Kapitel 21
Kurz darauf flogen sie über eine größere Stadt, dann breitete sich das Wasser unter ihnen aus und mit einer sanften Kurve westwärts sahen sie die Insel vor sich liegen. Längst hatte der Regen über dem Meer seinen Rückzug angetreten, ein paar große, graue Wolken am Himmel waren alles, was von ihm hier übrig geblieben war. Als sich ein schmaler, einsamer Sandstreifen in Sicht schob, gingen sie in den Sinkflug über und landeten schließlich direkt am Strand. Zu ihrer Linken schob sich die Insel mit einem beeindruckenden weißen Kliff ins Meer hinein und vor ihnen glitzerte das Wasser im plötzlich aufgetauchten Sonnenlicht, als enthielte es unzählige Diamanten.
War es vielleicht hier bei der Insel gewesen, wo wir den falschen Horkrux gefunden hatten, sinnierte Harry. Das Kliff sah ähnlich aus wie die Felswände dort drüben... Vielleicht wird der Ort inzwischen nichts anderes mehr sein als ein unterirdischer See in einem Felsgewölbe... ohne Inferi, ohne die geringsten Anzeichen, dass sich Voldemort dort einst befunden hatte.
Bei diesen Worten horchte Amber neugierig auf und prägte sich genau die Erinnerungsbilder ein, die Harry durch den Kopf zogen. Wenn auch die offizielle Begründung für die Reise nach England ein Vorwand war, so konnte sie dennoch nicht leugnen, dass es für sie mehr als nur einen leichten Reiz barg, eine Stätte aufzusuchen, an der ihr Vater sein Wirken entfaltet hatte. Sie zwang sich zur Geduld, überzeugt davon, von Harry Details über Voldemort und ihr Aufeinandertreffen erfahren zu können, wenn die Zeit reif war.
Sie sieht aus, als wäre sie meilenweit fort mit den Gedanken...
Harrys Gedankengang schreckte Amber aus ihren Überlegungen. Noch bevor er etwas fragen konnte, schlug sie lächelnd einen Platz in einer windgeschützten, sandigen Mulde vor, die sich direkt vor einem Felsen befand. Die Sonnenstrahlen verweilten nun ungestört auf dem Strand und zufrieden streckte Harry seine Arme und Beine der dadurch entstehenden Wärme entgegen. Ein paar Wassertropfen glitten aus seinen Haaren und versenkten sich im bereits nassen Stoff der Jacke. Mit wenigen Worten hatte Amber ein paar kleine, einem Lagerfeuer nicht unähnliche Flammen entfacht, die die Oktobertemperaturen in einen Tag verwandelten, der an Spätsommer denken ließ.
„Wo hast du eigentlich so fliegen gelernt?", fragte Amber beeindruckt, lehnte sich gegen den Felsen und blickte mit halbgeschlossenen Augen direkt auf das in der Sonne leuchtende Meer.
„Eigentlich gar nicht", antwortete Harry schlicht und starrte ebenfalls auf das Meer. „Diese Fähigkeit war einfach da, sobald ich das erste Mal einen Besen bestieg."
Die Erinnerung an das immense Glücksgefühl, das ihn erfüllt hatte, als er in seinem ersten Jahr auf Hogwarts begriffen hatte, dass er das Fliegen nicht lernen musste, sondern instinktiv beherrschte, zauberte ein Lächeln auf sein Gesicht. Ohne weitere Aufforderung fuhr er fort, von seiner ersten Flugstunde zu berichten, die damit geendet hatte, dass sein Klassenkamerad Neville wegen eines Unfalles in die Krankenstation gebracht werden musste. Er hatte indessen Draco Malfoys Provokation angenommen und sich trotz des Verbotes auf seinen Besen geschwungen, um Draco das geklaute Rememberall zu entreißen.
Überrascht wandte Amber ihm ihr Gesicht zu. „Ich hätte dich eher für jemanden gehalten, der die aufgestellten Regeln befolgt", befand sie und zog die Augenbrauen hoch. Interessant...
