
Kapitel 81; Michael
Das Licht meines Handys ist die einzige Lichtquelle im Wohnzimmer. Ich sitze auf der Couch, das Handy zwischen den Fingern, während ich sinnlos im Internet surfe. Langsam fangen meine Augen an zu brennen. Vielleicht sollte ich mal das Handy weglegen, das Licht anmachen. Vielleicht sollte ich mich auch einfach schlafen legen, vorher aber mal nach Maurice sehen. Immerhin ist er jetzt schon ziemlich lange nicht mehr bei Bewusstsein. Oder ob er vielleicht wach ist und mich einfach nur nicht sehen will? Verübeln könnte ich es ihm nicht. Nach der Sache mit Mila- Aber was hätte ich tun sollen? Sie wollte es so. Auch wenn ich damit komplett gegen Maurice' Willen gehandelt habe.
Trotzdem. Ich muss nach ihm sehen, mich vergewissern, dass es ihm wirklich gut geht. Sein Wunsch wurde zwar rückgängig gemacht, das heißt aber nicht, dass sein Körper das alles unbeschadet überstanden hat. Die Zeit im Jenseits war einfach nur verdammt anstrengend und belastend. Als ich dort war, habe ich es nicht wirklich gespürt, aber es fühlte sich fast so an, als wäre mir mein Leben ausgesogen worden. Verdammt gruselig. Liegt wahrscheinlich daran, dass ich als Lebendiger dadrüben einfach nichts zu suchen habe. Obwohl ich Mila keinerlei Fragen über den Tod gestellt habe, habe ich schon viel mehr erfahren, als ich eigentlich wissen dürfte.
Gerade deswegen stehe ich jetzt auf, um nach Maurice zu sehen. An ihm wird das sicherlich auch nicht spurlos vorbei gegangen sein, zumal seine Seele dabei war, ihren Platz mit der von Mila zu tauschen. Der Weg durch die dunkle Wohnung ist alles andere als leicht, aber irgendwie sträube ich mich dagegen, das Licht anzuschalten. Es ist einfach so surreal. Ich wollte Maurice nicht mehr hier haben, alles, was für unsere Freundschaft spricht, ist nicht mehr da, aber trotzdem liegt er jetzt doch wieder in demselben Zimmer, in dem er bis vor kurzem noch gelebt hat. Solange ich die Veränderungen in der Wohnung nicht sehe, kann ich mir zumindest für einen kurzen Moment einreden, er wäre nie weg gewesen. Als wäre das alles nie passiert, als hätten wir ein normales Leben. Auch wenn es nicht so ist.
Vorsichtig fahren meine Hände über das Holz der Tür, bis meine Finger die Klinke ertasten. So leise wie möglich drücke ich die Tür auf und trete in Maurice' dunkles Zimmer. Das schwache Licht des Mondes fungiert als einzige Beleuchtung. Aber es reicht, um zu sehen, dass seine Augen noch geschlossen sind. Er ist anscheinend immer noch nicht aufgewacht. Ich setze mich auf seine Bettkante und starre aus dem Fenster. Das, was passiert ist, gehört wohl zu den Dingen, die man verdrängt und nie wieder anspricht. Aber ich muss darüber sprechen, spätestens dann, wenn ich mich mit den anderen treffe. Ob Maurice mich begleiten wird? Vermutlich nicht. Er wird mich wohl nie wieder irgenwohin begleiten.
Wer weiß, wann er aufwacht und was er dann macht. Wahrscheinlich wird er mir dieselbe Abneigung entgegen bringen, die er mir anfangs bei Olivia entgegen gebracht hat. Nur wird er dieses Mal nicht auf mich zukommen, um Waffenstillstand zu beantragen. Nein, dieses Mal wird er mich wirklich hassen.
Wenn er jetzt aufwachen würde, was würde ich ihm sagen? Würde er mir überhaupt zu hören wollen? Ich blicke zu ihm. Seine Augen sind immer noch geschlossen und ich glaube, dass wenn er sie öffnet, ich die letzte Person bin, die er sehen will. Ich sollte in mein eigenes Zimmer gehen, anstatt hier darauf zu warten, dass er aufwacht. Außerdem ist es spät und der Tag war verdammt anstrengend. Es wäre wohl besser, ich würde jetzt einfach schlafen gehen.
Nach einem letzten Blick zu Maurice stehe ich auf und gehe zur Tür. Meine Hand legt sich auf die Klinke, dann stoppe ich. Was, wenn er aufwacht? Ich weiß, dass er mich nicht sehen wollen wird. Aber ich weiß auch, wie weit er für seine Schwester gegangen ist. Ich habe gesehen, was er damals vorhatte. So unwirklich sich das auch anhört, die Szene auf der Brücke war kein Albtraum, sondern die Realität. Ich darf ihn nicht alleine lassen, selbst wenn er das will. Nicht, solange ich nicht weiß, dass es ihm gut geht. Also löse ich meine Hand von der Klinke und setze mich vor der Tür auf den Boden. Ich lehne mich an sie, winkle meine Knie an und stütze meine Arme darauf ab. Selbst wenn ich jetzt also einschlafen sollte, werde ich mitbekommen, wenn er vorhat, das Zimmer zu verlassen.
