Kapitel 25
Ginny war zu schockiert, um mehr zu tun als stumm das Fernglas in ihren Schoß fallen zu lassen und ihre Augen auf den Himmel vor ihr zu richten.
Natürlich war sie es gewesen, die gegangen war, aber das hatte doch nicht geheißen... Wie konnte es sein, dass er jemand anderen kennenlernte und just daraufhin plötzlich wieder bereit war, ein Quidditchspiel zu besuchen? Wohingegen es ihr nie gelungen war, ihn dazu zu motivieren. Was hatte sie falsch gemacht? Oder war sie womöglich schuld an seiner Melancholie gewesen? Die Gedanken schwirrten durch Ginnys Kopf, ohne dass sie in der Lage war, ihnen Einhalt zu gebieten oder sie zu hinterfragen.
Sie schluckte und lockerte den Schal, aber das Gefühl, dass ihr die Kehle zu eng wurde, wollte nicht weichen. Mühsam zwang Ginny ihrem Atem einen langsameren Rhythmus auf. Das war jetzt nicht der richtige Ort, um über ihre Gefühle nachzudenken. Sie war hier, um ein Quidditchspiel zu genießen. Und, bei Merlin, genau das würde sie jetzt auch tun!
Mit einem Lächeln, das außerstande war, ihre Augen zu erreichen, wandte sie sich Ron zu, doch dieser war längst aufgestanden, um sich bemerkbar zu machen. Fröhlich wedelte er mit seinem Arm, um Harrys Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, und es fehlte nicht viel und er hätte dessen Namen gerufen. Einsicht in die Tatsache, dass Harry vermutlich wenig Interesse daran hatte, seine Anwesenheit hier im Stadion an die große Glocke zu hängen, ließ Ron jedoch gerade noch innehalten.
„Ron, nicht!", entfuhr es Ginny hastig und mit überraschender Kraft zog sie seinen Arm hinunter, doch es war zu spät, Harry hatte seinen Freund bereits entdeckt.
Das kommt davon, wenn man allen vorspielt, man sei über die Beziehung hinweg, gestand sich Ginny bitter ein und wappnete sich innerlich davor, ihrem Ex-Freund gleich gegenüber treten zu müssen.
„Meinst du nicht, es ist zu spät, um noch vor dem Spiel entspannt miteinander zu plaudern?", versuchte sie Ron seine Idee auszureden, aber in völliger Ignoranz von Ginnys Verfassung verwies Ron nur lachend darauf, dass es noch eine Stunde bis zum Beginn des Spieles war.
Resigniert schloss Ginny einen Moment lang die Augen und nahm mehrere tiefe Atemzüge, bis sie merkte, dass das angenehme Gefühl von Entspannung von ihr Besitz ergriff. Die Mechanismen, die sie in der Academy gelernt hatte, um sich in jeder Lage in einen Zustand der Ruhe versetzen zu können, kamen ihr nun auch jetzt sehr gelegen.
Wenige Minuten später hatten sich Harry und seine Begleitung soweit genähert, dass Ginny erkennen konnte, wie schmal im Gesicht Harry geworden war, seit sie sich vor etwa einem Jahr das letzte Mal gesehen hatten. Er war immer schon jemand gewesen, der mit der Menge an Essen, die er verspeiste, überraschen konnte, weil man ihm nicht ansah, wo er es ließ. Doch es war bisher nie so zu Tage getreten wie im Augenblick.
Nichtdestotrotz vermittelten seine Augen das bekannte vergnügte Funkeln früherer Tage und ein unverkennbares Gefühl von Eifersucht auf die Hexe neben ihm durchfuhr Ginny, die es anscheinend geschafft hatte, ihm diese Lebensfreude zurückzugeben.
„Harry!" Ron war aufgestanden und begrüßte ihn mit dem zwischen ihnen üblichen herzhaften Schulterklopfen, das Harry ebenso erfreut mit einem Lächeln erwiderte. Dann fielen Harrys Augen auf Ginny und eine leichte Verlegenheit breitete sich zwischen ihnen aus.
„Hallo Ginny", sagte er leise.
