Hals und Beinbruch
Die Tage bis zu Linus Premiere verliefen in einem monotonen Alltag aus Schule, Arbeit und Versteckspielen mit dem Mann der sich mein Onkel nannte.
Seine Androhung mich raus zu werfen, setzte mich ziemlich unter Druck. Die einzige Lösung die ich sah, um genügend Geld aufzutreiben, war Rob nach mehr Kämpfen zu fragen. Damit stieg jedoch auch das Risiko, dass jemand meinen, nicht ganz legalen, Nebenjob bemerkte. Obwohl dafür wohl keine akute Gefahr im Moment bestand.
Von Linus hatte ich die letzten Tage kaum etwas gesehen, er war ziemlich beschäftigt mit den ganzen Theaterproben und seinem neuen Job im Buchladen. Er hatte mich zwar einige Male gefragt, ob wir Zeit miteinander verbringen wollten, zwischen oder nach seinen Proben, doch ich hatte jedes Mal eine Ausrede gefunden.
Ganz verstand ich es selber nicht, doch es wurde immer schwerer, Zeit mit Linus zu verbringen. Dass Magnus wie ein Oktopus mit Verlustängsten an ihm klebte, macht die ganze Sache natürlich auch nicht leichter. Ich hatte mich von meinem besten Freund distanziert, weil ich meine Gefühle für ihn nicht unter Kontrolle bekam und das machte mir verdammt Angst. Ich wollte ihn nicht verlieren.
Genau das war auch der Grund, warum ich nach dem Premierenabend vor der Halle auf Linus wartete, obwohl ich genau wusste, dass Magnus dasselbe tun würde.
Ich stand vor dem Ausgang, während Mister Perfekt nach Ende des Stückes Richtung Umkleidung verschwunden war. Es dauerte nicht lange bis das glückliche Paar Arm in Arm aus der Tür trat. Linus war ganz versunken in seine lebhaften Erzählungen und strahlte dabei so sehr, dass es fast schmerzte ihn anzusehen. Ich war mir sicher, ich hatte noch nie jemand schöneren gesehen.
„Moglie!", rief er aufgeregt, als er mich sah. Er löste sich von seinem Freund um die letzten Meter zwischen uns zu überwinden und sich in meine Arme zu werfen.
„Ich habe das Gefühl, wir haben uns eine Ewigkeiten nicht mehr gesehen", murmelte er gegen meine Brust. Das schlechte Gewissen drehte mir den Magen um. Manchmal fragte ich mich wirklich, warum er immer noch mit mir befreundet war.
„Du warst echt großartig auf der Bühne, Sunny." Ich drückte ihn fester an mich, als könnte ich damit die tobenden Gefühle in meinem Inneren beruhigen.
Mit gerötete Wangen und einem fast schüchternen Lächeln auf den Lippen löste er sich von mir und murmelte ein „Danke".
„Wollen wir noch etwas zusammen machen? Ich bin viel zu aufgekratzt um nachhause zu gehen." Begeisterung in seiner Stimme blickte er mit glitzernden Augen zu mir auf, als könnte ich jemals nein zu diesem Anblick sagen.
Schulterzuckend brummte ich ein „Klar". Es war als würde ich Linus gerade zum ersten Mal sehen und mich erneut Hals über Kopf in ihn Verlieben. Ich hasste es, ich wollte ihn nicht lieben. Doch es fühlte sich so gut an, wenn er mich so ansah und alles andere unwichtig wurde.
„Lasst uns auf dem Spielplatz chillen.", schlug Magnus vor, seine Stimme wie eine Stecknadel, die unsere kleine Blase zerplatzen ließ.
Linus drehte sich zu Magnus um, schenkte ihm ein Lächeln. „Klingt gut." Bildete ich mir dies nur ein oder war Linus Lächeln für Magnus gedämmter? Weniger strahlend, als das Lächeln, das er mir geschenkt hatte?
Ich wusste, dass ich endlich aufhören sollte mit meinem Wunschdenken. Ich brach mir damit nur immer wieder selber das Herz, wenn ich mir Hoffnungen machte, die zum Sterben verurteilt waren.
„Ich ruf die Jungs an, die können Alkohol besorgen." Linus Liebster zückte sein Handy um seine Affenbande zu versammeln.
Ein Spielplatzparty mit betrunkenen Proleten, ich konnte mir nichts Besseres vorstellen... um jemanden zu foltern.
„Das wird bestimmt lustig." Erklärte Linus mit fröhlicher Stimme. Sein Optimismus war manchmal wirklich schwer zu ertragen.
„Bestimmt." erwiderte ich mit der Begeisterung als hätte man mich gerade zu einer Beerdigung eingeladen.
