0.1 | previously
135 TAGE NACH SOKOVIA
Ein Sandkorn kann eine Waage aus dem Gleichgewicht bringen, ein Kieselstein einen ganzen Bachlauf durcheinanderbringen. Ein winziger Stoß genügt, um eine Schneewehe ins Rollen zu bringen, und schon wird sie zur Lawine, die immer schneller wird, immer größer rollt, und alles auf ihrem Weg niederwalzt und vernichtet.
Die Avengers waren der Kieselstein.
Und Sokovia der Tritt mit dem Stiefel.
Die Nachrichtensender bringen Spezialreportagen über das Geschehen in dem osteuropäischen Stadtstaat, der von der Landkarte wegradiert wurde. Ich habe die Bilder gesehen. Gletscherwasser füllt allmählich das Loch, das die Stadt zurückgelassen hat. Riesige Geröllbrocken, größer als Einfamilienhäuser, haben Krater in die umgebende Bergkette gesprengt. Und trotzdem thront Struckers alte Festung am Rande dieser Zerstörung, als wäre nichts geschehen. Als die ersten Opferzahlen geschätzt wurden, waren sie, wie so oft, viel zu hoch angelegt, doch selbst die Hälfte dieser Ziffer wäre kolossal.
Zuerst stand die Welt unter Schock. Dann rollte die Lawine los. Stimmen, die die Schuld den Avengers zuschoben, wurden immer lauter. So laut, dass sie nicht davor zurückscheuten, öffentlich über die Schrecken zu reden, die die maskierten Rächer überall auf der Welt verbreiteten. Natürlich kam dieses Gerede auch auf der Midtown High an. Aber mehr war es auch nicht. Nur Gerede. Getuschel auf den Schulfluren, Flüstern auf den Mädchentoiletten und bändesprechende Blicke während des Unterrichts. Ich machte mir nichts draus. Ich hatte Cass und die Leute vom Academic Decathlon Team, die zumindest den Anstand zu haben schienen, in meiner Gegenwart Sokovia mit keinem Sterbenswörtchen zu erwähnen.
Doch die Lawine rollte weiter. Im Laufe des Sommers kam heraus, dass kein anderer als Tony Stark für den Bau von Ultron verantwortlich war. Und so verliefen die ersten Wochen nach den Ferien eher mittelmäßig für mich.
»Weißt du, es könnte schlimmer sein«, meint Cass zu mir, während sie mit spitzen Fingern einen Kaugummi von meiner Spindtür entfernt.
»Du hast gut reden«, sage ich mit verbitterter Miene. Sie und Matt waren bei den Kämpfen in Sokovia ebenfalls dabei, doch absolut niemand würde auf die Idee kommen, die beiden damit in Verbindung zu bringen. Ich hingegen bin gefundenes Fressen für diese Idioten. Natürlich sind es nicht alle von ihnen. Mindestens die Hälfte behandelt mich seit Schulbeginn wieder normal, andere strafen mich mit stummen, verächtlichen Blicken, und wiederum andere... nunja.
Ein Klümpchen Kartoffelpüree landet auf meinem Tablett, direkt auf dem bis vor wenigen Sekunden noch genießbaren Törtchen. »Da hatte wohl jemand keinen Hunger«, sage ich trocken, und gehe weiter. Gelassen steige ich über einen ausgestreckten Fuß hinweg, der daraufhin wieder enttäuscht eingezogen wird. Wenigstens konnte ich meinen alten Sitzplatz an dem Tisch in der Mitte behalten. Sobald jemand auch nur versucht hätte, mich an den Losertisch abzuschieben – sagen wir mal so, ich trage nicht umsonst einen Teil meiner Iron Maiden Rüstung als modisches Armband an meinem Handgelenk.
Ich komme an einem Tisch vorbei, der von Kichern erfüllt ist. Ein Blick über die Schulter eines rothaarigen Mädchens verrät mir die Ursache ihrer Erheiterung: ein ferngesteuerter Roboter, der auf eine dieser Schlag-Mich-Puppen eindrischt. Der dazugehörige Junge lacht am lautesten. Als er meinen Blick bemerkt, grinst er noch breiter.
»Nur eine kleine Nachstellung des Kampfes in Sokovia«, sagt er. Er fährt den Roboter zurück. Jemand hat der Schlag-Mich-Puppe ein Foto von Tony Stark aufgeklebt. »Ich nenne die Kleine Justice«, gibt der Junge mit einem selbstgefälligen Grinsen von sich. Ich glaube er heißt Jason, oder Jackson, oder so ähnlich. Abermals steuert er den Roboter auf die Puppe zu. »So wie es sein sollte.«
Ich setze mein Tablett auf dem Tisch ab und knalle ihm eine. Richtig schön mit Schmackes, mitten ins Gesicht. Das Klatschen klingt wie das süßeste Geräusch in meinen Ohren, und der überraschte Gesichtsausdruck meines Gegenübers setzt dem Ganzen die Kirsche auf.
