Kapitel 9
Der wolkenverhangene Himmel verpasste dem See ein metallenes, stumpfes Grau. Die Temperaturen waren merklich gesunken und schienen vergessen zu haben, dass sie einem Sommermonat angehörten. Draco fröstelte in dem dünnen Shirt, das er trug, dennoch machte er keine Anstalten, den Steg, auf dem er stand, zu verlassen. Er schlang lediglich seine Arme ein wenig fester umeinander und starrte ohne sichtbare Emotion auf die nahezu unbewegte Wasserfläche vor sich.
Mehrere Minuten lang war seine Haltung von absoluter Reglosigkeit gekennzeichnet. Dann löste sich langsam der weite Stoff seines linken Ärmels, rutschte hinunter bis zum Ellenbogen und entblößte seinen Arm. Es war nicht die Gänsehaut, die Draco einen ärgerlichen Ausdruck ins Gesicht trieb und ihn einen flüchtigen Blick auf seinen Arm werfen ließ, bevor er den Stoff seines Shirts hastig wieder tiefer zog.
Es war das dunkle Mal der Todesser, das er seit acht Jahren trug und dessen Anblick Draco stets unter seiner Kleidung verbarg – nicht nur vor den Augen anderer, sondern auch vor sich selbst. Wenngleich das Mal längst glatt und verblasst auf seiner Haut lag, entzog es sich doch jeglichen Bemühungen, es zu entfernen. Und Draco hasste das Bild des Totenkopfes, aus dessen Mund sich eine Schlange herauswand. Hasste es mit einer Intensität, die seiner anfänglichen Begeisterung über das Zeichen der Zugehörigkeit in nichts nachstand. Denn es erinnerte ihn an eine Zeit, die er inzwischen am liebsten verdrängt hätte.
Er hatte anfangs durchaus Stolz darüber empfunden, seinen Platz unter den Anhängern dunkler Magie einzunehmen und den verehrten Dunklen Lord als jüngster Todesser aller Zeiten unterstützen zu können. Seine erste Begegnung mit dem bewunderten dunklen Zauberer war unauslöschlich in seine Seele eingebrannt – ein hagerer, bleicher, kaum noch menschlich zu nennender Zauberer, von dem dennoch eine überwältigende Anziehungskraft ausgegangen war, die einen alles andere vergessen ließ. Draco hatte die Macht, die der Dunkle Lord ausstrahlte, förmlich bis in die Fingerspitzen spüren können. Und er war mächtig beeindruckt davon gewesen, was man durch dunkle Magie alles erreichen konnte.
Erneut lagen Dracos Augen ausdruckslos auf der Oberfläche des Sees, ohne dass ihm die in der Ferne auffliegenden Krähen eine Bewegung entlockten. Sein Fokus war nach innen gerichtet, Erinnerungsbilder aus der Vergangenheit überschwemmten ihn und ließen Emotionen aufkommen, die er gerade so in Schach hielt.
Es war der Dunkle Lord selbst gewesen, der Draco mit einem Lächeln, das dieser als zufrieden und bedeutungsvoll wahrgenommen hatte, das Dunkle Mal in die Haut gezaubert hatte. Und obwohl Dracos ganzer Körper bis hin zu seinem Schädel wie Feuer gebrannt und er das Gefühl gehabt hatte, den Schmerz nicht länger ertragen zu können, waren weder Schreie noch Flüche seinem Mund entwichen.
Der Stolz, der daraufhin endlich einmal in den Augen seiner Eltern glomm, war Belohnung genug gewesen. Selbst im Gesicht des Dunklen Lord meinte Draco kurz so etwas wie Anerkennung entdeckt zu haben, bevor dieser sich wieder abgewandt hatte. Mit kaum wahrnehmbarer Bewegung und ohne das kleinste gewisperte Wort war aus den Flammen jeder einzelnen Fackel, die die Höhle mit ihrem flackernden Licht erhellten, ein glühender Bogen über ihren Köpfen entstanden. Bedächtig, fast gleichgültig, hatte der Dunkle Lord seinen Zauberstab erhoben und ihn auf das Feuer gerichtet, das sich sofort in das glutrote Symbol der Todesser verwandelte.
„Möge die Wildheit dieses Feuers stets in dir brennen, um zu nähren, was gut und rein ist, und zu vernichten, was nicht wert ist zu leben! Mögest du deinem Herrn ein treuer und gehorsamer Diener für die Ewigkeit sein und andernfalls sowohl Verrat als auch Versagen mit einer Strafe bezahlen, die der Dunkle Lord für angemessen hält! Schwörst du mir diesen lebenslangen Gehorsam, Draco Lucius Cenhelm Malfoy?"
