Kapitel 34
Fast wäre Amber zusammengezuckt, als sie Harrys Hand auf ihrer Schulter spürte, denn die momentane Unaufmerksamkeit hatte ihr Gespür für die sie umgebenden Schwingungen überlagert.
Ihre Vergangenheit belastet sie mehr als sie zugibt, dachte Harry mitfühlend und verzichtete weise auf jeglichen Kommentar zu ihrem unerwarteten Verhalten wenige Minuten zuvor. Wahrscheinlich gibt es mehr als das, was sie mir bislang erzählt hat.
Amber unterdrückte ihren Impuls, Harrys unwillkommene Geste aggressiv abzuschütteln und gab keine Anzeichen, dass sie seine Berührung zu schätzen wusste. Sie konzentrierte sich allein darauf, ihren Atem und ihre Reaktionen zu kontrollieren und nach einer gefühlten Ewigkeit nahm Harry seine Hand wieder fort und sie hörte die sich langsam entfernenden Schritte. Harrys Gedanken, die eine Entschuldigung zu finden versuchten, machten deutlich, dass ihre abwehrende Haltung ihn getroffen hatte: Okay. Das war deutlich. Anscheinend vertraut sie mir nicht genug...
Glaub mir, durchfuhr es Amber spöttisch, du willst gar nicht, dass ich dir meine Gedanken anvertraue...
Ein leises Geräusch verkündete, dass Harry sich wieder auf dem Sofa niedergelassen hatte. Papier raschelte und die Anspannung in Amber legte sich. Sie atmete leise aus und drehte sich um. Harry hatte sich hinter dem ausgebreiteten Tagespropheten verschanzt und in demonstrativer Lässigkeit seine Füße auf dem Wohnzimmertisch abgelegt. Doch seine Gedanken waren weit davon entfernt, sich auf den Text der Zeitung zu konzentrieren, Verwirrung und Kränkung gingen von ihnen aus.
Mit drei raschen Schritten war Amber beim Sofa und ließ sich auf den ebenfalls lederbezogenen Seitenlehnen nieder, so dass sie nun Harrys Gesicht im Profil sehen konnte. Seine Mundwinkel waren nach unten gezogen, das Kinn energisch nach vorne gereckt und er gab mit keiner körperlichen Reaktion zu erkennen, dass er Amber wahrgenommen hatte.
„Ich weiß, dass du nicht liest, Harry", stellte sie neutral fest und er war ehrlich genug, die Illusion nicht weiter aufrechtzuhalten.
„Stimmt", gab er zu, ohne den Blick von dem Artikel zu nehmen, auf den seine Augen gerichtet waren.
„Es tut mir leid", entschuldigte sich Amber leise mit so viel Gefühl, wie sie aufzubringen vermochte, und berührte sachte seinen Arm. „Ich war gerade in einer anderen Welt." Sie seufzte. „Das Wissen, warum das passiert, macht es dennoch nicht einfacher, sich angemessen zu verhalten."
Harry wandte ihr den Kopf zu, durch ihre Entschuldigung größtenteils beschwichtigt und schlug in dem Versuch, nicht anmaßend zu klingen, zögernd vor:
„Vielleicht solltest du darüber reden..." Er faltete die Zeitung zusammen und legte sie neben sich.
„Vielleicht...", gab Amber mit einer Vagheit zurück, die zwar die Möglichkeit in Betracht zog, aber nichts versprach. Sie lehnte sich sanft an ihn und starrte dann auf einen kleinen Artikel, dessen Überschrift ihr von der Titelseite ins Auge sprang:
Ungeklärte Muggeltote beschäftigen Ministerium.
„Offenbar sind in England und vor allem im Großraum London auffällig viele Morde begangen worden", erläuterte Harry, der Ambers Interesse bemerkt hatte. Er nahm die Zeitung wieder in die Hand und las einige Zeilen vor:
„Die Anzahl der Opfer nähert sich bereits der Zahl Fünfzig, aber die Ermittler der Muggel tappen weiterhin im Dunkeln. Anscheinend gibt es keine Zusammenhänge zwischen den Opfern. Der Premierminister Englands gerät zunehmend unter Druck und wird inzwischen von einem Großteil der englischen Muggelbevölkerung für die mangelhafte Aufklärungsrate seiner Strafverfolgungsbehörde Scotland Yard verantwortlich gemacht. Eine unbenannte Quelle im Zaubereiministerium teilt jedoch mit, dass noch nicht um Amtshilfe ersucht wurde."
