1.1 | just another catastrophe
402 TAGE NACH SOKOVIA
Ich wurde nicht aus der Schule geschmissen. Doch Mr. Morita hat mir klar gemacht, dass ich bereits zweimal gegen die Schulregeln verstoßen habe, und beim dritten Mal würde ich fliegen. Also bemühe ich mich nach all meinen Kräften, die letzten paar Wochen des Schuljahres auch noch durchzustehen. Matt sieht das mit den Schulregeln-Einhalten nicht so eng. Während Cass und ich in Wirtschaftskunde versauern, zieht er mit seinem neuen besten Kumpel Captain America um die Häuser und jagt böse Kerle in die Luft. Ich glaube er hat etwas von Westafrika gesagt.
Cass kann sich nur beschweren, dass sie mal wieder nicht eingeladen wurde. »Ich weiß nicht, was ich falsch mache«, regt sie sich auf, während uns Mr. Cobbwell an der Tafel irgendetwas von Kaufkraftparitäten erzählt. »Ich bin ebenso gut trainiert wie Matt oder diese Wanda, und trotzdem werde ich zu so gut wie keiner Mission mitgenommen.«
»Nur so 'ne Theorie, könnte an deinen Eltern liegen, die rein gar nichts von deinen Kräften wissen«, murmele ich, und höre weder ihr noch dem Lehrer wirklich zu.
»Warum sagen wir ihnen es dann nicht endlich? Ich muss das schon seit zwei Jahren ertragen.«
Ich hebe meinen Kopf vom Tisch. Sie glaubt doch wohl nicht wirklich, dass das irgendetwas ändern würde. »Dein Vater hat 'ne Vorlesung über die Gefahren der Avengers gehalten, und dabei auf machtvolle Gruppen mit zerstörerischen Ideologien in der Vergangenheit angespielt, ich glaub da muss ich nichts weiter hinzufügen, oder?«
»Ja, aber–«
Mr. Cobbwell ruft uns zur Ordnung. »Meine Damen, Aufmerksamkeit nach vorne, wenn ich bitten darf.«
»Ich red mit meinem Dad drüber«, verspreche ich Cass flüsternd, damit sie Ruhe gibt. Auch, wenn ich seine Antwort bereits kenne. Er ist strikt gegen Steves Handhabung der neuen Avengers-Anwärter.
Dad hält heute eine Rede am MIT, wo ich am Nachmittag hinfahren werde. Ich wollte mir das Gelände mal anschauen, ein wenig die Gegend abchecken, und ihn anschließend abholen. Vielleicht gehen wir danach essen.
Nach der Schule (ich mache mich auf direktem Weg zum Flughafen) schicke ich ein paar Nachrichten an Matt. Er bekommt es nie hin, zeitnah zu antworten. Das zählt wirklich nicht zu seinen Stärken. Dabei will ich doch nur wissen, wann er von seiner Mission zurückkehrt. Mrs. Jensen habe ich schon angewiesen, Popcorn zu kaufen.
Als der Stark Industries Privatjet in Boston landet, werde ich von Happy in einem schwarzen Auto, dass exakt so aussieht wie das in New York, bis zum Massachusetts Institute of Technology eskortiert. Obwohl Happy für Stark Industries arbeitet, und damit eigentlich für Pepper, ist er seiner Aufgabe, für mich den Fahrer zu spielen, treu geblieben. Vermutlich denkt er, dass er das Dad schuldig ist.
Peppers Abwesenheit ist deutlich zu spüren. Irgendetwas fehlt im Tower, aber ich kann nicht sagen, was. Es ist einfach bedrückend, auch, weil Dad und ich jetzt alleine wohnen. Alleine in den obersten dreißig Etagen des achtzigstöckigen Hochhauses.
Ich komme gerade noch rechtzeitig zum Ende von Dads Vortrag. Der Saal ist vollbesetzt, deshalb lehne ich mich an die Wand neben der Tür. Auf der Bühne ist eine Szenerie aus grauem Kunststoff aufgebaut. Das habe ich Zuhause bereits tausend Mal gesehen. Dad nennt es Sensitives emotionales Neuro-Framing, und hat es vermutlich gerade den Studenten vorgeführt.