Harrys Augen ruhten weiterhin auf dem Meer, aber sein Lächeln veränderte sich um eine Nuance und ließ vermuten, dass mehr in ihm steckte, als man dem zurückhaltenden Zauberer auf den ersten Blick ansehen konnte.
„Es kommt darauf an, um was für Regeln es sich handelt und um die Umstände, in denen man sich befindet...", befand er schließlich gedehnt und dachte an die unzähligen Regeln, die er im Laufe seiner Schulzeit gebrochen hatte – oft hatten die Verstöße in irgendeiner Art und Weise mit dem Kampf gegen dunkle Mächte zu tun gehabt. Was vermutlich der Grund war, warum der Schuldirektor sie selten geahndet hatte.
Er wandte Amber den Kopf zu und fügte hinzu: „Im Krieg orientiert man sich auch nicht an Regeln, die von der falschen Seite aufgestellt werden, sondern allein an seinem moralischen Kompass."
Der Kommentar war Harry ungeplant entschlüpft, wie Amber kurz darauf klar wurde, als ihm ein verärgerter Gedanke durch den Kopf zog: Warum fange ich jetzt an, vom Krieg zu sprechen? Das wird uns nur zu Voldemort führen.
Brüsk blickte er wieder auf das Wasser, mit durchgedrücktem Rücken und angespannten Schultern. Für ein paar Sekunden war lediglich das Rauschen der Wellen an den Strand zu vernehmen, die in einem nicht enden wollenden Rhythmus versuchten, das Land in Besitz zu nehmen.
Amber zog die Haarspange aus ihrem Zopf und fuhr sich mit den Fingern durch die Haare, bis sie ihr schmales Gesicht umrahmten. „Ich wäre bereit gewesen, Regeln zu brechen, um meine Eltern kennenzulernen, wenn sie nicht schon längst tot gewesen wären", offenbarte sie, ohne Harry anzusehen.
Dieser warf ihr einen erleichterten Blick zu. Sie ist echt rücksichtsvoll. Und empathisch.
„Aber nichts, das ich tun würde, könnte sie lebendig machen. Doch manchmal... manchmal glaube ich, ihre Präsenz zu spüren... gerade hier in England. Und es ist, als ob Erinnerungen an meine ersten Lebensjahre nur darauf warten, hervorzubrechen..." Ambers Stimme wurde immer leiser und verlor sich schließlich.
„Klingt blöd, oder?" Sie warf Harry einen verlegenen Blick zu.
„Nein, gar nicht!", widersprach er leise und rang offenbar ein paar Sekunden mit sich. Dann nahm er ihre Hand und strich mit dem Daumen sanft darüber. „Wenn ich irgendwie helfen kann..."
Amber blickte auf ihre Hand in seiner und sah dann hoch in Harrys mitfühlendes Gesicht. Angesichts ihrer Verletzlichkeit schien er seine eigenen Sorgen vergessen zu haben. Geübt darin, sowohl ihre Worte als auch ihre Körpersprache zu kontrollieren, bat sie zögernd:
„Vielleicht kannst du mich einfach kurz in den Arm nehmen...?"
Ohne zu zaudern zog Harry sie an sich und Amber spürte den inzwischen getrockneten Stoff seiner Jacke an ihrer Wange, fühlte seine Halt gebenden Arme an ihrem Rücken, und merkte, wie er sanft sein Kinn in ihre Haare versenkte.
Und angesichts dessen, was ihm dann durch den Kopf ging, konnte Amber einen befriedigten Gesichtsausdruck gerade noch zurückhalten. Sie merkte, wie seine körperlichen Empfindungen begannen, den Weg seiner Gedanken vorzugeben, zögernd zwar, aber dennoch unverkennbar. Sie musste das Feuer nur noch ein wenig mehr entfachen, so dass sich jegliche Abwehr in Luft auflösen würde...
Amber hob daher ihren Kopf, neigte sich Harrys Gesicht entgegen und berührte seine Lippen mit einem Kuss, der behutsam begann und stürmisch endete. Ohne einen weiteren Moment des Innehaltens nahm Harry dann an, was Amber ihm anbot, begrüßte ihre Zuwendungen mit einem Hunger nach Berührungen, der mit langer Enthaltsamkeit einhergeht und der alles andere in seinem Kopf verdrängte.