Der Dunkle Lord hatte die Spitze seines Zauberstabes auf Draco gerichtet, der sich daraufhin außerstande gesehen hatte, einen eigenen Gedanken zu formulieren. Wie von selbst hatte er den Kopf geneigt und mit devoter Stimme die Worte von sich gegeben, die sein Gegenüber von ihm erwartete und die Draco mit Ehrfurcht erfüllten: „Ich schwöre es, mein Lord."
Woraufhin der Dunkle Lord mit seiner heiseren, aber klaren Stimme deklariert hatte:
„Willkommen, junger Malfoy, im handverlesenen Kreis meiner treuesten Anhänger."
Das langsam ansteigende Klatschen der versammelten Todesser hatte die Höhle erfüllt wie eine liebliche Musik und die Umarmung seines Vaters, dem normalerweise jegliche Emotionen gegenüber seinem Sohn fremd waren, hatte Draco als einen langvermissten Liebesbeweis empfunden. Das erste Mal in seinem Leben hatte er sich wirklich als Teil einer großen, bedeutungsvollen Einheit gefühlt. Er war daher entschlossen gewesen, sich dem Dunklen Lord und seiner Macht als würdig zu erweisen und hatte darauf gebrannt zeigen zu können, was in ihm steckte.
Auch jetzt noch konnte Draco dieses unvergleichliche Gefühl von Zusammenhalt spüren, das ihn damals bei seiner Initiation so in den Bann gezogen hatte. Unversehens ballte er seine Hände zu Fäusten. Es war eine falsche Empfindung gewesen – doch überwältigend nichtdestotrotz.
Zwei Wochen später war jedoch nichts mehr von dieser Erhabenheit und Hingabe übriggeblieben. Als der Dunkle Lord Draco mit einem kalten Lächeln die Aufgabe übertrug, seinen Schulleiter Albus Dumbledore zu töten, hatte Draco begriffen, mit wem er sich so bereitwillig eingelassen hatte. Und ihm war unverzüglich klargeworden, dass ein Scheitern an dieser Aufgabe tödliche Konsequenzen hätte. Nicht nur für ihn, sondern höchstwahrscheinlich auch für seine Eltern... Es war Draco daher eiskalt den Rücken hinuntergelaufen.
Denn es war unmöglich, Dumbledore zu töten. Nicht dass Draco seinem Schulleiter je irgendwelches Wohlwollen entgegengebracht hatte – doch Dumbledore war schlicht zu mächtig. Er, Draco, würde trotz all seiner eigenen, ohne Zweifel herausragenden Fähigkeiten keine Chance gegen diesen Magier haben, den selbst der Dunkle Lord nie zu eliminieren vermocht hatte.
Unvermittelt erfasste Draco ein Schwindelgefühl und er ließ sich hastig auf die Holzbohlen sinken, die Füße aufgestellt, die Arme um seine Knie geschlungenen. Sein Puls beschleunigte sich, als würde er erneut realisieren, dass sein Leben dem Dunklen Lord nichts wertgewesen war. Ebenso wenig wie das seiner Mutter.
Er hätte ein Narr sein müssen, nicht zu erkennen, warum er vor diese unlösbare Aufgabe gestellt worden war: es war dem Dunklen Lord einzig und allein darum gegangen, seinen Vater zu bestrafen, der in Erfüllung seiner Pflicht kläglich versagt hatte. Wenngleich Draco klargewesen war, dass der Dunkle Lord seine Angst und seinen Terror zu lesen imstande war – die Legilimentikfähigkeit des Dunklen Lords war ein offenes Geheimnis – war es ihm gelungen, sich nach außen hin zusammenzureißen.
Erst zurück in seinem Zimmer war Draco zusammengebrochen. Hatte damit gehadert, dass er sich wegen seines Vaters, der dumm genug gewesen war, vor Urzeiten den Todessern beizutreten, nun in dieser Lage befand. Und war durchtränkt gewesen von dem Bewusstsein, sogleich mit seinem Leben abschließen zu können. Doch er war es seinen Eltern schuldig, alles Menschenmögliche zu versuchen, um den Auftrag zu einem Erfolg zu führen. Es geziemte sich nicht für einen Malfoy, sofort aufzugeben.
Draco schloss gequält die Augen angesichts dieser schmerzvollen Erinnerung. Durchlebte noch einmal den unerträglichen Druck, unter dem er das ganze Schuljahr gestanden hatte und der ihm den Erfolg seines Unterfangens zur Pflicht gemacht hatte, begleitet von der ständigen Angst vor den Folgen seines Versagens.
