Kapitel 85; Michael
Ich stehe in der Küche und durchsuche die Schränke nach etwas Essbarem. Ich war länger nicht mehr hier und dadurch, dass Manu und Patrick hier waren nachdem Maurice abgehauen ist, sehen unsere Vorräte ziemlich mager aus. Ich meine, man kann sich was zu essen machen, aber ich habe eigentlich wenig Bock auf Dosenfrass und den Lebensmitteln im Kühlschrank traue nicht mehr richtig. Also bleibt mir nichts anderes übrig als einkaufen zu gehen. Wenn ich einkaufen gehe, heißt das automatisch, dass Maurice alleine hier bleibt, denn ich bezweifle stark, dass er mich begleiten würde. Kann ich Maurice alleine lassen? Allerdings müssen wir auch irgendwie an Essen kommen.
Außerdem sollte ich mich mal bei Mika melden. Es wäre wohl angebracht, wenn ich sie über den Verlauf der letzten Tage aufkläre. Vielleicht kann ich diese beiden Dinge direkt miteinander kombinieren, wenn ich Mika darum bitte, mit mir einkaufen zu gehen. Bleibt nur die Frage, was ich mit Maurice mache. Alleine lassen will ich ihn ungern. Und obwohl ich weiß, dass er nicht mitkommen wollen wird, gehe ich zu seinem Zimmer, um ihn zu fragen.
Ich klopfe an die Tür und betrete dann Maurice' Zimmer. Es sieht genauso aus wie vorhin. Zugezogene Jalousien, ausgeschaltetes Licht und Maurice, der im Bett liegt.
„Was ist jetzt wieder?“, Maurice seufzt und ihm ist deutlich anzusehen, dass er gehofft hat, länger Ruhe vor mir zu haben.
„Ich wollte einkaufen gehen. Willst du mitkommen? Brauchst du irgendwas?“, ich höre die Verunsicherung in meiner Stimme raus. Das ist nicht gut. Maurice wird das hundertprozentig auch gehört haben.
„Nein, ich brauche nichts bestimmtes. Ich würde gerne einfach nur schlafen, ich bin verdammt erschöpft“, winkt Maurice ab. Also wird er mich nicht begleiten wollen, hab ich's mir doch gedacht.
„Geht's dir nicht gut? Soll ich lieber hierbleiben?“, hinterfrage ich etwas besorgt. Ich will ihn nicht alleine lassen und wenn er schon sagt, er fühlt sich erschöpft, sollte ich das eventuell wirklich nicht tun.
„Du musst nicht die ganze Zeit auf mich aufpassen. Mir passiert schon nichts und ich bin vorsichtig. Geh einfach einkaufen“, Maurice seufzt und ich nicke. Den Wink mit dem Zaunpfahl hab ich schon verstanden.
„Dann geh ich jetzt. Wenn was ist, dann ruf mich einfach an.“ Ob ich das so gut finden soll, weiß ich ehrlich gesagt nicht. Aber was anderes bleibt mir ja auch nicht wirklich übrig.
„Ja, ja“, höre ich Maurice sagen, während ich sein Zimmer verlasse. Ich schließe die Tür hinter mir, dann ziehe ich mein Handy aus der Tasche. Yo Mika. Hast Du Zeit? Ich muss dir 'n bisschen was erzählen.
Micha! Dir geht's ja gut, du Arsch! ist ihre erste Antwort. Klar, ich komm vorbei folgt zwei Sekunden später.
Danke. Ich schiebe mein Handy zurück in meine Hosentasche und gehe dann in den Flur. Schnell ziehe ich meine Schuhe und meine Jacke an und verlasse dann die Wohnung und schlussendlich das Haus, um unten auf Mika zu warten. Irgendwie habe ich das Gefühl, sie sollte jetzt nicht unbedingt auf Maurice treffen.
Zehn Minuten später hält Mikas schwarzer Mini direkt vor mir. Bevor sie auf die Idee kommt auszusteigen, öffne ich die Beifahrertür und setze mich neben sie. Noch bevor ich die Tür richtig geschlossen habe, beugt sie sich rüber und umarmt mich. Sie löst sich von mir und ich sehe die Erleichterung in ihren Augen. Das steigert mein schlechtes Gewissen nur noch mehr.
„Es tut mir leid, dass ich mich so lange nicht gemeldet habe“, ist das erste, was sie von mir hört. Sie schüttelt den Kopf und lächelt mich an.