Die Wärme der Sonne und der kleinen blauen Flammen taten dann ihr Übriges, die Zeit am Strand in ein erfüllendes Miteinander zu verwandeln und zufrieden ließ Amber nach einem Weilchen ihren Kopf auf Harrys Unterarm sinken. Ein leichtes Schmunzeln lag auf Harrys Gesicht, denn er war sich die letzten Tage noch nicht einmal sicher gewesen, ob er die Verabredung einhalten sollte. Zu anstrengend erschien ihm erneut die Interaktion mit jemandem außer sich selbst. Aber als Amber dann vor der Tür stand, hatte er wieder dieses Gefühl von... Akzeptanz empfunden.
Von der amerikanischen Hexe ging so eine ungemein positive Wirkung aus, die sich Harry selbst nicht erklären konnte. Er bereute daher den gemeinsamen Ausflug hierher nicht im Geringsten. Vorsichtig strich er Amber durch die Haare, die zerzaust auf ihren Schultern lagen. Diese lächelte nur und gab vor, nichts von seinen Überlegungen zu merken.
Es kommt mir vor, als wäre die Überlegung, unser Treffen abzusagen, eine Ewigkeit her. Und voller Staunen ergänzte er im Stillen: In ihrer Gegenwart habe ich das Gefühl, alles Schlimme hinter mir lassen zu können. Die ganzen Befürchtungen und Gedanken sind so weit fort... Wie macht sie das bloß?
„Woran denkst du?", fragte Amber schließlich und war neugierig darauf, ob Harry seine Gedanken auch in Worte fassen würde.
„An das unwahrscheinliche Glück, das ich hatte, dir zufällig begegnet zu sein", kam es nach kurzem Zögern mit rauer Stimme und verlegen lächelnd schob er sich seine Haarsträhnen in die Stirn.
„Was glaubst du, wie froh ich bin, jemanden getroffen zu haben, der nachempfinden kann, wie es mir geht", gab Amber leise zu und zog seine Hand hinunter. „Versteck dich nicht, das hast du gar nicht nötig."
Mit ihren Lippen berührte sie sanft die gezackte Narbe auf Harrys Stirn, die sich kühl und glatt anfühlte und nicht im Geringsten den Anschein erweckte, Überbleibsel eines bösen Fluches zu sein.
Wenn du wüsstest..., dachte Harry. Aber vielleicht wäre sie die Richtige, der er seine innere Einsamkeit anvertrauen könnte... mit ihrer Ruhe und ähnlichen Erfahrungen... Irgendwann einmal...
Amber akzeptierte sein Schweigen, kuschelte sich wieder an ihn und wechselte das Thema. „Wo hast du eigentlich gewohnt, bevor du nach Hogwarts kamst?"
„In Surrey, bei meinen Muggel-Verwandten."
Überrascht hob Amber den Kopf. „Wieso hast du Muggel-Verwandte? Ich dachte, die Potters wären eine alteingesessene Familie."
„Alt schon, aber klein. Meine Großeltern sind schon lange tot. Und von anderen Verwandten ist nichts bekannt."
„Und wie war das, bei Muggeln zu leben?"
Ein Ausdruck intensivster Neugier flog über Ambers Gesicht und verweilte dort, als sie Harrys Bericht lauschte, der etwas distanziert von einer Welt berichtete, die fremder nicht sein konnte. Seine Gedanken und Emotionen ergänzten, was er an Worten ausließ, und ließen dadurch im Ansatz das Bild einer Kindheit entstehen, die alles andere als erfreulich verlaufen war. Harrys Blick war in sich gekehrt und als er seine Erzählung beendet hatte, folgte ihr ein langes Schweigen, das Amber rücksichtsvoll akzeptierte.
Schließlich war es Harry selbst, der die Stille brach, als ihm einfiel: „Du hast mir noch gar nicht erzählt, was du eigentlich studierst. Jetzt haben wir Zeit für die lange Geschichte, die du angekündigt hast."