Harry hob den Kopf, runzelte die Stirn und verdeutlichte nur Sekunden später, woran er dachte.
„Heftig, oder? Und es hört sich irgendwie so an, als ob der Täter vielleicht in unserer Welt zu suchen ist. Die Anzahl, die Verbreitung in ganz England, die fehlenden Spuren..."
Eigentlich klingt es fatal nach dem, was wir hier schon einmal erlebt haben...
„Findest du nicht?", wollte Harry in ihr Schweigen hinein wissen, ohne auszuführen, was ihm durch den Kopf gegangen war. Doch Amber zuckte nur mit den Schultern und zeigte sich wenig interessiert an dem Zeitungsbericht.
„Kann sein."
Harry starrte sie an und stellte seine Füße zurück auf den Boden. „Da sind Dutzende Menschen umgebracht worden! Interessiert dich das nicht?"
Amber rutschte ein wenig zur Seite und beschloss, sich nicht zu weit von der Wahrheit zu entfernen. Leise gab sie zurück:
„Ich bin zwar in einer muggelfreundlichen Gesellschaft groß geworden, aber meine Schule war ... sagen wir mal ... mehr als konservativ."
Sie wich seinem kritischen Blick nicht aus, sondern fuhr durch die Überzeugung, mit seiner Reaktion umgehen zu können, selbstsicher fort:
„Ganz ehrlich, Harry – ich kann jetzt nicht sagen, dass es mich groß interessiert, was in der Muggelwelt passiert. Die leben ihr Leben und wir unseres."
Nicht ihr Ernst! Außerdem könnte es mehr mit unserer Welt zu tun haben als man im Moment denkt..., fuhr es Harry durch den Kopf, doch bevor er seine Gedanken in Worte fassen konnte, gab Amber dem Gespräch eine andere Richtung.
„Genau genommen verwundert es mich, dass dich diese toten Muggel kümmern. Nach dem, wie dich deine Muggel-Verwandten behandelt haben."
Sie bezog sich auf die Schikanen, die Harry bis zu seinem elften Geburtstag hatte erdulden müssen, und schüttelte verständnislos den Kopf. „Wie können dir nach so einer Erfahrung bloß Muggel noch leidtun?"
Ohne zu zögern gab Harry zurück:
„Die Dursleys sind wohl kaum beispielhaft! Hermines Eltern zum Beispiel sind ja völlig anders!"
„Und was war mit der Schule?", wandte Amber leicht spöttisch ein.
Harry presste die Lippen aufeinander; es war deutlich, dass er nicht viel Wert darauf legte, an seine Grundschulzeit erinnert zu werden.
„Du weißt, dass mein Cousin und seine Gang die anderen Schüler eingeschüchtert haben", erwiderte er tonlos.
„Und die Lehrer? Und die Nachbarn in dieser gutsituierten Wohngegend? Die hat Dudley ja wohl kaum eingeschüchtert", blieb Amber unerbittlich.
Harry wich ihrem Blick aus und schwieg. Es war unwahrscheinlich, dass niemand in der Schule etwas von Dudleys Peinigungen mitbekommen hatte und bis heute wusste er nicht, wieso...War es sein Anderssein, das möglicherweise den erwachsenen Muggeln nicht verborgen geblieben war? Doch bevor sich der Schmerz in ihm auszubreiten begann, wechselte Amber zu seiner Erleichterung das Thema.
„Oder ist es, weil es dich an die Zeit von Voldemort erinnert?"
Sie hätte über Harrys Vermutung schweigend hinweggehen können, sah aber mehr Vernunft darin, es ans Licht zu holen und dem Gedanken seine Bedeutung zu nehmen.
Forschend ruhte Ambers Blick auf dem Zauberer an ihrer Seite, der mit einem sichtbaren Ruck seine Schultern straffte. Auf dem vertrauten Terrain von Scharfsinn und Ahnung gewann Harry rasch seine Gelassenheit zurück und warf Amber nun einen bedeutungsvollen Blick zu.
„Es ist jedenfalls nicht von der Hand zu weisen, dass es eine auffällig hohe Zahl von Fällen innerhalb kurzer Zeit ist. Und ja, sicher weckt das Erinnerungen... Du hast es nicht erlebt."
Amber nahm ihm die Zeitung ab und warf selbst einen Blick auf den Artikel, bevor sie entschlossen kommentierte:
„Es ergibt keinen Sinn, dass ein Magier einzelne Muggel herauspickt. Waren es nicht damals mehr terrorähnliche Angriffe auf Brücken und so, mit jeweils hohen Opferzahlen? Das klänge mehr nach Muggelhass."
