1 ミ Angst
»Warum denn nicht?«, Reeva verschränkte die Arme vor der Brust und zog ihre buschige, schwarze Augenbraue in die Höhe. Das tat sie immer, wenn sie skeptisch war oder eine Idee entwickelte. In diesem Fall war es aber Skepsis, die sich auf ihr dunkles Gesicht gelegt hatte.
Ich seufzte und spielte an dem bunten Faden herum, der am Ende des Lesezeichens aus dem Buch baumelte.
»Du weißt ganz genau, warum«, entgegnete ich und hielt den Blick weiterhin auf die vergilbten Seiten gerichtet, doch die Wörter drehten sich im Kreis und ergaben keinen Sinn. Vieles ergab keinen Sinn mehr. Warum redete er nicht mehr mit mir? Warum verzieh er mir meinen Fehler nicht?
»Wehe du sagst mir, dass es wegen Dan ist. Dann schmeiß' ich dich aus dem Fenster«, drohte Reeva mir mit gehobenem Zeigefinger, »Du bist nicht so groß und schwer erst recht nicht. Glaub' mir, das würde ich locker schaffen.«
Ich klappte das Buch, welches ich in den Händen hielt, mit einem traurigen Lächeln zu und legte es neben mich auf die Matratze. »Du verstehst das nicht, Reeva«, nuschelte ich nachdenklich und schnappte mir als Ausgleich für das Buch eines der zahlreichen Kissen, die mein Bett bedeckten. Ich umklammerte es, drückte es an meine Brust und sog den frischen Duft von Lavendel ein. Es roch ein bisschen nach seinem Shampoo. Selbst nach all den Wochen.
»Du hast recht: ich verstehe es nicht!«, meine Freundin fuchtelte wild mit den Armen umher und stampfte auf den braunen Holzboden. Seit ich ihr davon erzählt hatte, funkelten ihre Augen jedes Mal bedrohlich auf, wenn sie seinen Namen hörte.
Ich senkte den Blick auf meine zusammengefalteten Hände und fühlte ich mich plötzlich so klein wie eine Ameise, die sich vor einem riesigen Menschenfuß fürchtete.
»Ich verstehe nicht, was das zwischen euch ist!«, fuhr Reeva aufgebracht fort, »Wie lange kennt ihr euch jetzt? Seit zwei Jahrzehnten? Ihr seid zusammen aufgewachsen. Ihr habt alles miteinander erlebt. Ihr teilt eure Herzen. Er ist deine zweite Hälfte und du bist seine. Aber ihr macht es euch selbst kaputt! Wie könnte ich das verstehen, Marny?«
»Es ist kompliziert«, widersprach ich ihr mit verhaltener Stimme und die warmen Sonnenstrahlen, die am Glas der Balkontür brachen, kitzelten auf meiner Haut. Trotzdem wollte ich heute nicht nach draußen. Ich wollte nicht mit Reeva auf diese Party. Ich wollte mich unter meiner Decke verkriechen - auch wenn die Außentemperatur von 29 Grad versprach, mein Zimmer in eine Sauna zu verwandeln. Aber ich würde einfach die Rollladen komplett runterlassen, meinen Ventilator einschalten und mich mit Buddy, meinem Hund, ins Bett kuscheln. Er hätte sicher nichts dagegen einzuwenden. Er verstand mich. Ich würde auf meinem Laptop einen Film starten und fernab von der Realität leben.
Genau so sah der perfekte Samstagabend für mich aus. Ich hatte keine Lust zu feiern - für mich gab es nichts zu feiern.
»Ja klar, kompliziert«, wiederholte Reeva mich und schnaubte kopfschüttelnd, »Manchmal habe ich das Gefühl, du liebst das Drama. Das Leben ist nicht so kompliziert, wie du es immer sagst.«
»Du weißt, dass ich es anders meine!«, verteidigte ich mich und war es leid, seit Wochen das gleiche Gespräch mit ihr zu führen, »Du hast doch keine Ahnung wie ich mich fühle, Reeva. Du hast nichts von dem erlebt, was ich erlebt habe. Du wurdest nicht von deinem besten Freund weggestoßen, oder?«
Ich war überrascht von mir selbst, wie schnippisch ich klang. Sonst zickte ich Reeva nie so an. Aber wenn es um Dan ging, brannten jegliche Sicherungen durch. »Könnten wir das Thema bitte einfach ruhen lassen?«, fuhr ich eine Spur sanfter fort, »Ich möchte nicht zu dieser Party. Ja, unter anderem wegen Dan. Ich will ihn nicht sehen ... und ich möchte nicht feiern. Du kannst dich auch ohne mich amüsieren.«
»Du willst Dan nicht sehen?«, Reeva ließ das Thema natürlich nicht ruhen, das war mal wieder typisch, »Wir wissen beide, dass das nicht stimmt. Du wünschst dir nichts sehnlicher, als ihn wiederzusehen. Du hast nur Angst.«
Reeva hatte zumindest mit einer Aussage ins Schwarze getroffen: ich vermisste Dan. Ich vermisste ihn schrecklich. Seine braunen, aufgestellten Haare, die ich schon immer gerne mit meinen Händen verwuschelt hatte. Seine wunderschöne, melodische Stimme, die ganz kratzig wurde, wenn er zu viel gelacht hatte. Die Grübchen, die sein makelloses Lächeln umspielten und die kleinen Falten, die wie Sonnenstrahlen um seine aufgeweckten Augen leuchteten. Ich vermisste es, dass er den Blick auf seine abgewetzten Sneaker fallen ließ, wenn ihm etwas unangenehm war oder er ein Kompliment bekommen hatte. Ich vermisste jede dieser Seiten an ihm.
