhand Bücher und Schulsachen aus meinem Spind und stopfe so viel es geht achtlos in meinen Rucksack. Den Rest klemme ich mir unter den Arm und will würdevoll aus dem Schulgebäude flüchten, da hält mich jemand auf.
»He, du hast da was verloren.«
Ich drehe mich um. Da steht ein Junge, einer der Freshmen vermute ich, der mir noch nie besonders aufgefallen ist. Er hebt meinen Terminplaner auf, doch als er mich erkennt, wachsen seine braunen Augen auf Untertassengröße an.
»Danke«, sage ich knapp und nehme den Planer entgegen.
Eine andere Gruppe Jungs stürmt an uns vorbei, wobei der vordere von ihnen dem verlorenen Welpen vor mir ein Klaps auf den Hinterkopf versetzt. »Hey Parker, flirtest du mit dem Stark Girl? Vielleicht nehm ich dich mal mit auf'n Doppeldate mit Black Widow.«
Es ist Sebastians jüngerer Bruder. »Sie würde dich mit einem Biss verspeisen«, sage ich und wische ihn damit das Grinsen vom Gesicht.
Der Junge namens Parker verkrümelt sich schnell und auch ich mache mich nun endgültig auf den Weg nach draußen.
Diesmal werde ich nicht von Dad erwartet. Dabei muss die Schulleitung ihn bereits informiert haben. Vielleicht ist er zu sehr beschäftigt, seine Rede für heute Abend vorzubereiten. Er und Pepper sind zu einem Event anlässlich des Sokovia-Gedenktages eingeladen. Ich sitze also in meinem Zimmer und warte gewissermaßen auf die Standpauke, von der ich weiß, dass sie kommen wird.
Die nächsten paar Stunden liege ich in meiner Hängematte, ignoriere Cass' Nachrichten, lasse Test ein paar Updates durchführen, drücke Matts Anrufe weg, werfe meine Klamotten vom Bett aufs Sofa, schalte den Fernseher an und wieder aus, und starre aus dem Fenster.
Am späten Nachmittag wird mir die Situation zu blöd. Will Dad mich auf diesem Weg bestrafen? Oder ist er gar nicht da? Von Friday erfahre ich, dass er sich im Wohnzimmer aufhält.
Ich schleiche mich auf Socken nach unten und bleibe im Türrahmen zum Wohnzimmer stehen. Sofort merke ich, dass etwas nicht stimmt. Dunkel kann ich Dads Silhouette in einem der Sessel ausmachen. Das Panoramafenster ist nach Osten ausgerichtet, genauso wie mein Zimmer, daher gibt es um diese Uhrzeit kaum noch natürliches Licht in diesem Raum. Ich entscheide, das Licht ausgeschaltet zu lassen. Vorsichtig trete ich näher. Allein die Tatsache, dass die Karaffe auf dem Beistelltisch Wasser enthält, macht mich nur noch misstrauischer.
»Dad?«, frage ich vorsichtig.
Seine Schultern bewegen sich ein Stück, als hätte ich ihn gerade aus einer Starre aufgeweckt. Trotzdem hält er seinen Blick auf die Skyline gerichtet.
»Musst du nicht auf irgendeiner Veranstaltung sein?«
Er räuspert sich, bevor er spricht. »Pepper ist alleine hingefahren.«
»Oh.« Mehr als das kann ich nicht sagen. Doch wenn er sich vor dem Sokovia-Gedenktag drückt, kann er mir nicht böse sein, wenn auch ich die Veranstaltung in der Schule geschwänzt habe.
»Pepper und ich hatten unsere Meinungsverschiedenheiten«, fährt Dad mühsam fort. Er reibt sich mit einer Hand das Kinn. »Sie wird wohl... wir machen eine Pause, um die Dinge zu klären. Vorerst.«
Ich setze mich auf die Couch. »Ihr habt euch getrennt?« Meine Fassungslosigkeit kann ich kaum ausdrücken. Dad und Pepper, Pepper und Dad, die beiden erschienen mir immer wie das undurchdringlichste Paar der Welt. Selbst nach der Sache mit Aldrich Killian hat sie zu ihm gehalten, aber Ultron... Ultron war ihr dann vermutlich zu viel.
»Nein, nein, es ist eine Pause, sonst nichts. Und danach...« Er verstummt, um sich nun mit der Hand übers Gesicht zu fahren. Jetzt fällt mir seine Müdigkeit auf, noch stärker als sonst. Obwohl es weniger die Müdigkeit ist als Resignation. Sicher hat er gerade heute noch mehr unerfreuliche Nachrichten erhalten.
»Ich hab die Sache mit Sokovia satt. Es ist einfach nur unfair«, sprudelt es aus mir heraus. Meine Augen brennen. Das ganze Jahr über wurde ich damit konfrontiert, und jetzt wird es mir zu viel. Wie kann Dad unter dieser Last der Verantwortung noch nicht zusammengebrochen sein?
»Hey, Küken, es ist auf keinen Fall deine Schuld.«
»Nein! Und wenn es das wenigstens wäre, könnten sie ihren Frust gerechterweise an mir auslassen! Aber so...« Meine Stimme geht in einem erstickten Schluchzer unter. Ich schäme mich für diese Tränen. Sie bringen niemandem etwas. Nicht mir, nicht Dad, nicht den Avengers, nicht Pietro oder den Sokovianern. Und doch hocke ich jetzt hier und heule wie ein kleines Kind, während Dad mich in die Arme nimmt. Ich sollte ihn wegen Pepper trösten, nicht er mich. Er braucht Pepper. Aber ich brauche auch ihn. Es kann so nicht weitergehen. Die Welt muss den Avengers wieder vertrauen können.
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