Kapitel 50
Ginny umschlang krampfhaft den knochigen Hals des Thestrals, die Finger fest um das Holz ihres Zauberstabes gepresst. Längst hatte sich der Desillusionierungszauber, den sie in der Eile ausgesprochen hatte, aufgelöst, aber sie flogen inzwischen so hoch, dass es keine Rolle mehr spielte. Ihre Augen tränten von dem scharfen Wind, der über sie hinweg glitt und gleichzeitig ihre erhitzte Haut kühlte. Die Haarspitzen der Mähne schlugen in ihr Gesicht und jegliche Geräusche hatten sich in ihren Ohren zu einem konstanten Rauschen verwoben.
Wohin mochte das Tier fliegen? Seine Panik war sichtbar abgeebbt, der Flügelschlag ruhig und gleichmäßig geworden, während sie in atemberaubendem Tempo dahinflogen – schneller noch als jeder Besen. Hatten sie das Meer schon hinter sich gelassen? Ginny wagte es nicht, nach unten zu schauen. Zumindest war sie froh, dass sie nun sah, welches Wesen sie durch die Lüfte trug. Sofern man darüber, dass man schon einmal jemanden sterben gesehen hatte, überhaupt froh sein konnte. Damals, auf dem Flug zur Mysteriumsabteilung des Ministeriums war das noch anders gewesen... Ein Schauder durchfuhr Ginny.
Was hatte Luna noch gesagt? Thestrale würden überall hin ihren Weg finden, man musste als Reiter nur daran denken, wohin man wollte? Doch wohin wollte sie überhaupt? Sie hatte keine Gelegenheit gehabt, sich mit Harry und Neville auszustauschen. Wie erging es den beiden nun? Tränen glitten Ginny über die Wangen und wurden einen Augenblick später schon vom Winde verweht. So froh sie über ihr Entkommen auch war, so sehr fraß sich nun wieder die Sorge um ihren Zukünftigen in ihr Herz. Und auch um Neville. Ohne die beiden wäre sie wohl nie aus Azkaban herausgekommen.
Hatte Harry nicht etwas gesagt von „wenn wir in Nevilles Gewächshaus in Sicherheit sind"? Kaum dachte Ginny daran, visualisierten sich die Gewächshäuser von Hogwarts in ihren Gedanken. Mit einem Mal spürte Ginny die Sonne direkt an ihrem Rücken – sie hatten die Richtung gewechselt. Würde der Thestral sie jetzt tatsächlich nach Hogwarts fliegen? Der Fahrtwind kämpfte mit den Böen, die ihnen nun entgegenprallten und ließ Ginnys rote Haare herumwirbeln wie ein brennendes Feuer, das nach Nahrung suchte. Aus den Augenwinkeln nahm sie ein Meer von Tannen unter sich wahr, dann nur noch ein vorbeigleitendes sanftes Grün, das von keinem einzigen Baum mehr unterbrochen wurde.
Nach einer Weile verringerten sie kontinuierlich die Geschwindigkeit und in der Ferne sah Ginny die glitzernde Wasseroberfläche eines Sees vor der dunkelgrünen Linie eines Waldes auftauchen. Vorsichtig richtete sie ihren Zauberstab ein wenig auf, aber wagte es dann doch nicht, ihren Arm zu lösen, um die benötigten Bewegungen mit der Zauberstabhand auszuführen. Schließlich flogen sie direkt über dem Wasser dahin und dann tauchte das imposante, weiße Schloss vor Ginnys Augen auf. Unvermittelt schoss Ginny eine Flut von Tränen in die Augen. Geliebtes Hogwarts.
Im Bruchteil einer Sekunde lenkte sie ihre Gedanken zu dem Thestral-Korral im Verbotenen Wald, den sie von ihren Unterrichtsstunden in Erinnerung hatte. Und dann flogen sie dicht über die Baumwipfel hinweg und landeten nach dem rasanten Flug unerwartet sanft auf einer Lichtung inmitten einer Herde aus Thestralen. Die Flügel des Thestrals senkten sich und das Tier gab er lautes Schnauben von sich.
„Danke, danke, danke", stammelte Ginny und strich mit der nun freien Hand ein paar Mal über den sehnigen Hals des magischen Wesens, bevor sie von seinem Rücken rutschte und auf wackeligen Beinen stehenblieb. Hastig zückte sie ihren Zauberstab und verwendete erneut einen Desillusionierungszauber.
Die Sonne stand tief und warf gedimmtes Licht auf die Koppel, während der Rest der Umgebung bereits in der beginnenden Düsterkeit versank, die den Bäumen ringsum ein unheilvolles Aussehen bescherte. Der Verbotene Wald hatte nichts von seiner Unheimlichkeit verloren. Mit allen Sinnen in Alarmbereitschaft reckte Ginny den ungewohnten langen Rock, kletterte vorsichtig über den Zaun der Koppel und folgte dem Pfad, der sich durch die Bäume wand. Würde sie gleich Hagrid begegnen? Hatte das neue Schuljahr überhaupt schon begonnen? In Azkaban hatte sie jegliches Gespür für Dauer und Tage verloren.