In einem schwarzen Anzug steht er vor den Studenten und Dozenten des MIT und hält seine Rede. »Und wenn es auch verschwiegen wird, die Herausforderungen für Sie sind die Größten, vor der die Menschheit je stand. Außerdem sind die meisten hier pleite.«
Überall Lachen aus der Menge.
»Oh Verzeihung, Sie waren es. Denn ab sofort ist jeder Student gleichberechtigter Nutznießer der neu eingeführten September Foundation Stiftung. Im Klartext: all ihre Projekte sind genehmigt und finanziert.«
Jubel bricht aus, und alle spenden tosenden Beifall. Auch ich klatsche mit ihnen. Ein sehr kostspieliges Projekt, dass er vor wenigen Monaten in Angriff genommen hat. Damals hat er es noch mit Pepper geplant.
»Keine Bedingungen, keine Steuern, Sie sollen nur die Zukunft gestalten!«, ruft Dad über den Applaus hinweg. »Und zwar sofort.«
Die Menge verstummt, als er erneut zum Sprechen ansetzt. Sein Blick ist auf eine bestimmte Stelle vor ihm geheftet. Ich vermute eine Art holografischen Teleprompter. Was er dort sieht, scheint ihm nicht zu gefallen. Jetzt bemerkt er mich. Seine Mundwinkel zucken, als er seine Augen wieder abwendet und dem Publikum ein kurzes Lächeln schenkt. Es sieht unecht aus.
»Lassen Sie's krachen.«
Als er die Bühne unter erneutem Applaus verlässt, weiß ich, was ihn so irritiert haben muss: Pepper sollte die Vorsitzende der Stiftung sein. Sie hat abgesagt. Ganz und gar nicht gut. Ich verlasse den Saal, um mich auf die Suche nach dem Eingang zum Backstage-Bereich zu machen. Ich kenne Dad, und er wird gerade nicht gut drauf sein. Besser wär's, wenn ich ihn finde und ablenke, damit er nicht erneut in ein tiefes Loch fällt, das ihn tagelang unansprechbar macht. Zu allem Unglück kommen jetzt alle Zuschauer aus dem Auditorium und strömen in die Richtung, in die ich eigentlich gerade gehen wollte. Bevor ich vor der Menschenmasse zerquetscht werde, drücke ich mich in einen Türrahmen. Das läuft ja hervorragend.
Erst, als der Menschenstrom abgeflaut ist, wage ich mich wieder hervor. Ohne Hilfe werde ich den Backstage-Bereich nie finden. Ich sollte jemanden fragen. Vorsichtig tippe ich einer Person im Vorbeigehen auf die Schulter.
»Hey, Verzeihung, wissen Sie zufälligerweise, wie ich – Alyssa?«
Die Person dreht sich zu mir. Die Ohrringe, die mit kleinen Federanhängern geschmückt sind, schwingen herum. »Judy«, stellt sie fest. »Lange nicht gesehen.«
»Die Welt ist ein Dorf«, bemerke ich konsterniert. Es ist bestimmt schon zwei Jahre her, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben. Das war im Avengers Tower, als Doctor Banner ihre und Zachs Kräfte neutralisiert hat. Sie hat sich nicht sonderlich verändert. Nur trägt sie diesmal ihre schwarzen Haare zu zwei Zöpfen geflochten. »Was machst du hier?«
»Oh, ich hab letztes Jahr meinen Abschluss gemacht, und gerade arbeite ich für die Boston Globe. Genauer gesagt für Stephenie Brookner, du kennst sie vielleicht.«
»Journalismus also?« Ich erinnere mich, dass sie daran interessiert war. Aber seit Sokovia meide ich Zeitungen, und wenn es geht auch Nachrichtensender.