Amber sprach mit großer Überzeugungskraft in der Stimme und genau der Dosierung von Beeinflussung, die nötig war, um Harry ins Grübeln geraten zu lassen. Ohne ihm weitere Zeit zum Nachdenken zu schenken, überraschte Amber ihn mit ihrer vorsichtig geäußerten nächsten Frage:
„Wie war es, Voldemort im letzten Kampf gegenüberzustehen?"
Behutsam legte sie ihre Hand auf sein Bein.
„Das hast du noch nie gefragt, Amber", stellte Harry fest, mit dem Versuch, ein wenig Zeit zu gewinnen. Angelegentlich sah er auf den Tisch, auf dem sich die Unterlagen befanden, die sie studiert hatte.
Amber hatte sich bewusst in den letzten Wochen in Geduld gefasst, um sich von den sensationslüsternen und neugierigen Magiern zu unterscheiden, die damals jegliche Unterhaltungen mit Harry nur auf ein Thema reduziert hatten. Doch natürlich brannte sie darauf, außer der Sache mit den Horkruxen mehr darüber zu erfahren, wie es Harry schließlich gelungen war, ihren Vater zu töten.
Sie schwieg nun geduldig, aber ihr Blick harrte mit faszinierter Spannung seiner Antwort, was Harry hätte stutzen lassen, wenn er es bemerkt hätte. Er war jedoch in Erinnerungen versunken, seine Augen hatten ihren Fokus verloren und starrten auf die Pergamentrollen, ohne sie richtig wahrzunehmen. Erinnerungsfetzen überschwemmten sein Gehirn: der sprechende Hut in Flammen, das Schwert Gryffindors in Nevilles Hand, der abgetrennte Kopf von Voldemorts Schlange, Ginny im Kampf gegen Bellatrix...
„Alles, woran ich dachte, war die Prophezeiung, als ich ihm schließlich gegenüberstand", begann Harry und seine Stimme schien von weither zu kommen. „Ich weiß nicht mehr, was ich gesagt habe. Oder gefühlt habe. Ich wusste nur, dass es allein auf uns beide hinauslaufen würde."
Harrys Erinnerungen übernahmen, als seine Worte abbrachen. Von Voldemorts glühenden Augen, die auf ihn gerichtet waren, während er Harrys Worten lauschte, ohne den Angriff zu beginnen. Von dem Gefühl, das Harry gespürt hatte, als er begriff, dass er Recht gehabt hatte mit seiner Vermutung. Und schließlich der Körper Voldemorts auf dem Boden liegend, bleich und eingefallen und leblos.
Die ungewollte Faszination des Nacherlebens ließ Ambers Herz schneller schlagen und weder sie noch Harry merkten, dass sich ihre freie Hand voller Aufregung in das Sofa gekrallt hatte. Schließlich fing sie sich als Erste wieder, stieß die unwillkürlich angehaltene Luft aus und lockerte unauffällig ihre Anspannung.
Harry zuckte mit dem Kopf, wie um das Erlebnis zu vertreiben, und drehte sich zu ihr um. „Ich habe eigentlich nur Bilder im Kopf", gab er zu und fuhr sich mit der Hand durch die Haare, so dass sie sich noch unordentlicher als zuvor präsentierten.
„Und du ... du weißt auch nichts mehr von den letzten Minuten? Wie es war, ihn zu töten?", konnte sich Amber ihre erregte Frage dann doch nicht verkneifen, während sie sich bemühte, die Intensität ihres Blickes zu dämpfen. Ihre Worte klangen auffällig unprofessionell, doch zum Glück fiel es Harry nicht auf. Er schüttelte langsam den Kopf.
„Hab ich nicht", gestand er.
„Was hast du nicht?", fragte Amber überrascht nach, überzeugt davon, sich verhört zu haben.
Harrys Gesicht wandte sich ihr zu, eine Gelassenheit im Blick, die mehr als alles andere deutlich machte, dass er die Wahrheit sprach.
„Die Berichte über das Duell stimmen nicht. Jedenfalls nicht im eigentlichen Wortsinn. Ich habe noch nie getötet, sondern immer nur Expelliamus angewandt. Auch hier. Aber sein eigener Todesfluch ist auf ihn zurückgeprallt." Er schwieg zwei Sekunden lang und fuhr dann in abschließendem Tonfall fort:
„Ich habe Voldemort daher nicht getötet."
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Damit hatte Amber nicht gerechnet. Glaubt ihr, dass diese Erkenntnis etwas an ihren Plänen ändern wird?
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