Der Weg kam Ginny länger vor, als sie ihn in Erinnerung hatte. Der lichtlose Wald schickte ihr Laute, die sie noch nie gehört hatte und die ihr eine Gänsehaut über den Rücken trieben. Aber die wachsende Düsterkeit war der Freund der Gesetzlosen. Sie seufzte. Wie schnell man doch von einer geschätzten Hexe zu Freiwild werden konnte. Hätten sie doch bloß damals gleich die Wahrheit gesagt.
Endlich kam Hagrids Hütte in ihr Blickfeld. Unweigerlich ließ der Anblick Ginny an Harry denken und sie schluckte. Mit Macht verdrängte sie die Bilder, die sich in ihren Kopf fraßen: Harry am Boden, umringt von Dementoren. Oder Harry wie leblos in einer Zelle liegen, gebrochen durch seine furchtbaren Erinnerungen. Sie musste einfach daran glauben, dass es ihm gelungen war, Azkaban wieder zu verlassen!
Ginny überprüfte noch einmal den Zauber, der sie, einem Chamäleon gleich, unsichtbar vor der Umgebung machte. Dann verließ sie den Schutz der Bäume und schritt über den baumfreien Hang zu Nevilles Gewächshäusern hinüber. Die Abendsonne hing groß und rot über Hogwarts Ländereien, die von keiner Menschenseele bevölkert wurden. Die Hitze war einer angenehmen Wärme gewichen.
Bei jedem unerwarteten Geräusch zuckte Ginny zusammen und warf einen hektischen Blick in die Umgebung. Doch sie gelangte unbehelligt vor die Gewächshäuser und probierte versuchsweise verschiedene Türen. Beim zweiten Mal hatte sie Erfolg. Die Tür glitt auf und ließ sie vorsichtig in eine schwüle Wärme treten, deren Luft durchtränkt war von einem schweren, süßen Duft. Forschend glitt ihr Blick die Scheiben entlang, bis sie eine Stelle fand, die von großblättrigen Pflanzen überwuchert war, die keinen Blick ins Innere des Gewächshauses zuließen. Es schien der sicherste Ort, um auf die Rückkehr von Harry und Neville zu warten.
Ginny ließ sich auf den Boden sinken, breitete den weiten Rock über ihren Beinen aus und presste die Finger so heftig um die Daumen, dass es schmerzte. Wie hatte es bloß soweit kommen können? Wohin waren die sorglosen Jahre verschwunden, die von Rechtsstaatlichkeit und Fairness gekennzeichnet gewesen waren? Wieso hatten sie sich damals nicht mehr darum gekümmert, dass ihnen diese Errungenschaften nach Voldemorts Vernichtung erhalten blieben?
Und dann sackte ihr Kopf immer tiefer auf die Brust, bis sie schließlich nichts anderes mehr wahrnahm als eine unendliche Müdigkeit in all ihren Gliedern. Und sich dann wie geisterhaft durch die Luft gleiten sah, durch ein undurchdringliches Nichts, das weder Gestern noch Morgen kannte. Aus der Ferne war das Schreien eines Babys zu hören und dann ihr Name, einmal, zweimal, dreimal...
Bis Ginny schließlich begriff, dass es kein Traum mehr war und sie hastig die Augen aufriss. Doch der Anblick, der sich ihr bot, war alles andere als bedrohlich und ließ ihren rasenden Puls schnell wieder sinken. Vor ihr auf dem Boden hockte kein anderer als Harry, ein erleichtertes Lächeln im Gesicht.
„Bei Merlin, du hast es geschafft", war alles, was Ginny herausbrachte, bevor jedes weitere Wort von Tränen überwältigt wurde. Eine Sekunde lang wirkte Harry fast hilflos angesichts von Ginnys ungewohnten Gefühlsausbruch, dann ließ er sich auf dem Boden nieder, legte vorsichtig einen Arm um seine Freundin und zog sie an sich. Und Ginny heulte, wie sie vor Azkaban noch nie geheult hatte, selbst nicht in den schlimmsten Momenten der Verzweiflung.
Das Glück, wieder mit Harry vereint zu sein, und die bodenlose Erleichterung darüber, dass er Azkaban unbeschadet verlassen hatte, führten zu einem Sturzbach, der Harrys Shirt in wenigen Minuten in ein nasses Stück Stoff verwandelte. Sie fühlte seine Hand sanft über ihren Rücken streicheln und vernahm sein leises, beruhigendes Murmeln, bedeutungslose Wörter, die ihr dennoch die Geborgenheit schenkten, die sie in den letzten Wochen schmerzlich hatte entbehren müssen.