Allein seine vertraute Stimme zu hören, einfühlsam und zugewandt, als hätte es die vergangenen trostlosen Jahre nicht gegeben, versetzte Ginny einen Stich und sie bemühte sich, nicht zu blinzeln, damit die plötzlich feucht gewordenen Augen nicht verrieten, was in ihr vorging. In dem Wissen, dass sie im Moment nur ein Krächzen würde herausbringen können, nickte sie Harry dann lediglich beherrscht zu.
Schließlich spürte Ginny die Augen der fremden Hexe auf sich ruhen und von einem inneren Bedürfnis getrieben erhob sie sich von ihrem Sitz und starrte unverhohlen zurück, wobei die Heftigkeit ihrer negativen Gefühle Ginny selbst überraschte. Den Bruchteil einer Sekunde später ließ das einnehmende Lächeln auf dem Gesicht der jungen Hexe fast die Kühle vergessen, die Ginny gerade noch wahrgenommen zu haben glaubte. Mit überraschend sympathischer Stimme stellte sie sich dann mit leichtem amerikanischen Akzent als Amber vor.
Doch in Ambers taxierender Betrachtung vorher war etwas gewesen, das Ginny davor warnte, ihr Vertrauen zu schenken, auch unabhängig von der Tatsache, dass sie hier mit Harry aufgetaucht war. Oder bildete sie sich das nur ein, weil sie es Amber übel nahm, dass diese etwas erreicht hatte, was ihr selbst nicht gelungen war? Warum hatte sie bloß so früh aufgegeben...?
„Meine Schwester Ginny", hörte sie Ron lachend sagen. „Normalerweise ist sie nicht so schweigsam."
Frech grinste Ron sie an, offenbar bestrebt, sie aus ihrer Reserve zu locken.
„Ginevra Weasley", betonte Ginny jedoch lediglich kühl ihren korrekten Vornamen und ließ Amber nicht aus den Augen. Aus den Augenwinkeln bekam sie jedoch mit, wie Ron und Harry einen Blick miteinander wechselten, wobei Letzterer überrascht die Augenbrauen hob. Harry würde noch wissen, wie sehr sie ihren wahren Namen hasste.
Amber jedoch schien Ginnys Reaktion nichts auszumachen, mehr noch, es schien sie zu amüsieren.
„Nett, dich kennenzulernen, Ginevra", erwiderte sie mit einem Schmunzeln, das sich nicht nur auf ihrem Gesicht widerspiegelte, sondern auch in ihrem Tonfall zu hören war.
Ginny hatte das Gefühl, explodieren zu müssen, die mühsam erlangte Ruhe war verschwunden. Sie hätte viel dafür gegeben, sich mit Amber an einem weniger überlaufenen Ort zu befinden, der ihnen ein Duell ermöglicht hätte. Wenngleich nicht mit Zauberstäben – denn bei Ambers offenkundig freundlichem Verhalten wäre das absolut übertrieben gewesen – dann zumindest mit Worten.
Ginny konnte sich nicht helfen, Amber hatte etwas, das sie als ungemein bedrohlich wahrnahm. Hätte sie nicht ehrlicherweise gewusst, dass ihr die Gefühle, die sie noch für Harry empfand, die Objektivität trübten, dann hätte sie geglaubt, die Empfindungen, die Amber in ihr auslöste, entsprächen dem, was sie als eine Warnung erkannte. Eine Warnung oder Intuition, die sie eigentlich gelernt hatte nicht zu ignorieren.
Allerdings schien sie die einzige zu sein, die Amber gegenüber Vorbehalte empfand. Während Ron Amber mit einer Mischung aus Wohlwollen und Anerkennung betrachtete, sah Harry sie voller Zuneigung an. Keiner stolzen seht-wie-glücklich-ich-bin-Zuneigung, sondern eher einer stillen, fast vorsichtigen Zuneigung, wie sie entsteht, wenn man einfach die Anwesenheit eines Menschen genießt, der einem wichtig geworden ist.
Statt eine besonnene Neutralität an den Tag zu legen, gab Ginny ihren Emotionen Raum und in der Direktheit, die ihrem Wesen eigen war, gab sie harsch zurück:
„Nicht meinerseits."
