Kapitel 46
Das Warten zerrte an Ginnys Nerven. Es passierte absolut nichts. Trotz der Versicherung ihrer Mutter, dass sie sich um einen Advokaten kümmern würden, vergingen die Tage, ohne dass Ginny jemand anderen als die Wärter zu Gesicht bekam, die jeden Tag morgens und abends etwas zu essen brachten. Diese wünschten knapp einen Guten Appetit, schwiegen auf Ginnys Fragen hin und verschwanden aus ihrem Gesichtsfeld, sobald sich die Gitterstäbe wieder in eine massive Steinwand verwandelt hatten.
Das kurze Hochgefühl der Hoffnung, dass der Besuch ihrer Mutter hervorgerufen hatte, war längst wieder geschwunden. Resignation färbte die unzähligen langen Stunden, in denen Ginny auf nichts anderes als Stein oder Meer starren konnte. Dank der weiterhin ausbleibenden Besuche der Dementoren blieb sie zwar von Panik und Angst verschont, doch allmählich hatte sich eine Aura von Verzweiflung auf sie gelegt und nahm Stück um Stück den ihr normalerweise innewohnenden Optimismus.
Längst erfüllte die Schwangerschaft Ginny nicht mehr mit Freude. Stattdessen konnte sie sich die Zukunft ihres Babys nur noch in düsteren Farben ausmalen. Sah es direkt nach der Geburt adoptiert von irgendwelche fremden Leuten und sich selbst zurückgestoßen in die tiefen, unterirdischen Gewölbe des Gefängnisses. Auch um Harry verspürte sie erneut Angst. Wenn er auch noch vor einigen Tagen in Freiheit gewesen war, so konnte sich das inzwischen schon längst wieder geändert haben. Womöglich folterten ihn gerade die Dämonen seiner Erinnerung...
Ginny unterdrückte ein Schluchzen, obgleich sie sich fast sicher war, dass man den Beobachtungszauber nach dem Besuch ihrer Mutter wieder aufgehoben hatte. Zumindest konnte sie schon kurz danach nicht mehr dessen Schwingen spüren – eine Art Vibration der Luft, die sie in der Aurorenausbildung gelernt hatte wahrzunehmen. Um die schrecklichen Bilder ihrer Vorstellung aus dem Kopf zu kriegen, stand sie auf und ging zum Fenster hinüber.
Lange starrte sie auf das Wasser, auf die Gleichmäßigkeit der Wellen, die etwas Hypnotisches an sich hatten. Aus den Augenwinkeln meinte sie plötzlich, eine Bewegung in der Luft wahrgenommen zu haben, doch als sie genauer hinschaute, war nichts mehr davon zu sehen. Mit einem Seufzer drehte Ginny sich um und nahm ein paar Kräftigungsübungen auf, zu denen sie sich täglich zwang.
Obwohl den voller Konzentration ausgeführten Bewegungsabläufen ihre Schwangerschaft nicht im Wege stand, ließ die Motivation Tag für Tag nach, denn mehr und mehr entzog sich Ginny die Sinnhaftigkeit ihres Tuns. Trotzdem fokussierte sie sich nun auf die Anspannung ihrer Muskeln in verschiedenen Verteidigungshaltungen und erlaubte sich ein klein wenig Freude darüber, dass ihr Körper noch keinen Einschränkungen unterworfen zu sein schien. Wie überhaupt ihre Schwangerschaft zum Glück außergewöhnlich frei von den Belastungen war, von denen sie andere Hexen früher reden gehört hatte. Das war hoffentlich ein gutes Zeichen...
Mit einem Mal erklang das bekannte schabende Geräusch der sich verändernden Steinwand. Es war mitten am Tage und unwillkürlich durchfuhr Ginny ein Funken Hoffnung. Wie beim Besuch ihrer Mutter veränderte sich nicht nur die kleine Luke, sondern die gesamte Wand verschwand und machte den üblichen Gitterstäben Platz. Doch dieses Mal erschienen weder Mutter und Vater noch ein Advokat, sondern eine junge Frau im rostroten Umhang der Azkaban-Wärter, die von einer silbrigen Möwe umschwirrt wurde. Vielleicht war sie gekommen, um die Ankunft eines Besuchers anzukündigen... Dann weiteten sich Ginnys Augen. Sie kannte diese Hexe...
„Jill?", entfuhr es ihr und überrascht blickte sie auf eine frühere Mitschülerin aus dem Hause Slytherin, mit der sie einst gemeinsam Zaubertränke gehabt hatte.
„Ganz recht", bestätigte diese, während ein fast amüsiert wirkendes Lächeln ihre Gesichtszüge streifte. „Ihres Zeichens Heilerin im St. Mungos."
Ginnys Blick flog von dem streng geflochtenen Zopf, der schwer auf Jills Rücken ruhte, zur der schmächtigen Gestalt der Hexe, die sich in den letzten Jahren kaum verändert hatte. Währenddessen erläuterte Jill ihr in knappem Tonfall, dass sie einmal im Monat bestimmten Insassen von Azkaban einen Besuch abstattete, um sie einer Untersuchung zu unterziehen. Ginny hob die Brauen angesichts dieser Worte, die wenig Beruhigendes vermittelten, aber ihre vorige Mutlosigkeit hatte sich, einem Nebelschleier gleich, unvermittelt geliftet.
Einen Wimpernschlag später befand sich die Heilerin dann mit erhobenem Zauberstab mitten in Ginnys Zelle, obwohl sich die Gitterstäbe keinen Jota bewegt hatten. Ohne darüber nachzudenken, was sie tat, warf sich Ginny der Hexe mit ihrem Körper entgegen und hatte damit das Überraschungsmoment auf ihrer Seite. Der Schwung ihrer Bewegung riss beide zu Boden. Ein dumpfer Schmerz schoss Ginny in die Hüfte, den sie jedoch ignorierte. Jill entwich ein kurzer Aufschrei, aber es fiel Ginny nicht schwer, der im Nahkampf unerfahrenen Hexe rasch die Hand auf den Mund zu pressen.