Die Kraft der Verzweiflung hatte es ihm, fast ein Jahr später, tastsächlich ermöglicht, eine Situation zu schaffen, in der Dumbledore ihm wehrlos gegenübergestanden hatte. Allerdings war Draco außerstande gewesen, sie zu nutzen... wie sich herausstellte, hatte er einfach zuviel Skrupel, einen Menschen zu töten. Er war daher kurz davor gewesen, den von Dumbledore angebotenen Schutz für sich und seine Eltern in Anspruch zu nehmen – doch das Auftauchen der Carrows, des Werwolfes Greyback sowie anschließend Professor Snapes hatten dies effektiv verhindert.
Und mit dem anschließenden Tod Dumbledores durch die Hand von Snape hatte Draco sein Schicksal nunmehr untrennbar mit dem des Dunklen Lords verknüpft gefunden. Denn er hatte nur noch zwei Optionen gesehen: sich voll und ganz den Zielen des Dunklen Lords zu verschreiben, – oder unterzugehen. Letzteres war nichts gewesen, was er als erstrebenswert erachtet hatte. Immerhin zeichnete der Dunkle Lord das Bild einer Gesellschaft, die den Vorstellungen entsprach, die Draco als Kind eingebläut worden waren.
Und wenngleich Draco auch die Methoden des Dunklen Lords im Inneren zutiefst abgestoßen hatten – mittels der mittlerweile angeeigneten Okklumentikfähigkeit hatte er sein Entsetzen erfolgreich vor dem Herrscher der dunklen Magie zu verbergen gewusst – so war ihm längst klar geworden, dass er sein Leben irgendwie damit zu arrangieren haben würde. Die Welt würde ohne Frage so werden, wie der Dunkle Lord sie bestimmte. Denn es gab niemanden mehr, der ihn aufhalten konnte.
Draco zwang sich, trotz der zugeschnürten Brust tief einzuatmen und öffnete seine Augen wieder. Die geschlossene Wolkendecke über ihm war unverändert. Nicht unheilvoll, nicht bedrohlich, sondern einfach nur beruhigend in ihrer stumpfgrauen Beständigkeit. Unversehens entwich Dracos Mund ein leises, belustigtes Schnauben. Tatsächlich war es ganz anders gekommen.
Er schüttelte leicht den Kopf. Nie hätte er damals gedacht, dass dieser bebrillte schmächtige Zauberer, der seit Hogwarts sein Todfeind gewesen war, die Fahndung des Ministeriums nach ihm überleben und dann im Duell gegen Voldemort als Sieger hervorgehen würde.
Nachdenklich wanderte Dracos Blick die Baumreihe entlang, die den hinteren Teil des Sees säumte. Durch seine Beziehung zu Hermine hatte er sich in den letzten drei Jahren öfters in Harrys Gesellschaft befunden, als er es jemals einmal für möglich gehalten hätte. Was ihm dabei zunehmend Einblick in dessen Persönlichkeit vermittelt hatte.
Zwar ließen Harrys unscheinbares Äußeres und sein öffentliches Gebaren weiterhin kaum vermuten, dass es sich bei ihm um den Bezwinger dunkler Mächte handelte. Doch Draco war nicht umhingekommen, Harrys stählernen Willen hinter seinem freundlichen und zugewandten Wesen zu erkennen. Durch seine Aurorenausbildung schien sich der schwarzhaarige Zauberer außerdem ein Bewusstsein seiner eigenen Stärken angeeignet zu haben, das ihm zunehmend eine gewisse Souveränität verlieh. Draco hütete sich daher davor, Harry noch einmal zu unterschätzen.
Dabei hatte er keinerlei Absicht, trotz Hermines Trennung von ihm den Fehdehandschuh mit Harry erneut aufzunehmen. Denn Harry und er hatten in den vergangenen zweieinhalb Jahren ein Verhältnis zueinander entwickelt, dass zwar nicht freundschaftlich zu nennen war, aber von gegenseitigem Respekt geprägt war.
Ebenso wenig gab es einen Grund anzunehmen, dass sich dies von Harrys Seite aus geändert hatte. Draco war ihm vorhin in der Winkelgasse im Laden für Quidditchausstattung begegnet, wo sie ein paar freundliche Worte miteinander ausgetauscht hatten – was nur den Schluss zuließ, dass Hermine anscheinend weder Ginny noch Harry von ihrer Entdeckung des Legilimentik-Buches bei ihm berichtet hatte.