„Ginny!", entfuhr es Ron. Er kam mit seiner Reaktion Harry zuvor, der daraufhin für sich behielt, was er hatte sagen wollen. Ruppig fasste Ron sie am Arm und wisperte in ihr Ohr: „Spinnst du jetzt?!"
Noch bevor Ginny darauf reagieren konnte, erwiderte Amber mit einer Stimme, die lediglich Verwunderung preisgab und trotz Ginnys Unhöflichkeit weiterhin freundlich blieb:
„Habe ich dir etwas getan?"
In Ambers Augen glomm etwas, das Ginny zu warnen schien, sich nicht mit ihr anzulegen. Etwas, das ihre vorgebliche Liebenswürdigkeit der Lüge überführte. Doch obwohl Ginny dabei ein leichter Schauer über den Rücken lief, bereute sie ihre Äußerung in keinster Weise, war im Gegenteil fast froh darüber, dass die Fronten zwischen ihnen geklärt waren. Sie begegnete daher Ambers drohendem Blick mit einem gewissen Trotz und unbeirrter Entschlossenheit, ohne auf die ihr gestellte Frage einzugehen.
„Anscheinend habe ich bei deiner Schwester einen schlechten Tag erwischt, Ron."
Amber wandte sich ab und ließ ein belustigtes Lachen ertönen, als kümmerte Ginnys Verhalten sie nicht im Geringsten. Ron hatte für Ginny nur ein Kopfschütteln übrig.
„Lass es gut sein, Ginny", kommentierte Harry knapp und für einen kurzen Moment ruhten seine Augen auf ihr, ruhig und verständnisvoll, wie sie es früher getan hatten, wenn Ginnys Temperament mit ihr durchging.
„Ich glaube, ich komme noch ein Weilchen mit euch runter", beschied Ron schließlich, während sich Amber wie beiläufig dicht an Harry schmiegte und ihre Hand in besitzergreifender Weise auf seiner Hüfte ruhen ließ. Das Lächeln, das sie Ginny dabei zuwarf, verhehlte nicht die provokative Absicht, doch bekamen weder Ron noch Harry etwas davon mit. Frustriert biss Ginny die Zähne zusammen. Sie hatte jedes Recht verwirkt, zornig zu sein, es war ihre eigene Schuld, dass sie sich jetzt in dieser Situation wiederfand.
Mit einem „Bis gleich", wandte sich Ron entschlossen der Treppe zu und wich zwei entgegenkommenden Magiern aus, denn mittlerweile hatten sich auch die Reihen hier oben zu füllen begonnen.
„Wir reden noch mal, okay?", murmelte Harry, bevor er seinen Blick abwandte und einen Punkt irgendwo hinter ihrer Schulter anvisierte.
„Brauchen wir nicht", presste Ginny hervor und sah zu Amber hinüber, deren Augen sie so intensiv anstarrten, als könne die amerikanische Hexe direkt in ihre Seele gucken. Sie ließen keinen Zweifel daran, dass auch Amber fern davon war, Ginny zu mögen und sie Ginny ihr impulsives unhöfliches Verhalten übel nahm. Doch in der tiefen Überzeugung, Amber nie wiedersehen zu müssen, tat Ginny es mit einem inneren Schulterzucken ab.
Schließlich drehten sich auch Amber und Harry um und verließen den hohen Rang. Ginny ließ sich auf ihren Sitz fallen und starrte einmal mehr in die Weite. Sie sollte einfach froh darüber sein, dass es Harry wieder besser ging. Nur das zählte. Wer konnte es ihm verdenken, dass er sich derjenigen Person zugewandt hatte, die ihm offenbar Antrieb und Energie hatte zurückgeben können?
Trotz ihrer verständnisvollen Gedanken spürte Ginny eine Woge von Traurigkeit in sich aufsteigen. Und ohne dass sie es verhindern konnte, löste sich eine einzelne Träne aus ihren Augen und glitt langsam ihre Wange hinunter.
--------------------------------
Arme Ginny. So etwas ist eine wirklich harte Situation. Habt ihr eine Vermutung, was die Zukunft für Ginny und Amber bereit halten könnte? Inwiefern könnten sie sich erneut über den Weg laufen?
Freue mich auf eure Gedanken :) LG, Sunflower
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro