8. Ausweg
Wundert euch nicht.
Um zu unterstreichen, das jetzt ein neuer Abschnitt in der Geschichte anfängt und alles ein wenig intensiver wird, ändert sich sowohl die Erzählform als auch die Zeit.
Und nun wünsche ich schauriges Lesen!
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Louisa
Alles geschieht so schnell, dass ich einen Augenblick brauche, um zu realisieren, was passiert ist. Zitternd atme ich ein und aus und versuche, gegen die Panik anzukommen. Erfolglos. Sie hält mich fest in ihren eiskalten Klauen, die sich tiefer und tiefer in mein Inneres bohren.
Das Erdbeben hat den Durchgang zu dem anderen Raum verschüttet hat. Und die anderen von mir getrennt.
Meine Hände zittern und meine Knie sind weich, als ich mich umdrehe und dorthin gehe, wo bis vor Kurzem noch ein Türrahmen war. Nun sieht es aus, als hätte es nie etwas anderes gegeben, als die Erde, die sich fest bis an die Decke auftürmt. Doch auch die Decke scheint aus Erde zu sein. Gerade so kann ich in dem Zwielicht Wurzeln erkennen, die zum Teil aus der Erde ragen. Hellere Flecken in der Dunkelheit.
Mein Mund ist trocken, als ich die Hände in die Erde grabe. Vielleicht kann ich mich auf die andere Seite graben.
„Hallo? Geht es euch gut?" Mein Herz zieht sich schmerzhaft zusammen, als mir bewusst wird, dass sie noch mehr eingesperrt sind als ich. Der Rückweg in den Tunnel scheint nicht mehr existent zu sein und uns trennt eine Erdwand.
Sie ist so fest, dass ein Nagel schmerzhaft einreißt. Doch mehr, als dass ich mir meine Finger schmutzig mache, kann ich nicht erreichen.
Am besten wäre es wohl, wenn ich hinauslaufe und Hilfe hole.
Tränen laufen stumm über meine Wangen, als ich mich erneut umdrehe und einen Fuß vor den anderen setze. Nur nicht daran denken, dass die Wahrscheinlichkeit, dass die anderen lebendig begraben worden sind, relativ hoch ist.
Ich will die anderen nicht verlassen, aber was bleibt mir übrig. Erst jetzt erkenne ich, dass eine vollkommene Stille herrscht.
„Hilfe!" Meine Stimme klingt viel zu hoch, viel zu überdreht. Sie schrillt in meinen Ohren. Doch nichts passiert. Also laufe ich den dunklen Flur entlang, zu dem Raum, in den Cassy und ich bei unserer ersten Runde eingesperrt worden waren. Auch hier findet sich niemand, es gibt keine Spur mehr von den Werwölfen oder von dem Menschen mit den Kerzenständern.
Ich stürze auf die Zelle zu, denn ich weiß, dass dort mein Ausweg liegt. Schon seltsam, wie schnell sich das Empfinden dafür ändern kann.
Die Gitterstäbe sind kalt und glatt, als ich die Tür aufreiße und auf die Wand zustolpere. Mein Atem kommt stoßweise und auch mein Herz rennt einen Marathon. Panisch suchen meine Finger eine Rille, einen Knopf oder Mechanismus. Schnell habe ich die komplette Wand abgesucht, so groß ist die Fläche nicht. Ohne Erfolg. Unter meinen Fingern kann ich lediglich die glatte kalte Wand fühlen.
Gut, dann werde ich es eben in dem anderen Raum versuchen. Den, den ich eigentlich meiden wollte. Ironischerweise scheint dieser mein einziger Ausweg zu sein. Ich renne aus der Zelle, halte mich am Türrahmen fest, um schnell um die Ecke zu kommen. Doch schneller als in Zeitlupe kann ich nicht vorankommen. Meine Knie sind weich und mit jedem Schritt habe ich das Gefühl zu Boden zu gehen. Gleichzeitig fühlt sich alles so surreal an, als würde ich schweben.
Und dann stehe ich vor einer verschlossenen Tür.
***
Maik
Hustend rappele ich mich langsam auf. Der Staub knirscht zwischen meinen Zähnen und hat meine Lunge ausgefüllt. Ich liege hustend auf dem Boden, bedeckt von einer dünnen Schicht Erde.
Alles tut mir weh. Was genau ist gerade passiert?
Ich sehe nichts, alles ist dunkel. Aber ich spüre von irgendwoher einen kühlen Lufthauch, der über mein Gesicht streicht. Irgendwo geht es also hinaus aus diesem ... Grab.