Hermine. Allein der Gedanke an sie schnürte Draco die Kehle zu. Er hatte es in den letzten beiden Wochen vermieden, an sie zu denken, was kein leichtes Unterfangen war. Auch wenn sie nicht zusammengewohnt hatten, erinnerte doch jeder Raum an sie – Diskussionen, die sie überall geführt hatten, Bücher, die sie gemeinsam in der Bibliothek gelesen hatten und nicht zuletzt die Aktivitäten sexueller Natur, von denen sie auch nach mehr als zwei Jahren nicht genug hatten bekommen können.
Zwei Tage nach dem Vorfall mit dem Buch hatten sich Hermine und er noch einmal in einem Cafe in der Winkelgasse getroffen. Doch weit entfernt davon, darüber zu reden, was ihre Beziehung ausmachte und einen Umgang mit ihren unterschiedlichen Einstellungen zu finden, war alles, wozu es gedient hatte, eine Auflistung von Gründen gewesen. In traurigen, aber nichtdestotrotz entschlossenen Worten hatte Hermine ihm zu verstehen gegeben, warum seine – wenngleich erlaubte! – Anwendung von Legilimentik in anderen Ländern für sie das Überschreiten einer absoluten Grenze darstellte.
Draco hatte versucht gehabt, ihr zu erklären, dass die Legilimentik einfach eine Möglichkeit darstellte, Verhandlungen erfolgreich führen zu können. Obgleich Hermine dies rational durchaus nachvollziehen konnte, wog es für sie jedoch ungleich schwerer, dass er seine neue Fähigkeit vor ihr verborgen gehalten hatte. Diesen Vertrauensbruch konnte und wollte sie ihm offenbar nicht verzeihen. Verbunden mit seiner, wie sie ahnte, vollkommen anderen politischen Ansicht und der Erkenntnis, sich die ganze Zeit in ihm getäuscht zu haben, hatte Hermine dann keinen Sinn mehr darin gesehen, ihre Beziehung fortzusetzen.
Jede ihrer Aussagen war ein Stich ins Herz gewesen und hatte Dracos weitere Worte vertrocknen lassen, noch bevor diese die Chance gehabt hatten, seine Lippen zu verlassen. Denn ihm war klargeworden, dass nichts von dem, was er tun könnte, Hermine nun von ihrem Entschluss abbringen würde. Und er war zu stolz, darum zu betteln, dass sie über ihren Schatten sprang.
Draco spürte, wie sich Tränen hinter seinen geschlossenen Augen sammelten. Hatte Hermine ihn überhaupt jemals mit vollem Herzen geliebt? Mit den Händen zog er seinen Kopf tief zwischen die Knie und ließ dann seine bebenden Schultern gewähren, bis er einige Minuten später das betäubende Gefühl der Leere wahrnahm. Er schluckte ein paar Mal, richtete sich auf und nahm mehrere tiefe Atemzüge gegen die Enge in seiner Brust. Die quälenden Gedanken in seinem Hirn kamen langsam zur Ruhe und fokussierten sich auf eine einzige Erkenntnis:
Offenbar war es Hermine doch nie gelungen, mehr als den früheren Todesser in ihn zu sehen.
Draco biss die Zähne so fest zusammen, dass es in seinem Kiefer schmerzte. Dies nach all den Jahren seiner Toleranz gegenüber dem, was im Ministerium vor sich ging, nach dem Versuch, sich einer Gesellschaft anzupassen, die ihm, das Produkt einer völlig anderen Erziehung, fremder nicht sein konnte! Eine einzige falsche Entscheidung hatte ihn für sein ganzes weiteres Leben gezeichnet und dafür gesorgt, dass ihm diese angeblich so liberale Gesellschaft nie eine zweite Chance geben würde.
Grimmig starrte Dracos auf den See hinaus. Es war genau diese ihn seit Jahren begleitende Furcht, die der Grund dafür war, dass er Hermine verschwiegen hatte, was so leicht misszuverstehen war. Selbstverständlich wünschte er sich nicht die Zeiten unter Voldemort zurück. Noch war er in irgendeiner Weise interessiert daran, politischen Einfluss und Macht auszuüben. Allerdings war er durchaus der Meinung, dass manchmal auch ungewöhnliche Wege gegangen werden mussten, wenn man etwas erreichen wollte.
Unvermittelt durchfuhr Draco eine eiserne Entschlossenheit. Sein Kinn schob sich in die Position der arroganten Haltung, die er früher perfektioniert hatte und die jetzt unübersehbar von dem Willen kündete, sich von den Umständen nicht unterkriegen zu lassen. Was er nutzte – und das galt für die beiden Dinge, die er Hermine verheimlicht hatte – war die perfekte Methode, den Erfolg seines Unternehmens zu steigern. Und er würde den Teufel tun sich dafür Schuldgefühle machen zu lassen!
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