Schließlich hob Ginny langsam wieder ihren Kopf und bemerkte Harrys auffällig an den Körper gepressten rechten Arm. „Der Thestral?"
Harry nickte knapp und verzog schmerzhaft das Gesicht, als er sich ein wenig aufrichtete und mit der linken Hand nach Ginnys griff. Die Erinnerung an den sich aufbäumenden Thestral stand Ginny lebhaft vor Augen und dann durchfuhr sie ein Schreck, bestürzt fragte sie: „Neville?"
Die Antwort beider Männer kam gleichzeitig:
„Steht hier."
„Hat mir das Leben gerettet."
Erleichtert fuhr Ginny Blick von Harry zu Neville hinüber, der nur eine wegwerfende Handbewegung machte und sich zu ihnen auf den Boden setzte. Harry zog bedeutungsvoll die Augenbrauen hoch.
„Aber sicher!", betonte er.
„Du hättest dein Leben nicht verloren", entgegnete Neville mit einem dünnen Lächeln und dem schwachen Versuch zu scherzen. Er stellte die Füße auf und umfasste seine Knie.
„Aber meine Seele. Was einem Tod gleichgekommen wäre", betonte Harry und schnaubte leise, bevor er Neville kopfschüttelnd ansah.
„Schon gut." Verlegen hob Neville seine Hände, die Handflächen nach vorne gerichtet. „Hätte jeder gemacht."
Ginnys Gesicht war von einem Zauberer zum anderen gewandert. „Kann mir mal jemand verraten, was eigentlich passiert ist?", wollte sie angespannt wissen und legte in unbewusster Geste die freie Hand auf ihren Bauch.
„Neville ist allein zurück zu der blauhaarigen Azkabanhexe, weil ich mich wegen meiner Schulter kaum bewegen konnte", berichtete Harry sachlich. „Ich bin unter dem Mantel sitzengeblieben. Der Schmerz hat mich fast wahnsinnig gemacht. Plötzlich war da diese immense Kälte und dann sind die Dementoren auf mich zugeglitten, so verdammt viele..."
Harry wandte den Kopf ab und starrte angestrengt auf eine der Pflanzen, die bis hoch zur Decke aufragte. Nach einem Räuspern fuhr er gepresst fort:
„Mein Kopf war absolut leer... bis auf...", er schluckte, setzte den Satz aber nicht fort. Der Griff um Ginnys Finger wurde ungemein fest, fast schmerzhaft.
„Dann breitete sich auf einmal ein silbriges Licht über dem ganzen Platz aus und trieb die Dementoren fort... So wie damals am See..." Er atmete lauthals aus und stieß dann hastig hervor: „Muss man echt nicht haben, diese Situation!"
Ginny biss die Zähne aufeinander. Selbst die Anwesenheit eines einzelnen Dementors war mehr als genug, wie sie nun unzählige Male hatte erfahren dürfen. Sie mochte sich gar nicht ausmalen, wie es sich anfühlen musste, wenn eine ganze Gruppe Dementoren einen ins Visier nahmen... Was hatte Harry sagen wollen und dann doch unterdrückt?
Ihr Freund sah sie nun wieder direkt an. „Hab mich gezwungen aufzustehen und bin so schnell es ging hin zum Ausgang. Da habe ich dann Neville in der Schleuse gesehen. Bin durchs Tor geschlüpft, bevor es sich schloss. Und dann ungesehen mit in die magische Kabine, wo Neville extralang die Luke aufgehalten hatte."
Der Blick, den er Neville daraufhin zuwarf, war erneut voller Dankbarkeit. Mit einer raschen Bewegung beugte sich Ginny zu ihrem früheren Mitschüler hinüber und umarmte ihn so fest, als würde sie ihn nie mehr loslassen wollen. Worte waren unnötig, um zu vermitteln, was sie fühlte. Schließlich rutschte sie zurück und wisperte, abwechselnd beide Magier ansehend:
„Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Ohne euch..."
Sie war außerstande, ihren Satz zu beenden. Ein erneutes Mal spürte sie die Tränen in ihre Augen schießen. Musste an den Hormonen liegen.
„Jetzt wird uns nichts mehr trennen, Gin", sagte Harry leise, aber nachdrücklich und strich mit dem Daumen ihre Tränen fort. „Ich werde nicht zulassen, dass dir oder dem Baby etwas passiert!"
Aus den Augenwinkeln bemerkte Ginny, wie Neville aufstand und aus ihrem Sichtfeld verschwand. Wunderte sich kurz, was er vorhatte. Doch dann gab es für sie nur noch die leuchtend grünen Augen hinter den Brillengläsern und die zerzausten schwarzen Haare über der Stirn. Und die ganze Liebe, die sie füreinander empfanden...
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