Die Angst, die in mir aufsteigt, hält sich in Grenzen. Immerhin muss es hier irgendwo Luft geben. Verschüttet bin ich auch nicht, aber was ist mit den anderen?
„Geht es euch gut?" Die Stimme, die an meine Ohren dringt, klingt rau. Es ist Leo.
„Ja", antwortet Cassy. Trotz der knappen Antwort ist das Schwanken ihrer Stimme unüberhörbar.
Neben mir höre ich, wie jemand tief einatmet. Und dann trifft es mich mit einem Schlag: Louisa hatte sich einige Meter vor ihnen befunden. Dort, wo jetzt der Erdhaufen ist. „Louisa!", brülle ich. Oder ich möchte es brüllen, doch die Angst, die in mir hochkriecht und immer mehr von mir Besitz ergreift, lässt meine Stimme kaum hörbar über meine Lippen kommen. Dieses Gefühl schnürt mir die Kehle zu.
„Maik", sagt Isabell, „wenn wir Glück haben, ist sie auf der anderen Seite und in Sicherheit."
Ich krieche wie über den Boden, komme viel zu langsam an der kürzlich entstandenen Wand an.
Meine Finger bohren sich in die Erde. Sie ist kalt und feucht, es gelingt mir tatsächlich, sie etwas zur Seite zu schaufeln. Die anderen reden auf mich ein, aber die Bedeutung der Worte kommt nicht bei mir an. Sie ist auch nicht wichtig.
Bereits nach kurzer Zeit komme ich nicht mehr weiter. Wann haben die Tränen damit begonnen, sich den Weg über meine Wangen zu bahnen? Ich wische sie nicht weg, sondern lasse sie auf den Boden fallen und darin versickern. Ich spüre, wie mein Herz Risse bekommt. Es stolpert, droht zu zerbrechen.
Eine Hand packt mich am Arm. „Da hinten ist ein Luftzug, von dort können wir bestimmt raus. Und dann von der anderen Seite zu Louisa. Wenn sie nicht schon dort wartet." Natürlich weiß ich, dass Cassy sich selbst damit mindestens soviel Mut zusprechen will wie mir selbst. „Das ist unsere Hoffnung. Nicht hier graben. Selbst wenn wir es schaffen, könnte dadurch noch mehr Erde runterkommen. Komm jetzt. Die anderen sind schon vorgegangen."
Kurz bewundere ich ihre Fähigkeit, in dieser Situation einen kühlen Kopf zu bewahren. Doch auch das ist ein unwichtiger, flüchtiger Gedanke.
Tatsächlich mussten sie in der Zeit, in der ich verzweifelt versucht hatte, sich auf die andere Seite zu graben, nach dem Ursprung des Luftzuges gesucht haben. Ich hatte es nicht mitbekommen und selbst jetzt fühlt sich das alles seltsam dumpf an. Nicht real. Zumindest nicht so real, wie der Dreck, der unter meinen Fingernägeln steckt.
„Hier ist wirklich ein Durchgang!" Leos Stimme klingt euphorisch.
Und es sind diese Worte, die mich wieder in diese Welt zurückholen. Die dafür sorgen, dass ich schnell durch die Dunkelheit stolpere, in die Richtung, aus der die Stimme kommt. Ich weiß, dass Cassy mir auf dem Fuß folgt. Je näher ich ihr komme, desto stärker wird der Luftzug.
„Helft mir Mal, da klemmt etwas. Eine Klappe oder so." Nun sehe ich schemenhaft die anderen. Gemeinsam drücken wir gegen das Holz, das unser Ausweg zu sein scheint. Und tatsächlich, auch wenn es verklemmt ist und wir alle viel Kraft aufwenden müssen, nach einiger Zeit gibt sie nach.
„Nicht aufgeben! Gleich haben wir es!“ Isabell ist die Anstrengung anzuhören.
Doch Stück für Stück hat sich ein schmaler Lichtschein vergrößert. Ein Lichtschein, der mir, der uns, Hoffnung gibt.
Dann, endlich, gibt die Klappe nach, fällt auf den Boden. Meine Lungen brennen, doch die Anstrengung war es wert.
Ich sehe unseren Ausweg vor uns. Es ist ein schmaler kurzer Tunnel. Am Ende gibt es Licht.
Die Risse in meinem Herzen scheinen nun nicht mehr so tief zu sein.
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