Auffordernd nickte er Amber zu, die sich mit einem verhaltenen Gesichtsausdruck aufsetzte, ohne zu enthüllen, dass sie wenig Wert auf die Beantwortung dieser Frage legte. Eine Möwe, die herangetrippelt war, fühlte sich verscheucht und flog von dannen.
„Genau genommen...", begann Amber und sah unschuldig lächelnd auf Harry hinab, „...habe ich Hermine nur zufällig an der Hochschule kennengelernt. Mein Studium habe ich bereits in Amerika abgeschlossen. Und dann vor drei Wochen in London eine Praxis aufgemacht."
Aufmerksam beobachtete sie jede von Harrys Regungen, der angesichts ihrer Äußerungen nicht wenig überrascht wirkte und sich nun ebenfalls in eine sitzende Position schob.
„Eine Praxis?", wiederholte er fragend und wollte dann wissen: „Und was hast du studiert?" Sie sieht noch so jung aus. Wie alt ist sie eigentlich?
„Seelenheilkunde."
„Bitte was?!", entfuhr es Harry, was keine akustische Nachfrage gewesen war, wie sein schockierter Gedanke zeigte. Merlins Bart! Fassungslos starrte er Amber an, die seinen Blick gelassen erwiderte.
„Kein Scherz?"
Und als Amber langsam den Kopf schüttelte, begann Harry zu realisieren, was ihre Aussage bedeutete. Was habe ich bloß unbeabsichtigt alles von mir preisgegeben? Bestimmt konnte man aus jeder Bewegung etwas herauslesen. Unwillkürlich presste er die Hände in den Sand und neigte seinen Oberkörper leicht von ihr fort. Wie zum Beispiel jetzt. Er seufzte innerlich. Für einen Augenblick war nur die Brandung zu hören. Amber wartete geduldig, bis Harry schließlich relativ gefasst von sich gab: „Irgendwie fühle ich mich nun ganz schön beobachtet."
„Brauchst du nicht", versetzte Amber und blickte ihn mit einer Ruhe an, die in deutlichem Kontrast zu Harrys aufeinandergepressten Kiefern stand.
„Und woher weiß ich, dass du mich nicht gerade analysierst?!" Zweifelnd zog er die Augenbrauen zusammen.
„Frag mich einfach!", lächelte Amber und fügte dann ernst hinzu: „Warum sollte ich das tun, Harry? Ich fühle mich wohl in deiner Gegenwart. Das möchte ich nicht mit beruflichen Dingen beschweren."
Harrys Skepsis blieb jedoch bestehen. Ich glaube ja nicht, dass man das so einfach abstellen kann. Vermutlich hat sie schon mehr über mich erfahren, als mir lieb sein kann.
„Du glaubst mir nicht", konstatierte Amber leise und ergänzte dann: „Du bist nicht der Erste, der so reagiert. Ich übe gern meinen Beruf aus. Und ich bin gut darin. Aber dass sich Menschen zurückziehen, sobald sie erfahren, womit ich mein Geld verdiene, tut ziemlich weh..."
Prüfend beobachtete Amber seine Reaktion auf ihre Worte und es zeichnete Harry aus, dass er ihrem Blick nicht im Geringsten auswich.
„Mal ehrlich, Harry, hast du dich in meiner Gegenwart jetzt irgendwann unwohl oder analysiert gefühlt?"
Die Antwort war ein stummes Kopfschütteln. Im Gegenteil, dachte Harry beschämt. Er lockerte die verspannten Schultern und ließ dann die Hände unschlüssig in seinen Schoß sinken. Was sollte er tun?
Unter seinem nachdenklichen Gesichtsausdruck fuhr Amber mit sanfter Stimme fort: „Du kannst jederzeit was sagen, wenn du das Gefühl hast, dass ich dir zu nahe trete." Zielstrebig berührte sie seine Hand.
„Gib dem, was wir gerade haben, eine Chance, Harry!"
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Nun ist es also raus. Ich glaube, gar nicht so wenige Leute sind gehemmt, wenn sie privat mit Psychologen etc zu tun haben.
Wie, glaubt ihr, geht es mit Amber und Harry weiter?
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