Shit, was tue ich hier. Ich komme mir vor wie ein verdammter Creep, der nichts besseres zu tun hat, als Maurice beim Schlafen zu beobachten. Aber was soll ich sonst machen? Was anderes bleibt mir ja wohl schlecht übrig. Außerdem beobachte ich ihn ja nicht beim Schlafen, sondern warte darauf, dass er aufwacht. Das ist ein Unterschied. Wobei ist es das wirklich? Ich sitze vor seiner Tür damit er nicht einfach verschwinden kann und das ist schon creepy, oder? Aber was soll ich sonst machen? Er wird bestimmt nicht mit mir reden und ich kann seinen Zustand nicht richtig einschätzen, also muss ich das tun. Ob er will oder nicht, ich werde ihn jetzt definitiv nicht alleine lassen. Vielleicht braucht er mich nicht und hat das alles nur gespielt, aber das ändert nichts daran, dass es für mich echt war. Ich sehe zu Maurice, der immer noch ihm Bett liegt und frage mich, ob er gerade am Träumen ist. Vielleicht ist er ja irgendwie noch im Jenseits, schließlich war er ja schon tot, könnte doch sein, dass seine Seele dann ein bisschen länger braucht um zurückzukehren oder so. Möglich wäre es jedenfalls, denn die Gegenstände und dieser ganze Jenseits-Trip war Realität, egal wie weird es war. Maurice meinte zwar, dass Tote kein zweites Mal sterben, aber irgendwie ist es passiert. Ich konnte sie nicht retten, weil sie es nicht wollte, aber kann ich das Maurice so sagen, falls er mich fragen sollte, warum ich seinen Wunsch rückgängig gemacht habe? Vermutlich wird er mich so sehr hassen, dass er mir gar nicht zu hören wird. Verübeln kann ich es ihm nicht. Ich habe seinen Wunsch zerstört auf den er all seine Hoffnungen gesetzt hat. Ich habe all seine Bemühungen, all seine Pläne nichtig gemacht. Ich lasse meinen Kopf auf meine Knie sinken. Er wird mich definitiv hassen, ich spüre wie Tränen sich in meinen Augen sammeln, aber lasse nicht zu, dass sie meine Augen verlassen. Maurice ist am Leben und das ist für mich das wichtigste. Er lebt und wenn er mich hasst ist das okay. Wen verarsche ich hier eigentlich? Es ist nicht okay, es wird nie okay sein. Ich hänge viel zu sehr an ihm, als dass ich einfach "okay" damit wäre, wenn er wirklich aus meinem Leben verschwinden würde. Ich dachte ich könnte das und ich habe mir vorgenommen ihn aus meinem Leben zu verbannen, aber ich kann es nicht. Es geht nicht. Aber er wird es tun. Ich bin nur Mittel zum Zweck gewesen und habe auch noch alles zerstört worauf er so lange hingearbeitet hat. Natürlich wird er nichts mehr von mir wissen wollen, aber ich werde ihn erst in Ruhe lassen können, wenn ich keine Angst um seinen Zustand haben muss.
Meine Gedanken drehen sich immer und immer wieder im Kreis und irgendwann schließen sich meine Augen und ich bin eingeschlafen. Der Schlaf ist alles andere als erholsam. Immer wieder schleicht sich Milas Gesicht in meine Träume, noch dazu ist meine Position am Boden auch noch alles andere als bequem. Aber es reicht. Zumindest solange, bis ich durch ein Rütteln an meiner Schulter geweckt werde.
Als ich meine Augen aufschlage, sehe ich direkt in ein paar grüner Augen, die mich ausdruckslos mustern. Maurice hockt vor mir und zieht jetzt seine Hand zurück, die bis gerade noch auf meiner Schulter lag. Ich bin froh, dass er endlich aufgewacht ist. Wenn ich vor ihm wachgeworden wäre, wäre ich vermutlich durchgedreht vor Sorge.
„Du solltest dich vielleicht ins Bett legen und da schlafen",rät er mir. Überfordert starre ich ihn an, überlege, was ich sagen soll. Maurice zieht eine Augenbraue hoch und ich sage das erstbeste, was mir in den Sinn kommt.
„Es tut mir leid." Die Worte verlassen meinen Mund, wabern bedeutungsschwer durch die Stille des Raums. Ich erwarte Protest, Hass, Vorwürfe, Trauer. Stattdessen bekomme ich Gleichgültigkeit.