Keine zwei Minuten später finde ich mich in Mr. Moritas Büro wieder, und kurz darauf bei Happy auf der Rückbank. Ich presse die Lippen aufeinander und sehe aus den getönten Scheiben des Autos nach draußen. Happy spricht mich nicht auf den Vorfall an, aber er murmelt etwas von wegen »rebellisches Verhalten« und »bin doch kein Babysitter«.
Zuhause erwartet mich Dad. Mit verschränkten Armen blockiert er den Weg zur Treppe. »Du hast dich geprügelt?«
»Es war eine Ohrfeige. Und der Typ hat's verdient«, sage ich.
»Das hätte ich nicht von dir erwartet.«
Tja, ich ebenso wenig. Ich teile eher Worte aus als Schläge, oder jedenfalls dachte ich das immer von mir. Aber Jason-Jackson hat es mehr als verdient. Worte hätten bei ihm nicht gereicht. Am liebsten hätte ich auch noch seinen blöden Roboter in Einzelteile zerlegt.
»Sie haben einer Schlag-Mich-Puppe dein Foto aufgeklebt«, sage ich. »Sie halten immer noch die Avengers für verantwortlich.«
»Viele tun das.«
»Aber das ist nicht fair! Wir haben unsere Leben aufs Spiel gesetzt, um die Leute in Sicherheit zu bringen und den Kometen unschädlich zu machen.«
Dad reibt sich mit einer Hand über die Stirn. Er sieht müde aus. Das Ganze stresst ihn schon seit einem halben Jahr. »Die Opferzahlen sprechen für sich. Erst New York, dann D.C., jetzt Sokovia... Wir müssten schon den Welthunger besiegen, damit sie uns wieder lieben.« Er gibt den Weg frei und deutet nach oben. Widerstandslos gehe ich in mein Zimmer. »Und das nächste Mal gibst du ihm noch eine Schlag-Mich-Puppe von Steve dazu. Der alte Mann scheint nichts aus dieser Lektion gelernt zu haben.«
165 TAGE NACH SOKOVIA
Die Briefe sehe ich heute zum ersten Mal. Eigentlich bin ich nur in die Labore gefahren, um mir eine 9-Volt-Batterie auszuleihen, doch statt Dad treffe ich einen chaotischen Schreibtisch an. Hier liegt das übliche Zeug herum, Werkzeuge, Blaupausen, leere Smoothie-Gläser, Glasscheiben, Mikrochips – und diese Umschläge. Ich nehme den obersten in die Hand. Das Papier wurde zerknittert, ich streiche es vor dem Lesen glatt.
»Ich weiß nicht, ob Sie das überhaupt lesen, oder ob Sie sich zu fein dafür sind. Mein Sohn hat die Avengers immer bewundert, doch jetzt ist er tot, genauso wie seine Mutter und seine zwei Schwestern. Sie wohnten in Sokovia.«
Ich greife nach einem weiteren Zettel.
»An diesem Tag bin ich in die Berge zu Verwandten gefahren. Ich hatte nichts zu befürchten. Als ich zurückkehrte, existierte meine Heimat nicht mehr.«
Betroffen starre ich den Berg an Briefen an. Das ist also die Art von Fanpost, die Tony Stark erhält. Lauten sie alle so? Es muss doch noch etwas anderes geben, es kann einfach nicht so sein... Doch in jedem Umschlag steht das gleiche.
»Mein Mann war nur auf Geschäftsreise...«
»...der jüngste Neffe erst vier Jahre alt...«
»...nur ein Schulausflug.«
»...als Entwicklungshelfer in der Stadt...«
»...hatten vor, einen Tag später als geplant abzureisen...«
»...meine kleine Tochter...«
So viele Briefe, so viele Stimmen, manche von ihnen selbst Überlebende der Katastrophe, sie alle haben jemanden an die fliegende Stadt verloren. Sie trauern um Freunde, Kinder, Ehepartner oder Geschwister, doch eins haben ihre Briefe alle gemeinsam: sie geben ihnen die Schuld für ihre Verluste.
Ein Tropfen landet auf dem Foto eines Jungen, der kaum älter als sieben sein konnte. Verärgert wische ich mir über die Augen. Wieso weine ich denn jetzt? Ich wusste von den Opferzahlen. Ich habe die leblosen Körper zwischen den Ruinen liegen sehen. Und nicht nur in Sokovia. New York hat ebenso viele zivile Leben gefordert. Darunter auch Matts Vater. Ich sollte mir keine Vorwürfe machen. Ich habe an dem Tag getan, was ich konnte. Doch war das genug?