Auf dem Weg zum Spielplatz, die dunklen Straßen lang laufend, erzählte Linus uns animiert von all den Dingen, die hinter der Bühne schief gegangen waren. Magnus hörte ihm zu, kommentierte an den richtigen Stellen und hielt seine Hand.
Ich lief still neben ihnen her. Betrachtete den staubigen Asphalt, der schummrig von den vereinzelten Straßenlampen beleuchtet wurden. Linus Lachen hallte dumpf in meinem Kopf. War es egoistisch von mir, meinen besten Freund zu vermissen, obwohl er direkt neben mir war?
Das Gefühl unter Menschen zu sein, aber sich trotzdem einsam zu fühlen, war altbekannt für mich. Wie oft ich mich isoliert fühlte, andere dabei betrachteten wie sie miteinander redeten und so eine simples Verständnis davon teilten wie es war mit anderen Menschen Verbindungen aufzubauen. Es war als würden sie eine andere Sprache sprechen, die es mir nie gelingen würde zu verstehen.
In Linus Gegenwart hatte ich bisher noch nie so empfunden. Linus war anders, Linus war mein Anker, mein Zuhause, meine Verbindung zu anderen Menschen. Er war die erste Person mit der ich ein Verbindung teilte und durch ihn wusste ich, dass es tatsächlich schön sein konnte, Menschen an mich ran zu lassen. Doch in letzter Zeit, hatte ich immer mehr das Gefühl diese Verbindung zu verlieren und das jagte mir eine scheiß Angst ein. Deswegen würde ich alles tun, um dies zu verhindern, selbst, wenn das hieß Zeit mit dem Idioten und seinen Proletenfreunden zu verbringen.
Lautstarkes Grölen begrüßte uns als wir den alten Spielplatz betraten.
„Hey! Habt ihr etwa schon ohne uns angefangen?" Mit einem breiten Grinsen zog Magnus meinen besten Freund mit sich zu seinen Freunden. Sie hatte sich um einige Kisten Bier und mehrere Flaschen, vermutlich hochprozentiger Alkohol, versammelt. Wesentlich langsamer trottete ich hinter ihnen her und blieb mit einigen Schritten Entfernung zu der lauten Meute stehen. Was zum Teufel machte ich hier eigentlich?
Dieser Abend vereinte alle Komponenten um der schlimmste meines Lebens zu werden.
___
Die dumpfen Geräusche von Fußsohlen auf Holz warnten mich, dass ein Eindringling die Treppe zu meinem neuen Zuhause, aka dem kleinen Raum in der oberen Hälfte des Rutschen Turms, erklomm. Für einen kurzen Moment befürchtete ich, es wäre einer der Affen. Ob es wohl beleidigend für Affen war, dass ich diese Idioten nach ihnen benannte? Immerhin waren Affen durchaus intelligente Kreaturen, die es schafften in einem strukturierten, sozialen Gefüge zu leben. Andererseits warfen sie gerne mit ihren eigenen Exkrementen um sich. Also war es wohl fair.
Als der vertraute blonde Wuschelkopf meines besten Freundes in der Türöffnung erschien, atmete ich erleichtert aus.
„Willkommen in meinem prunkvollen Heim." begrüßte ich ihn, mit einer Geste, die so ausladend war, wie es der kleine Raum zuließ. Mein selbstgewähltes neues Zuhause war höchstens zwei Quadratmeter groß und wurde nur von dem gedämpften Licht der Straßenlaternen, das durch die kleinen Fensteröffnungen schien, beleuchtet.
„Schön hast du es hier." Die Tatsache, dass er es schaffte dabei nicht sarkastisch zu klingen, bewiese sein enormes Schauspieltalent.
„Danke. Ich hab es selber eingerichtet."
Mit einem ausschweifenden Blick über den leeren, dunklen Raum erwiderte er schmunzelnd: „Das kann ich sehen."
Er setzte sich neben mich auf den Holzboden, unsere Seiten berühren sich unweigerlich aufgrund des Platzmangels. Das mein Herz schneller schlug sobald er mir nahe war und meine Haut kribbelte, wenn wir uns berührten, war mir nach alle den Jahren so vertraut, dass ich mir nicht vorstellen konnte, dass es jemand anders sein könnte.
Mit einem Lächeln hielt er mir eine kleine Flasche Limo hin.
„Die Jungs hatten doch tatsächlich etwas Nichtalkoholisches eingepackt. Dachte ich bring dir eine Flasche als Einweihungsgeschenk."
Dankend nahm ich das Getränk entgegen und trank einen großen Schluck der süßen Brause. Ich hatte gar nicht bemerkt, wie durstig ich tatsächlich war, allerdings hatte ich auch keine Ahnung wie lange ich mich hier oben schon versteckte. Ich hatte die Idiotenbande einige Zeit dabei beobachtet wie sie die verschiedensten Alkoholmischungen in sich rein schütteten und erstaunt festgestellt, dass die Menge an verbalen Bullshit den sie losließen, sich unter Alkoholeinfluss tatsächlich noch vermehrte.
Linus hatte sich im Gegensatz zu seinem Freund ziemlich zurückgehalten und nur wenig getrunken. Er trank generell nur selten Alkohol, etwas das definitiv mein Verschulden war. Ich hatte ihm schon oft gesagt, dass nur weil ich keinen Alkohol trank, es nicht hieß dass er ebenso darauf verzichten musste. Doch Linus hatte mir immer versichert, dass er Alkohol einfach nicht gut vertrug und es hasste einen Kater zu haben.
„Genießt du deine Aftershow-Party?"
Linus seufzte. „Nicht wirklich. Ich mag es nicht, wie Magnus wird, wenn er betrunken ist."
Wie er wird? Wohl eher wie er ist, wenn der Alkohol seine perfekt gepflegte Fassade bröckeln ließ und sein wahres Ich heraus kam.
„Wie denn?"
„Zu Selbstbewusst, fast schon Überheblich, als ob er denkt er wäre besser als alle anderen. Ich bin vermutlich einfach zu empfindlich. Ich weiß das es nur Spaß ist, aber ich mag es nicht besonders, wenn er auf meine Kosten Sprüche klopft um seine Freunde zum Lachen zu bringen"
Ich war klug genug, um meine Gedanken nicht laut auszusprechen. Doch das war auch nicht nötig, mein bester Freund kannte mich gut genug.
Er schubste mich mit seiner Schulter an. „Ich weiß, dass du denkst, dass er immer so ist. Aber meistens ist er ziemlich süß. Er ist mir gegenüber immer anständig."
„Ich hoffe, er weiß was für ein Glück er hat und behandelt dich wie du es verdienst."
„Das tut er." Er blickte mir in die Augen. „Zumindest meistens. Aber niemand ist perfekt und das würde ich auch nie von jemandem erwarten."
Ich konnte dem Drang nicht länger wiederstehen ihm eine seiner wilden Locken aus dem Gesicht zu streichen.
„Es hat nichts mit Perfektion zu tun, das du dir von deinem Partner wünschst, dass er Rücksicht auf dich und deine Gefühle nimmt. Er hätte sich heute zurückhalten sollen, damit du dich nicht unwohl fühlst. Es ist schließlich dein Premierenabend. Du bist der liebenswürdigste Mensch, denn ich kenne, du würdest alles tun für die Menschen die du liebst. Es ist nicht egoistisch, dir dasselbe von deinem Freund zu wünschen."
Ein warmes Lächeln umspielte seine Mundwinkel. Er beugte sich nach vorne, unsere Gesichter so nahe. Sein Atem steifte mein Gesicht und für eine verräterische Sekunde überzeugte mich mein Herz, dass er mich küssen würde. Und das tat es auch. Ein bittersüßer Schmerz durchfuhr meinen Körper, als seine Lippen meine Wange berührten.
„Weißt du eigentlich, wie lieb ich dich habe, Moglie? Du bist der beste Freund, den man haben kann."
Wie oft ein Herz wohl brechen konnte, bevor es endlich die Hoffnung aufgeben würde?
Großer Gott. Wenn das so weiter ginge, würde ich bald anfangen traurige Gedichte zu schreiben und melancholisch durch den Regen zu laufen.
Ich nickte, versuchte sein Lächeln überzeugend zu erwidern. „Hab dich auch lieb, Sunny."
Der weiche Ausdruck in seinen Augen, den er immer bekam, wenn ich seinen Kindheitsspitznamen benutzte, war zu viel für mich. Ich brauchte Abstand, etwas Zeit für mich, um durchzuatmen und alle Gefühle wieder runter zu drücken, wo sie hingehörten. In letzter Zeit hatten meine Gefühle zu oft an der Oberfläche gebrodelt.
„Ich werde mich mal auf den Heimweg machen. Ich bin ziemlich erledigt."
Er nickte. „Ich auch, war ein langer Tag. Bringst du mich nachhause?"
„Klar. Aber bist du sicher, dass du nicht noch bleiben willst?"
„Ganz sicher."
Soviel zu Abstand.
Hintereinander stiegen wir die kleine Treppe hinunter. Die Gruppe schien sich in meiner Abwesenheit etwas zersplittert zu haben.
„Ich sag Magnus noch kurz Bescheid, dass wir gehen."
Ich nickte und Linus marschierte auf seinen laut redenden und wild gestikulierenden Freund zu.
Ich stand zu weit weg um die genauen Worte zu verstehen, doch es war auch ohne Worte deutlich, dass Magnus nicht begeistert war, dass sein Freund schon gehen wollte. Was irgendwie ironisch war, da ich mir sicher war, dass Magnus bis eben nicht bemerkt hatte, dass Linus die letzte Viertelstunde verschwunden war.