„Ich weiß, dass es nicht anders ging. Ich bin nur froh, dass es dir gut geht. Und jetzt sag mir, wo wir hinfahren und erzähl mir dann alles.“ Ihre Hände legen sich auf das Lenkrad und ihre Finger tippen ungeduldig darauf herum.
„Ich war lange nicht mehr zuhause, kannst dir also vorstellen, wie's nahrungstechnisch so aussieht“, erkläre ich ihr die momentane Situation.
„Und da hast du dir gedacht, die gute, alte Mika wird dich schon irgendwohin fahren“, sie schmunzelt und ist schon dabei, ihr Auto in den Verkehr einzufädeln.
„So ungefähr, aber hauptsächlich wollte ich dich eigentlich aufklären. Das du mir beim Einkaufen hilfst, ist nur ein netter Nebeneffekt“, ich grinse schwach. Ich bin wirklich froh, dass Mika mir so oft unter die Arme greift.
„Ja, ja, ich bin ein Engel. Und jetzt erzähl mal, was so passiert ist.“ Das mache ich dann auch. Und es ist viel. Am Ende stehen wir noch knapp fünfzehn Minuten auf dem Parkplatz des Supermarkts, weil ich meine Erzählungen nicht mittendrin abbrechen möchte. Bestimmte Dinge, wie beispielsweise einige Details aus Maurice' Vergangenheit, habe ich ausgelassen. Ich vertraue Mika, ich vertraue ihr sehr, aber das heißt nicht, dass es Maurice gefallen würde, wenn sie über alles Bescheid weiß.
Nachdem ich geendet habe, ist es still im Auto. Abwesend dreht Mika eine Zigarette zwischen ihren Fingern. Dann öffnet sie das Fenster, schiebt die Zigarette in ihren Mund und zündet sie an. Sie nimmt ein paar Züge, und es kommt mir wie eine halbe Ewigkeit vor, bis sie seufzt.
„Das war gerade verdammt viel Input“, teilt sie mir mit und ich nicke. Das war mir schon klar. Immerhin hat sie ziemlich viel verpasst. „Maurice ist jetzt also alleine in der Wohnung und du machst dir Sorgen, dass es ein Fehler war, ihn alleine zu lassen.“
„Ja, genau das befürchte ich“, bestätige ich ihr. Ich bin zwar nur einkaufen, aber trotzdem. Mir gefällt der Gedanke einfach nicht, dass Maurice auf sich alleine gestellt ist.
„Du solltest dir nicht so 'nen Kopf machen. Der Junge ist erwachsen. Ich würde mir eher Sorgen darüber machen, dass er plötzlich wieder da ist“, Mika schnippt ihre Zigarette aus dem Fenster, dann schließt sie es und verlässt das Auto. Sie macht sich nicht einmal die Mühe, ihr Misstrauen gegenüber Maurice zu verstecken. Wirklich übel nehmen kann ich ihr das aber nicht, immerhin hat sie nicht viel gutes von ihm mitbekommen.
Ich steige ebenfalls aus. Gerade, als ich die Tür schließe, ertönt das unverkennbare Piepen, welches mir zeigt, dass Mika das Auto abgeschlossen hat. Ich schließe zu ihr auf und gemeinsam laufen wir über den Parkplatz zur Überdachung unter der die Einkaufswagen stehen. Mika schiebt mir einen der Wagen zu und dann betreten wir das Geschäft.
Ich hätte mir vielleicht mal Gedanken darüber machen sollen, wie ich die Wohnung hinterlasse, bevor ich mit Olivia mitgegangen bin. Die Post gleich durchgehen zu müssen, ist das kleinere Übel. Die Küche aufzuräumen wird wahrscheinlich echt widerlich. Zumal ich das eventuell auch vor dem Einkaufen hätte tun sollen. Es wäre wohl echt nicht so schlau, wenn ich gleich frisches Essen neben gammeligem lager. Dann müssen die Sachen mal 'n paar Minuten auf dem Tisch stehen bleiben, kauf ich halt nichts, was instant in den Kühl- oder Gefrierschrank muss.
Zusammen mit Mika laufe ich durch den Laden und nach und nach füllt sich der Einkaufswagen. Dann bleibe ich vor dem Teeregal stehen. Wir haben keinen mehr zuhause und Maurice liebt ihn. Also sollte ich ihm vielleicht welchen mitbringen, auch wenn er meinte, er bräuchte nichts. Aber welchen? Ich hab doch absolut keine Ahnung von Tee. Was davon schmeckt jetzt gut und was davon ist scheiße?