»Ja. Mrs. Brookner hat mich für heute abbestellt, etwas über Starks Rede am MIT zu schreiben«, sagt Alyssa, auf ein Notizbuch in ihrer Hand deutend. »Reine Zeitverschwendung. Sie wird eh kein einziges Wort von mir drucken.«
»Das wird bestimmt schon.« Ich schiele nach rechts. Wenn der Saal leer ist, kann ich vielleicht über die Bühne in den Backstage-Bereich gelangen. Mittlerweile zweifele ich allerdings daran, dass Dad überhaupt noch dort ist. Also führe ich den Smalltalk ein Stück weiter. »Und wie steht's mit weiteren Zukunftsplänen?«
»Den Praktikanten-Job bin ich hoffentlich bald los. Und nächste Woche geht's erstmal für einen Kurztrip nach Europa.« Sie seufzt. »Recherche für Brookner, Kaffeetassen und Kamerataschen schleppen für mich.«
»Und wie geht's mit den... du weißt schon was?«, frage ich mit gesenkter Stimme. Ich weiß, dass ich mich damit auf dünnem Eis bewege, aber ich muss einfach wissen, ob die Kräfte wirklich vollständig verschwunden sind.
Alyssa schiebt den Träger ihrer Umhängetasche zurecht. Nervös blickt sie über ihre Schulter. Eine dunkelhäutige Frau im Businesskostüm läuft an uns vorbei. »Nichts. Manchmal bilde ich mir noch Geräusche oder Gerüche ein, die nicht da sind, aber... dank Doctor Banner lebe ich wieder normal.« Sie zögert. »Und die anderen?«
»Von Marcelo hab ich seit einiger Zeit nichts mehr gehört, aber ihm geht's bestimmt molto bene, das gleiche gilt für Zach. Die drei Mädchen aus der Basis wurden auch von Banner behandelt. Und Cass, Matt und Xander haben ihre Kräfte immer noch.«
»Sie waren auch in Sokovia, stimmt's?«
»Woher weißt du das?«
»Es ist mein Job, alles zu wissen, bevor die anderen es wissen. Ich konnt's mir denken.«
Plötzlich habe ich Angst, dass etwas über Cass' und Matts Mittäterschaft bekannt werden würde. Das muss ich ihnen um jeden Preis ersparen. »Aber du verrätst uns doch nicht, oder?«
»Glaub mir, so schwer diese Entscheidung auch wiegt, das werde ich nicht. Dann müsste ich ja erklären, woher ich euch kenne. Und das wiederum würde zu weiteren Fragen führen. Nein, dieses kleine Geheimnis ist bei mir sicher.« Sie lächelt mich an, doch dann wandert ihr Blick über meinen Kopf und ihre Mundwinkel senken sich allmählich.
Ich spüre eine Hand auf meiner Schulter. Als ich den Kopf drehe, sehe ich Dad neben mir stehen.
»Ich wollte dich gerade suchen«, sage ich.
»Dann war ich wohl schneller.«
»Dad, das ist Alyssa«, stelle ich die beiden einander vor. »Erinnerst du dich noch an sie? Sie ist jetzt – Praktikantin – bei der Boston Globe.«
Alyssa presst die Lippen aufeinander. »Ich hab mir ihren Vortrag angehört. Inspirierend.«
»Danke«, antwortet Dad knapp.
Es scheint genau das eingetroffen zu sein, was ich befürchtet habe. Nein, es ist sogar noch schlimmer. Zum Glück bemerkt Alyssa das auch. Wir tauschen noch Nummern aus, dann verlässt sie das Gebäude durch den Hauptausgang. Ihre Ohrringe wippen noch im Takt ihrer Schritte, dann ist sie auch schon verschwunden, und ich stehe mit Dad alleine im Gang vor dem Auditorium.
»Was ist das?«, frage ich stirnrunzelnd und deute auf ein Stück Papier, das Dad in seiner Hand hält.
»Nichts«, sagt er und stopft es in seine Hosentasche.
»Alles in Ordnung?«, frage ich vorsichtig. Irgendwie macht mir sein Gesichtsausdruck Angst. Nicht auf die furchtsame Art, aber...
»Wir wollten doch etwas essen gehen, nicht wahr? Dann los. Was hältst du von Pommes?« Es geht ihm nicht gut. Sein Lächeln ist so gezwungen, dass es wie eine grausame Maske wirkt.
»Ich bin ehrlich gesagt ziemlich müde«, lüge ich. »Und morgen muss ich einen Haufen Hausaufgaben erledigen. Vielleicht können wir zurück nach New York und einfach Pizza bestellen.«
Er nickt, immer noch abwesend. Auch, wenn ich mich auf den Abend in Boston gefreut habe, scheint mir das hier die bessere Lösung zu sein. Denn in seinem Zustand will ich keine Zeit mit Dad verbringen.
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