„Wir reden morgen drüber", Maurice steht auf, während ich am Boden sitzen bleibe. Mir wäre jetzt sogar Maurice' Wut lieber als dieses Desinteresse. Dann wüsste ich wenigstens, dass er Gefühle zulässt. Wie viel von dem, was passiert ist, weiß er überhaupt? Weiß er, dass ich seine Erinnerungen kenne, oder nicht? An was erinnert er sich selbst überhaupt noch?
„Aber-"
„Was aber? Es ist mitten in der Nacht, ich bin müde und ich würde gerne weiterschlafen. Ohne dabei beobachtet zu werden",er wirkt genervt. Genervt von mir, meiner Anwesenheit. Scheinbar weiß er zumindest, dass das Ritual anders verlaufen ist, als er es sich erhofft hat. Und außerdem glaube ich nicht, dass er sich wirklich wieder schlafen legen wird, sobald ich das Zimmer verlasse.
„Ich wollte nur sicher gehen, dass du irgendwann aufwachst",verteidige ich mich. War ja klar, dass das seltsam wirkt, wenn ich vor seiner Tür sitze und schlafe.
„Ich bin aufgewacht, jetzt kannst du dich beruhigt schlafen legen", seine genervte Art ist wieder Desinteresse gewichen. Es beunruhigt mich. Es beunruhigt mich sehr.
„Ich geh hier nicht weg, solange wir nicht geredet haben. Ich muss mir sicher sein, dass es dir gut geht", ich beisse mir auf die Zunge. Den letzten Satz hätte ich mir vielleicht verkneifen sollen, aber jetzt bekomme ich von Maurice zumindest wieder irgendeine Regung.
„Ich brauche keinen Babysitter. Ich bin erwachsen, verdammt. Wenn ich gehen will, gehe ich",er ballt die Hände zu Fäusten und dadurch, dass er steht, während ich auf dem Boden sitze, wirkt er noch größer und, in diesem Fall, einschüchternder als sonst.
„Du wirst aber nicht gehen", jetzt stehe ich auch auf und stelle mich mit verschränkten Armen vor die Tür. Er kann mich dafür hassen, aber ich lasse ihn das Zimmer nicht verlassen. Nicht, solange ich nicht weiß, wie ich sein Verhalten einzuschätzen habe. Und so, wie er gerade darauf beharrt, dass ich verschwinden soll, scheinen meine Sorgen ja nicht ganz unbegründet gewesen zu sein.
„Warum? Denkst du, ich hau wieder ab?", ein dezenter Vorwurf schwingt in seiner Stimme mit. Soll ich jetzt etwa ja sagen? Ist es das, was er hören will? Ja, ich habe Angst, dass er abhaut. Und ich habe Angst, dass er nicht mehr wiederkommt. Ich habe Angst, dass dieselbe Situation wie vor ein paar Jahren eintritt, nur dieses Mal ohne den rettenden Anruf seiner Mutter. Mein Schweigen scheint er richtig zu deuten. „Ich werde nicht verschwinden. Lass mich jetzt bitte einfach alleine." Die Anspannung weicht aus seinem Körper. Er wirkt nur noch erschöpft. Wirklich erschöpft. Sonderlich beruhigend ist das aber nicht für mich, eher ihm Gegenteil.
„Du versprichst mir, dass wir morgen reden. Dann lasse ich dich allein", gebe ich nach. Ich will ihn nicht alleine lassen. Andererseits verstehe ich auch irgendwo, dass er erstmal seine Ruhe braucht.
„Ich verspreche es. Und jetzt geh schlafen. Du siehst auch alles andere als energiegeladen aus", Maurice lässt sich auf das Bett sinken und so, wie er jetzt aussieht, kann ich mir nicht vorstellen, dass der Junge irgendwo hingeht. Eher kippt er um, wenn er zwei Schritte zu viel macht.
„Du schläfst wirklich?", will ich von ihm wissen. Den Schlaf hat er wohl bitter nötig und nachdenken kann er morgen. Nach unserem Gespräch.
„Gute Nacht", ist die einzige Antwort, die ich von ihm bekomme. Mehr nicht. Er umgeht meine Frage. Ich seufze.
„Schlaf gut, Maurice", ich verlasse sein Zimmer und schließe die Tür hinter mir. Auf dem Flur kann ich mich gerade so davon abhalten, gegen die nächstbeste Kommode zu treten. Das lief alles andere als geplant.
Ich gehe in mein eigenes Zimmer und, obwohl ich nicht glaube, dass Maurice gehen wird, lasse ich meine Zimmertür geöffnet. Nur für den Notfall. Ich lege mich zwar in mein Bett, wirklich viel Schlaf bekomme ich in dieser Nacht aber nicht mehr. Wegen den leisesten Geräuschen schrecke ich aus dem Schlaf auf. Maurice hat sein Zimmer diese Nacht nicht ein einziges Mal verlassen.
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