„Du trinkst Tee?“ Mika stoppt neben mir und starrt ebenfalls auf die Auswahl vor uns. Ich schweige. Ihre Reaktion, wenn ich ihr sage, dass ich Maurice extra Tee mitbringe, kann ich mir schon vorstellen. Immerhin ist sie alles andere als begeistert davon, dass er zurück ist. Meine Stille scheint sie richtig zu deuten, denn sie seufzt.
„Nimm den, der ist in Ordnung“, Mika drückt mir einen Tee in die Hand und entfernt sich dann vom Regal. Perplex sehe ich ihr nach, dann schmeiße ich den Tee in den Wagen und folge ihr.
Nach dem Einkaufen ist es still im Auto. Keine wirklich unangenehme Stille, eher eine vertraute. Das Nico sie damals mitgebracht hat, ist wirklich eins der wenigen guten Erlebnisse der letzten Zeit.
„Wie geht's Nico eigentlich?“, möchte ich von ihr wissen. Am besten sollte ich den Jungen später mal anschreiben, immerhin weiß er von der ganzen Sache nichts und fragt sich wahrscheinlich, warum ich die Vorlesungen verpasst habe und warum ich so kurz angebunden auf seine Nachrichten reagiert habe.
„Wie soll's ihm schon gehen? In der Zeit, in der du weg warst, ist nicht wirklich was passiert“, Mika fokussiert sich auf die Straße, aber ich sehe, dass sie grinst.
„Also geht's ihm gut“, formuliere ich ihre Antwort um. Das ist schön zu hören.
„Wie wär's, wenn du gleich einfach mit zu uns kommst? Dann kannst du dich davon selbst überzeugen“, schlägt Mika vor und ich brumme leise. Ich weiß nicht, ob die Idee so gut ist. Eigentlich will ich Maurice nicht länger als nötig alleine lassen, außerdem muss ich die Küche auch noch aufräumen.
„Ich muss die Küche aus- und einräumen, das dauert wahrscheinlich ziemlich lange“, sage ich ihr. Mika sieht kurz zu mir, dann liegt ihr Blick wieder auf der Straße.
„Dann helf ich dir eben, dann geht's schneller und du kannst mitkommen“, ihr Vorschlag verunsichert mich etwas. Ich denke mal, hinter ihrem netten Angebot steckt mehr als nur Hilfsbereitschaft. Eher läuft's darauf hinaus, dass sie Maurice an die Gurgel geht.
„Du fängst keinen Stress mit Maurice an.“
„Man Micha. Ein bisschen Feingefühl hab ich auch noch“, ein Blick in den Rückspiegel reicht um zu sehen, dass sie mit den Augen rollt.
„Ich wollt's nur anmerken“, verteidige ich mich.
„Ja, ja. Keine Sorge. Ich unterhalte mich später mal ganz in Ruhe mit Maurice, aber nicht heute“, wirft sie ein. Oh Gott, das wird doch wieder so laufen, wie damals im Club.
„Mika-“
„Nico freut sich bestimmt, dich zu sehen, glaubst du nicht auch?“, wechselt sie alles andere als subtil das Thema. Ich schmunzle leicht. Dieses Mädchen kann ihrem Bruder manchmal doch ganz schön ähnlich sein.
„Ja.“
Trotz Mikas Versprechen, Maurice zumindest heute in Ruhe zu lassen, habe ich dennoch ein mulmiges Gefühl, als ich sie in die Wohnung lasse. Andererseits, das ist Mika. Sie wird sich schon daran halten. Ich vertraue ihr da.
Und tatsächlich hilft sie mir dabei, die Küche in Ordnung zu bringen, ohne auch nur einmal Anstalten zu machen, den Raum zu verlassen. Dank ihr geht das alles erheblich schneller, als ich befürchtet hatte.
Bevor Mika und ich die Wohnung wieder verlassen, um zu Nicos und ihrer Wohnung zu fahren, gehe ich noch einmal kurz allein in Maurice' Zimmer. Es hat sich nicht wirklich viel verändert. Es ist immer noch fucking dunkel und Maurice scheint daran auch nichts ändern zu wollen. Als ich ihm sage, dass ich Nico und Mika besuche, brummt er nur. Eigentlich wäre Maurice' Zustand jetzt Grund genug, um nicht zu fahren. Aber Mika überzeugt mich letztlich doch davon, sie zu begleiten. Also unfassbare Sorgen um Maurice. Als ich abends mit verdammt schlechtem Gewissen in unsere Wohnung zurückkehre, bin ich froh, Maurice wohlauf zu sehen. Naja, so wohlauf, wie er halt sein.
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