Ich zerknülle den Brief in meiner Hand. So viele Tote. Die Stark Help Foundation hat alle Hände voll zu tun. Aber kein Hilfspaket, keine Rettungsfonds, keine Wiederaufbauprojekte können den Menschen das zurückgeben, was sie verloren haben.
Und das ist ebenso wenig fair, wie den Avengers die Schuld an ihrer Misere zu geben.
201 TAGE NACH SOKOVIA
Ich wache auf, weil ein kalter Fuß meine wunderbar aufgewärmten Waden berührt. Matt hat es schon wieder geschafft, die Decke zu sich rüberzuziehen, wobei er es aber nie hinbekommt, mit dieser auch seine Füße zu bedecken. Es ist selbstverständlich nicht das erste Mal, dass er bei mir überachtet. Über die Sommerferien habe ich ihn öfters in der New Avengers Facility besucht, bis Dad schließlich dahintergekommen ist, und wir ein langes Küchentischgespräch führen mussten. Beim Einstieg ins neue Schuljahr war Matt wieder dabei. Allerdings sind wir nicht die Art Pärchen, das händchenhaltend durch die Schulflure geht, beim Knutschen sämtliche Spindreihen blockiert oder sich beim Mittagsessen gegenseitig füttert, Davon gibt's nämlich auch ein paar Spezialisten an unserer Schule.
Ich klaue mir meinen Teil der Decke zurück. Sogar im Schlaf legt Matts Gesicht die ernste Miene unter den besorgten Augenbrauen nicht ab. Und er strahlt diese... Kühle aus. Wortwörtlich. Im Sommer war es sehr angenehm, neben einer menschlichen Klimaanlage zu liegen, doch seitdem die Außentemperaturen gesunken sind, diene ich ihm eher als Heizung. Ich nehme an, seine niedrige Körpertemperatur steht ebenfalls im Zusammenhang mit seinen Kräften, die er vom Tesserakt erhalten hat. Während seines Praktikums bei Professor Doktor Steve Rogers, der mit Nat die neuen Avengers-Anwärter ausbildet (darunter auch Wanda und den Herrn der Lüfte, Sam Wilson) hat er noch einiges dazu gelernt. Seine Gefühlsausbrüche sind verschwunden und er wirkt um einiges gelassener als noch vor einem Jahr.
Mein trockener Gaumen verlangt nach Wasser. Also schlage ich die Decke zurück und schwinge mich so leise wie möglich aus dem Bett. Ich werde Tess bitten, die Raumtemperatur um ein paar Grad anzuheben. Auf dem Weg zum Bad muss ich über Brees Kopf hinwegsteigen. Von der Couch her höre ich leise Cass' Schnarchen, und vor dem Fernsehschrank liegt noch Sebastian unbeweglich in seinem Schlafsack. Sie sind gestern nach meiner Geburtstagsparty zu faul gewesen, um nach Hause zu fahren.
Siebzehn. Was bedeutet schon siebzehn?
»Wenigstens bist du jetzt die Dancing-Queen«, hat Cass gesagt und mir als Geschenk ein T-Shirt mit dem gleichlautenden Aufdruck in die Hände gedrückt.
Ich hab auch alle anderen aus dem Academic Decathlon Team eingeladen, und wir hatten eine beschauliche Party, ganz ohne Alkohol (okay, vielleicht gab es ein oder zwei Cocktails; wozu hat man denn auch eine vollausgestattete Bar?).
Im Bad lasse ich mir zuerst ein Glas Wasser einlaufen, trage Tess auf, mehr zu heizen (Friday hat in meinem Zimmer nichts verloren) und lasse einen Suchalgorithmus nach neuen, Sokovia betreffenden Artikeln oder Blogeinträgen ablaufen. Noch nichts für heute. Sollte mich das beruhigen? Auf meinem Computer befindet sich eine Liste mit allen verstorbenen Sokovianern, sowie die Adressen derer Angehörige. Ich habe mich in das System der Stark Help Foundation gehackt und schicken den Leuten persönlich Hilfspakete zu. Anonym. Nicht im Namen von Stark Industries. Das bewirkt nichts und wiegelt die Wut der Leute nur noch mehr auf.
Die Wenigsten zeigen Dankbarkeit für das, was die Avengers getan haben. Damit habe ich mich mittlerweile abgefunden. Weniger klar komme ich allerdings mit Steves Entscheidung, auf weitere Missionen zu gehen, und somit leichtsinnig zivile Opfer in Kauf zu nehmen. Bisher ist noch nichts dergleichen passiert, aber meiner Meinung nach ist das alles nur eine Frage der Zeit.
---
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro