Kapitel 20: Zurück zur Normalität
May
„May, ist bei Ihnen alles in Ordnung?" Ich schaute hoch und erblickte Nicolas Johnson, der auf mich zugelaufen kam.
Ich nickte nur kurz und senkte den Blick dann wieder.
„Sind Sie sicher? Das war wirklich heftig", sagte er und setzte sich neben mich auf die Bank.
Da ich nicht wusste, was ich darauf erwidern sollte, schwieg ich und versuchte meine Tränen wieder unter Kontrolle zu bekommen. Das gelang mir mehr oder weniger gut. Zwischenzeitlich wurde mein Körper immer wieder von Schüttlern durch die Schluchzer durchzogen. Natürlich blieb auch Nicolas das nicht verborgen.
„Beruhigen Sie sich. Sie sind in Sicherheit", meinte er mit ruhiger Stimme und legte seine Hand auf meine.
„Aber dafür hat er jetzt Mr. Moore in seiner Gewalt", erzählte ich, als ich mich wieder halbwegs unter Kontrolle hatte.
„Simon? May, erzählen Sie mir in Ruhe, was passiert ist", forderte Nicolas mich auf.
Nachdem ich Mr. Johnson alles erzählt hatte, atmete er einmal tief aus.
„Okay... ich werde einige Leute zusammentrommeln und die Polizei verständigen. Wir müssen etwas unternehmen und verhindern, dass noch mehr Personen gefährdet werden", sagte er schließlich und zog schon sein Handy hervor.
In dem Moment meinte ich meinen Augen nicht zu trauen. War das die Realität oder unterlag ich einer Sinnestäuschung?
Simon Moore spazierte zusammen mit einer anderen Frau, direkt aus dem Laborkomplex, in das er nur ungefähr 20 Minuten zuvor mit Mr. Carter verschwunden war. Die Frau musste Dr. Evelyn Brown, das andere Gründungsmitglied, sein. Doch dann stieg erneut Panik in mir auf. Sie waren alleine. Mr. Carter war nicht bei ihnen. Wo war er?
„Ähm, Mr. Johnson. Mr. Moore kommt gerade aus dem Gebäude", machte ich ihn auf die beiden Personen, die direkt auf uns zusteuerten, aufmerksam.
Ein erleichtertes Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. Er sprang auf und umarmte Simon kräftig. Doch dieser redete ernst auf ihn ein.
„Es ist noch nicht vorbei. Mr. Carter hat sich mit einer unserer Wissenschaftlerinnen in einem der Räume eingeschlossen und will nur mit ihr reden. Sie hat ihm zwar erklärt, dass vor einem Eingriff diverse andere Schritte durchgeführt werden müssen, aber er will den Chip noch immer", sagte er.
May hatte Mühe ihn zu verstehen, weil er sehr ruhig redete, um ja nicht noch mehr Aufmerksamkeit auf die ganze Situation hier zu lenken.
„Das ist gar nicht gut. Wir müssen dringend beratschlagen, wie wir am besten vorgehen", meinte Mr. Johnson.
„Wir werden nichts unternommen, Nicolas. Die Wissenschaftlerin bei ihm werde ich ganz sicher nicht gefährden. Sie ist ziemlich gut, in dem was sie tut. Sie hat eine der größten Probleme des neuen Chips gerade erst gelöst und uns so sehr weit nach vorne gebracht. Ich bin mir ganz sicher, dass sie es schafft alle notwendigen Tests an Mr. Carter und auch anschließend den Eingriff durchzuführen. Das ist das beste, was wir tun können", mischte sich Dr. Evelyn Brown ein.
Ich war ehrlich überrascht. Die Gerüchte sagten, dass Dr. Brown sehr streng war und viel abverlangte. In das Team des Labors aufgenommen zu werden war wohl sehr schwierig, da die Doktorin hohe Ansprüche hatte und niemanden einstellte, der in ihren Augen zu wenig Leistung erbrachte, nicht das nötige Wissen besaß oder keine Leidenschaft für die Wissenschaft hatte. Ich fand das völlig legitim. Die Happy N.E.S. Company zählt zu den erfolgreichsten und gerade in diesem Bereich brauchen sie die Besten. Wenn Dr. Brown also so von dieser Wissenschaftlerin redete, musste sie wirklich gut sein. Das kam wohl sehr selten vor, dass sie so über Mitarbeiter sprach. Ich fühlte mit dieser Frau. Vor gut einer halben Stunde war ich noch an ihrer Stelle gewesen und ich hoffte, dass sie besser mit der Situation als ich umgehen konnte.
„Gut. Einverstanden. Aber Nicolas und ich müssen uns um die Presse kümmern. Die haben auf der Konferenz alles live mitbekommen und wir müssen das Schlimmste verhindern ehe wir einen PR-Skandal haben", stimmte Simon Moore zu.
„Ich gehe wieder ins Labor. Falls meine Mitarbeiterin doch Hilfe benötigen sollte, bin ich da", sagte Evelyn Brown und ging zurück in das Gebäude.