Magnus eisiger Blick traf mich über Linus Schulter hinweg, während mein bester Freund ihm etwas zu erklären schien. Es konnte mir nicht egaler sein, was dieser Mensch von mit dachte, doch ich hoffe, dass er Linus kein schlechtes Gewissen einreden würde.
Ich konnte die Diskussion der beiden nicht länger folgen, da sich einer von Magnus Freunden, ich hatte mir nie die Mühe gemacht mir seinen Namen zu merken, in mein Blickfeld schob. In seiner ausgestreckten Hand hielt er eine ungeöffnete Flasche Bier. „Hier, damit du mal etwas lockerer wirst."
Charmant. „Sorry, aber ich trinke keinen Alkohol."
„Warum?"
Weil ich aus einer Familie von Drogenabhängigen und Alkoholkern entstand und die Tradition nicht weiterführen wollte. Doch das war bestimmt nicht die Antwort die ich ihm geben würde.
„Ich mag es einfach nicht." Er blickte mich an, als hätte ihm gerade gesagt dass ich mich um Mitternacht in einen Werwolf verwandeln würde.
„Du magst es nicht? Was ist das denn für eine lame Ausrede? Wer zum Teufel trinkt denn bitte nicht? So eine Spaßbremse. Da hat sich Linus echt einen tollen besten Freund ausgesucht. Das ist echt..."
Eine angepisste Stimme aus dem Hintergrund schnitt dem Äffchen das Wort ab.
„Da hast du Recht, Paul, ich habe mir den allertollsten besten Freund ausgesucht! Einen Freund der immer für mich da ist, mich wegen nichts verurteilen würde und der niemals so intolerant sein könnte wie du. Falls du es noch nicht gehört hast: Es ist nicht cool, Leute zu Dingen zu drängen die sie nicht machen wollen. Du solltest mal lieber über dein eigenes Verhalten nachdenken, bevor du andere für ihres verurteilst."
Energisch griff Linus meine Hand und zog mich hinter sich her vom Spielplatz, ohne sich noch einmal umzusehen. Es überraschte mich nicht, dass er mich so verteidigt hatte, denn egal wie schwer es meinem besten Freund fiel, für sich selber einzustehen, wenn es darum ging jemand anderen zu verteidigen, besonders jemanden der ihm nahe stand, dann wurde er zum Mama Bär.
„Das sind wirklich manchmal solche Idioten. Ich verstehe nicht, wieso Magnus ihnen so einem Verhalten durchgehen lässt." Linus war immer noch merklich aufgebracht, als wir die stillen Straßen entlang gingen seine Hand noch immer meine fest umklammernd.
„Du musst nicht meinetwegen sauer auf sie sein." Versuchte ich ihn zu beruhigen.
„Bin ich aber." Hielt er trotzig dagegen.
Ich seufzte. „Er hatte doch Recht. Nach der Auffassung der meisten Menschen bin ich ziemlich langweilig. Ich trinke keinen Alkohol, gehen nicht gern auf Partys oder mag es nicht neue Menschen zu treffen."
Er blieb abrupt stehen, zwang mich dadurch ebenfalls zum Stoppen. Er richtete seinen wütenden Blick auf mich. „Hör sofort auf so einen Mist zu erzählen, wenn du nicht willst, das ich auch auf dich sauer werde!"
„Ich meine ja nur ..."
„Es ist mir total egal was du meinst! Ich werde nicht zulassen, dass du so über meinen besten Freund redest! Er ist nämlich derjenige der mir beigebracht hat gegen Drachen zu kämpfen und das der Boden manchmal Lava ist und wie viel Spaß es macht, sich durch den Kleiderschrank seiner Mütter zu wühlen. Er hat mir beigebracht, dass man kein teures Spielzeug braucht um Spaß zu haben, sondern nur etwas Fantasie. Er hat jeden Tag meiner Kindheit zu einem Abenteuer gemacht und mir geholfen mehr in mir zu sehen als einen kleinen seltsam aussehenden Jungen, der zu viel über Fische redet." Sein Gesichtsausdruck wurde weicher, seine Stimme sanfter.
„Du bist vieles, Moglie, aber bestimmt nicht langweilig. Du hast es sogar geschafft das ein 4 Stündiges Monopolyspiel mit meinen Müttern zu einer meiner lustigsten Erinnerungen geworden ist."
Jedes seiner Worte traf mich mitten ins Herz.
Ich liebe diesen Jungen so sehr, dass ich es kaum zusammenhalten konnte. Es tat so weh, ihn zu lieben, aber immer zu wissen, dass ich nie genug für ihn sein würde. Ich wusste wirklich nicht wie lange ich es noch aushalten würde.
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