»Wovor sollte ich denn Angst haben?«, ein nervöses Lachen schallte aus meiner Kehle und wurde in der warmen Luft erstickt, die sich in meinem Schlafzimmer gestaut hatte.
»Du hast Angst davor, dass es zwischen euch nie wieder so werden könnte, wie zuvor. Dass er nicht mehr zu dir zurückkommt«, Reeva ließ sich seufzend neben mir auf der weichen Matratze nieder und legte ihren Arm um mich. Ich lehnte mich an ihre Brust und seufzte. Es fühlte sich an, als würde mein Leben in meinen Fingern zerrinnen - wie feiner Sand. Wenigstens war Reeva noch da.
»Es ist okay, Angst zu haben. Manchmal rettet uns die Angst. Aber manchmal lähmt sie uns auch und hält uns davon ab, die besten Zeiten unseres Lebens zu erleben. Warum sollten wir uns von der Angst bestimmen lassen, wenn wir doch nur diese eine Chance haben? Wenn du im Sterben liegst, möchtest du dich dann wirklich fragen: was wäre gewesen, wenn ich der Angst nicht die Kontrolle über mich und mein Leben überlassen hätte? Möchtest du dich das wirklich fragen, Marny? Natürlich nicht. So etwas möchte sich niemand fragen. Es gibt also zwei Möglichkeiten: entweder bleibst du hier, in deinen gewohnten vier Wänden. Du vergräbst dich unter deiner dicken Decke, guckst dir zum fünften Mal diesen öden Liebesfilm mit Emma Stone an und erfährst nie, was heute Abend passiert wäre; was Dan gesagt oder nicht gesagt hätte. Diese Möglichkeit wäre für dich die einfachste, aber du wirst dich nicht für sie entscheiden. Darüber würdest du dich auch noch ärgern, wenn du mit grauen Haaren im Schaukelstuhl sitzt. Ich kenne dich, Marny - besser als du dich selbst. Deswegen weiß ich auch, was das Beste für dich ist. Und das ist Möglichkeit Nummer Zwei: zu dieser Party zu gehen und sich der Angst zu stellen. Angst zu haben ist zwar okay, aber reicht okay aus, um glücklich zu sein? Letztendlich ist es deine Entscheidung. Ich kann dich zu nichts zwingen und das will ich auch gar nicht. Ich will doch nur, dass du glücklich bist. Und ich glaube, nichts könnte dich glücklicher machen, als mit Dan zu reden.«
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»Darin sehe ich dick aus«, ich schmiss das Spitzentop, welches Reeva aus meinem Kleiderschrank gefischt hatte, im hohen Bogen aufs Bett. Meine Freundin hatte mich mit ihrer überraschend tiefgründigen Rede dann doch dazu bewegen können, dieser Party einen Besuch abzustatten.
Aber jetzt, als mich der Berg an Klamotten in meinem Schrank verspottete und rief »Wir sehen an dir nicht gut aus, lass uns in Frieden!«, erschien mir die ganze Aktion sofort wieder idiotisch. Aber Reeva ließe nicht zu, dass ich aufgäbe, bevor ich überhaupt angefangen hatte - nicht jetzt, wo ich ihr bereits versprochen hatte, es wenigstens zu versuchen.
»Du und dick? Das wäre dann ein weiteres Paradoxon, das die Menschheit untersuchen könnte«, sie warf mir einen tadelnden Blick zu und widmete ihre Aufmerksamkeit dann wieder meinem überquellenden Klamottendepot. Es war ein Wunder, dass mir die Nägel und Schrauben des Schrankes noch nicht um die Ohren geflogen waren. Es war nicht so, dass ich oft einkaufen ging, ganz im Gegenteil.