„Okay, Simon. Lass uns hoffen, dass es für einen Skandal nicht schon zu spät ist", sagte Nicolas Johnson.
„Ich bin mir sicher, dass wir das zusammen schaffen. Außerdem liebt die Öffentlichkeit dich. Lass uns gehen", meinte Mr. Moore und wandte sich zum Gehen.
„Simon, warte noch kurz." Nicolas drehte sich zu mir.
„May, kann ich Sie hier alleine lassen?", fragte er und sah mich prüfend an. Scheinbar machte ich nicht den Eindruck auf ihn, als dass man mich alleine lassen könnte.
Doch ehe ich antworten konnte, hörte ich eine mir vertraute Stimme.
„Ich kümmere mich um sie." Jenny kam auf uns zu und setzte sich sofort neben mich.
„Dankeschön, Ms. Perks", sagte Simon und zog Nicolas ohne ein weiteres Wort mit sich.
„May, ist bei dir alles in Ordnung? Ich habe gehört, was passiert ist und bin sofort hierher gekommen. Du bist ja völlig am Zittern", meinte Jenny und legte einen Arm um mich. Erst da fiel mir auf, dass das alles wohl doch zu viel für meinen Kreislauf war.
„Komm, ich nimm dich erstmal mit in meine Wohnung."
In Jennys Wohnung ankommen, verfrachtete sie mich erstmal auf ihre Couch samt Kissen und Decke. Dann machte sie uns beiden einen Tee und setzte sich zu mich. Das alles tat wirklich gut. Es gab mir ein Stück Geborgenheit und vermittelte mir, dass ich sicher bin. Jenny war zwar meine Vorgesetzte, aber in diesem Moment war sie vor allem eine Freundin, die ich hier gefunden hatte und für mich da war. Nachdem sie meinen Schnitt am Hals versorgt hatte, erzählte ich ihr alles, was passiert war und sie hörte mir aufmerksam zu.
„Du hast es jetzt zum Glück überstanden. Ich bin echt froh, dass dir nicht mehr passiert ist."
Eine Weile schwiegen wir einfach und hingen unseren Gedanken nach.
„Nächstes Wochenende, am Freitagabend, findet ihr übrigens ein Maskenball statt", brach Jenny schließlich das Schweigen und ich war froh über den Themenwechsel.
„Ein Maskenball?", fragte ich verwundert und schaute sie neugierig an. Irgendwie passte das für mich gar nicht zur Happy N.E.S. Company. Feiern ja, aber ein Maskenball? Da musste ich immer an reiche Leute denken, die gerade vor der großen Depression so etwas viel veranstaltet hatte. Das stellte ich mir zumindest so vor.
„Ja. Es findet jedes Jahr im Sommer ein großes Event statt. Dieses Jahr eben ein Maskenball. Nicolas meinte zu mir, dass die Idee wohl von einer der Investorinnen kam", antwortete Jenny.
Als sie Nicolas Johnson nur beim Vornamen nannte, fiel mir wieder ein, dass sie ja eine gemeinsame Geschichte hatten. Daher duzten sich die beiden bestimmt, wenn sie sich nur zu zweit unterhielten. Vor den Kollegen war das natürlich eine andere Sache. Ich musste an meinen ersten Tag hier denken. Da hatten sich die beiden vor ihr nämlich gesiezt. Alles andere hätte aber auch nur für Fragen gesorgt.
„Ich glaube, da gehe ich nicht hin. Dafür ist einfach in letzter Zeit zu viel passiert", erwiderte ich schließlich.
„Genau deswegen gehst du da hin. Ein „Nein" akzeptiere ich nicht. Der Ball bringt dich auf andere Gedanken, was du mehr als notwendig hast", meinte sie und schaute mich entschlossen an.
„Ich weiß nicht... dieser Kerl vom Freitag wird doch bestimmt auch da sein", äußerte ich meine Bedenken. Ich wollte wirklich nicht nochmal auf ihn treffen.
„Ja, Kyle wird hundertprozentig da sein, aber der Maskenball bietet dir doch die ideale Gelegenheit, dass er dich gar nicht erkennen wird. Immerhin wirst du eine Maske tragen. Du kannst also ganz beruhigt sein. Außerdem bin ich bei dir", warf sie ein.
Nachdenklich starrte ich in die Luft. Jenny hatte ja recht. Es würde mir bestimmt guttun. Zurück zur Normalität. Wenn es mir nicht gefiel, konnte ich ja schnell wieder verschwinden.
„Na schön. Aber sobald irgendetwas sein sollte, gehe ich", gab ich schließlich nach.
„Klar. Aber glaub mir, der Ball wird dich umhauen. Die Firmenevents vergisst man nicht so schnell", grinste Jenny.
Das hatte ich schon bemerkt. Hoffentlich würde ich an den Maskenball bessere Erinnerungen als an den Karaokeabend vom vergangenen Freitag haben. Den würde ich nämlich am liebsten aus meinem Gedächtnis streichen.
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