Sie hatte gelernt, mit Gegnern umzugehen, die sich ihr in den Weg stellten und die jahrelang antrainierten Verhaltensweisen stellten sich damit ganz automatisch ein. Mit einem Knie drückte Ginny das Handgelenk ihrer Gegnerin auf den Boden und entzog ihr dann mit einem Ruck den Zauberstab. Nur einen Moment später zischte sie lauthals „Stupor!" Jills Kopf fiel abrupt zur Seite und dann regte sich ihr Körper nicht mehr. Keuchend schob sich Ginny auf die Knie und versah die Heilerin dann mit einem weiteren Schockzauber.
Doch schon kurze Zeit später verwandelte sich Ginnys adrenalingetriebene Euphorie zunehmend in das inzwischen bekannte Gefühl von Resignation und Mutlosigkeit. Die Hand, die den Zauberstab hielt, sank nach unten und ihre kämpferische Haltung fiel in sich zusammen. Es hatte doch ohnehin keinen Zweck. Niemals würde ihr eine Flucht aus dieser Festung gelingen...
Ginnys matter Blick blieb auf der leblosen Gestalt auf dem Steinboden liegen, deren Mantel im plötzlich durch das Fenster hereinfallenden Sonnenlicht scharlachrot aufleuchtete. Gleichzeitig überzog Jills blonde Haare ein goldener Schimmer. Rot und Gold. Gryffindor. Du musst... Was war es bloß, was sie tun musste? Es war wichtig, so unglaublich wichtig...
Ratlos starrte sie auf den fremden Zauberstab in ihrer Hand. Du darfst nicht aufgeben, Ginny, dröhnte die Stimme ihrer Mutter in ihrem Kopf und ein Runzeln überzog die Stirn der jungen Hexe. Aber war nicht alles ohnehin zwecklos? Von draußen drang ein Möwenschrei an Ginnys Ohr und ließ sie sich erinnern, dass sie kurz zuvor noch eine Möwe gesehen hatte... Bei Merlin! Jäh riss Ginny Hand und Kopf hoch und versuchte sich auf ihre Erinnerung an Harrys Antrag zu fokussieren...
„Expecto patronum!"
Die Luft um sie herum bekam einen silbrigen Glanz und materialisierte sich schließlich zu einem durchscheinenden Pferd, das sanft hin und her schwang, wie eine Fahne in einer leichten Brise. Ginny rief sich die Freude ins Gedächtnis, die sie bei dem Gedanken empfunden hatte, wie sie Harry mit der Neuigkeit ihrer Schwangerschaft überraschen würde. Unversehens nahm das silberne Pferd Kontur an, blickte mit seinen großen Augen zu Ginny hin und schüttelte auffordernd Kopf und Mähne.
Und mit dem abgewehrten Einfluss der Dementoren kehrte Ginnys Lebenswille zurück. Hastig berührte sie mit der Hand die Gitterstäbe, doch diese rührten sich nicht. Ginny spürte ihr Herz gegen die Rippen schlagen. Wie war Jill hindurchgekommen? Versuchsweise tippte sie die dumpfen Metallstangen mit deren Zauberstab an. Einen Augenblick später befand sie sich im Gang vor der Zelle. Erleichtert stieß Ginny die die angehaltene Luft aus.
Dann runzelte sie die Stirn. War es dumm, was sie getan hatte? Mit dem Angriff auf eine Heilerin hatte sie sich wohl jede Chance auf eine Freilassung genommen, die irgendwelche Advokaten versuchen könnten für sie zu erreichen. Doch was brachte es schon, Vertrauen in die Rechtskundigen zu setzen? Pennington wollte sie eingekerkert sehen, so viel war klar. Er würde niemals zulassen, dass jemand für sie eine Freilassung vor Gericht erstritt. Die zwanghafte Verabreichung des Veritaserums vor ihrer Gerichtsverhandlung hatte nur zu gut bewiesen, dass Gesetzestreue in ihrem Land nichts mehr galt. Weder für sie noch vermutlich für irgendjemand anderen.
Konzentriert sammelte Ginny daher ihre Gedanken und vergegenwärtigte sich den Lagenplan der Festung Azkaban, den sie einst auswendig hatte lernen müssen. Nie war sie über eine Hausarbeit glücklicher gewesen als jetzt. Sie wusste, dass sie sich im hoch über dem Meeresspiegel liegenden Teil des Gefängnisses befand und irgendwie nach unten gelangen musste, zum zentralen Platz innerhalb der Festung, der sich unter freiem Himmel befand. Nur von diesem aus gab es einen schmalen Zugang zum Wasser, an dem sich die magische Transportbahn in die Freiheit befand.
Ginny hatte keine Ahnung, wie sie an den Wachen dort vorbeikommen sollte. Sie konnte nicht gleichzeitig einen Patronus aktiv halten und einen Desillusionierungszauber anwenden. Hatte keine Ahnung, wie sie überhaupt die magische Bahn aktivieren sollte. Aber darüber würde sie nachdenken, wenn es ihr erst einmal gelungen war, bis dorthin zu kommen. Zunächst musste sie unbehelligt den Weg nach unten finden. Das Glück ist mit den Tüchtigen, dachte sie und warf sich mit einem Ruck die Haare über die Schultern.
Von jetzt an gab es kein Zurück mehr!
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Was meint ihr, war dies die richtige Entscheidung? Oder hätte sich Ginny lieber zurückhalten sollen?
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