Ich fühlte mich in Geschäften - zwischen Kleiderständern, aufdringlichen Verkäuferinnen und quasselnden Kundinnen - einfach nicht wohl. Mein Problem war: ich konnte mich einfach nicht von Dingen trennen. Vor Jahren hatte ich im Ausverkauf beispielsweise ein wunderschönes, hellblaues Sommerkleid mit apricot-farbenen Streifen ergattert - das letzte Exemplar, um das mich sogar die Kassiererin beneidet hatte. Wenn sie wüsste, dass ich es bis dato noch nie getragen hatte, weil sich darin einfach alles an meinem Körper falsch anfühlte, hätte sie wahrscheinlich einen wütenden Mob auf mich gehetzt. Ich hoffte, mich irgendwann in diesem Kleid auf die Straße zu trauen und genau so zu strahlen wie die Sommersonne. Deswegen hob ich es auf - zusammen mit einigen anderen Stücken, die ich noch nie getragen hatte - und war zu optimistisch, um es einem Altkleidercontainer zu spenden. »Wie wäre es hiermit?« Ein weißer Lappen flog mir ins Gesicht, den ich als ein altes Wickeltop identifizierte. »Das ist nur für Zuhause. Viel zu eng und zu kurz«, ich schüttelte das freizügige Oberteil und somit auch Reevas Vorschlag von mir ab. Dass ich mir das überhaupt gekauft hatte.
»Eng und kurz kommt auf einer Party immer gut an. Du kannst schlecht so gehen«, sie deutete auf die schlabbrige Jogginghose und den viel zu großen Pullover der Wicked Wombats - das Schwimmteam der Highschool, dem Dan damals angehört hatte.
»Größe M ... da passe ich nicht rein«- mit diesen Worten hatte Dan mir den Pulli damals verlegen in die Hand gedrückt. Ich hatte gelächelt und ihn den ganzen Winter über getragen. An mir sah Herrengröße M aus wie Damengröße XXL und in dem gefütterten Hoodie, der bis zur Hälfte meiner Oberschenkel reichte, fühlte ich mich wohl.
»Warum nicht?«, ich runzelte die Stirn und sah an mir herunter, »Sollte man auf einer Party nicht gerade das tragen, worin man sich selbst mag?«
Ich hatte mich für Partys nie groß herausgeputzt. Mein Outfit bestand aus meiner Lieblingsjeans, einem bequemen, locker sitzenden T-Shirt und abgetragenen, schwarzen Vans. Meine braunen Haare band zu einem hohen Zopf zusammen und an Schminke trug ich nur ein bisschen Wimperntusche auf.
Ich hatte nie zu der Sorte Mädchen gehört, die eine Stunde an ihren Haaren rumfummelten und viel Make-Up benutzten.
Ich wusste, was es hieß, unauffällig zu sein. Aber das war gut so. Ich versteckte mich bewusst, weil ich es nicht mochte, die prüfenden Blicke der anderen auf mich zu ziehen.
»Marny, wenn du das anlässt, werde ich dich nicht mitnehmen«, drohte Reeva, was ich nur mit einem Schulterzucken kommentierte.
Wäre vielleicht sowieso besser. Ich wollte ihr und den anderen mit meiner Lustlosigkeit nicht den Abend verderben. »Hör zu«, sie seufzte schwer und ich befürchtete, sie wollte mir jetzt einen Vortrag zum Thema Partydresscode halten, »Natürlich sollst du dich wohlfühlen. Du sollst tragen, was immer du willst. Aber wenn dich jeder auf dieser Party komisch anguckt, wirst du dich ganz schnell unwohl fühlen. Also ... wie wäre das? Das sieht gut aus. Es ist weder zu kurz noch zu eng.«
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»Ich weiß ja nicht, Reeva«, murmelte ich und drehte mich unschlüssig vor dem Spiegel hin und her, wobei der Rock des lockeren Jeanskleides mitschwang.
»Darin sehe ich irgendwie komisch aus.« Es störte mich, dass so viel von meinen Beinen zu sehen war. Meine Haut war fleckig von der brühend heißen Sonne und ich verdeckte sie selbst bei diesen hohen Temperaturen gerne mit Stoff. Meine rostbraunen Haare waren zwar frisch gewaschen, hingen aber trotzdem wie klebrige Spaghetti an mir herunter. Ich fühlte mich grässlich und wollte mich so nicht unter Menschen wagen.
»Wenn du mit komisch absolut wunderschön meinst, dann hast du recht«, Reeva zwinkerte mir aufmunternd zu, drückte mir meine braune Fransentasche in die Hand und schob mich schon Richtung Türe, bevor ich mich in irgendeiner Weise hätte querstellen können. »Du musst aufhören, dir immer Sorgen um alles zu machen. Wenigstens für einen Abend. Wir werden uns jetzt amüsieren, los geht's!«
Vielleicht hatte sie recht. Vielleicht sollte ich wenigstens für einen Abend nicht an das denken, was geschehen war. Aber vielleicht würde das schwerer werden, als ich es mir vorstellte - ironischerweise wegen der Person, mit der immer alles leichter gewesen war.
Dan.
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