Kapitel 9
Zielstrebig führte ich Silvia aus der Bibliothek heraus, durch das Gängegewirr im Schloss und aus dem Schlosstor hinaus in die Außenwelt
Eine hügelige Landschaft, bedeckt von saftigem, grünem Gras erstreckte sich vor uns. Hier und da waren einige kleine, bunten Blumen zu sehen, die wie Farbtupfer über die ganzen Wiese verteilt waren. Eine idyllische Atmosphäre schien über der Aussicht zu liegen und neben mir riss Silvia überrascht die Augen auf.
Ich lächelte amüsiert. „Beeindruckt? Sowas darf ich mir übrigens den ganzen Tag anschauen", witzelte ich.
„Wo ich wohne, bekommt man nicht unbedingt so viel von der Natur mit", erklärte Silvia.
„Wollen wir ein wenig spazieren? Ich könnte dich ein wenig herumführen", bot ich an. Sie nickte begeistert.
Ein breiter, gepflasterter Weg führt vom Schloss hinunter in das Tal. Staunend lief Silvia hinter mir her. Alles, was ihr in die Quere kam, nahm sie genauer in Augenschein. Die kleinen lila Blumen, welche das Gras schmückten, die Insekten, die fröhlich brummend über die Wiese summten.
Es war interessant und ungewohnt, jemanden so viel Beachtung für Sachen schenken zu sehen, die für einen selbst zur Gewohnheit geworden sind.
„Habt ihr zuhause keine Wiesen mit Blumen?", fragte ich neugierig.
„Doch, klar. Aber eher außerhalb der Stadt. In der Stadt gibt es zwar auch einen Park, aber da gibt es nur gestutzte Grünflächen", antwortete Silvia.
„Wohnst du in einer großen Stadt?"
„Ja, Stuttgart ist schon recht groß"
Ich hakte nicht nach, was ein Stuttgart war, es musste wohl eine sehr langweilige Siedlung voller Häuser sein. Ich lebte in einem kleinen Dorf, das direkt neben einem weitläufigen Wald lag, am Rande der Hauptstadt. Bisher war ich nur einige Male in der großen Stadt gewesen und jedes Mal kam es mir zu groß und zu laut vor.
„Wollen wir uns irgendwo hinsetzen? Ich kenne einen hübschen See unweit von hier", erkundigte ich mich nach einer Weile.
„Ja, gerne", stimmte Silvia zu.
Wenig später erreichten wir den See. Das klare, türkisblaue Wasser schwappte sanft gegen das Ufer und das Sonnenlicht tanzte auf der Wasseroberfläche. Neben mir blieb Silvia sichtlich fasziniert stehen.
„Komm, ich zeig' dir einen schönen Platz!", rief ich und lief voraus.
Wir hockten uns auf die Wurzeln einer großen Trauerweide nahe dem Ufer. Seine langen, weichen Äste schwangen im Wind hin und her und ein angenehmer, kühler Wind wehte durch die Zweige.
„Was hast du die letzten Tage alles gemacht? Außer in der Bibliothek sitzen", fragte ich.
„Tatsächlich saß ich fast die ganze Zeit in der Bibliothek", meinte Silvia.
„Echt? Ist das nicht auf Dauer ziemlich langweilig?"
„Nee, für mich tatsächlich ziemlich interessant. Ich habe mich da mal durch eine Menge Fachliteratur über Portale, Spiegel, Geografie und Magie gewühlt"
Ich schüttelte ungläubig den Kopf. „Das klingt immer noch langweilig"
„Ich habe sogar einiges über Spiegelportale in Verbindung mit dem letzten Krieg hier bei euch herausgefunden. In einigen Zeitungen wurde die Möglichkeit angeboten, durch Spiegel in eine 'andere, bessere Welt zu gelangen'. Manche Personen versuchten ihr Glück dort, während einige nur ihre Kinder hinüber schickten, um ihnen ein besseres Leben zu ermöglichen", erzählte Silvia.
Ich nickte. „Das habe ich tatsächlich schon einmal gehört"
„Aber jetzt wäre da noch die Frage, warum sich dieses Portal völlig grundlos nach all den Jahren wieder aktiviert hat", fügte sie hinzu.
„Noch eine Sache: Eigentlich funktionieren die Portale nur für Menschen mit Magie", fiel mir ein.
Genervt seufzte Silvia: „Warum ist das alles so kompliziert?!"
„Aber könnte es nicht sein, dass du eigentlich von hier stammst und nur hinübergebracht wurdest?", gab ich zu bedenken
„Soweit ich weiß habe ich aber keine magischen Fähigkeiten", wandte sie direkt ein.
„Ist dir da noch nie etwas aufgefallen?", hakte ich nach.
„Nein"
„Das ist wirklich merkwürdig. Normalerweise zeigt sich eine magische Fähigkeit auch schon recht früh im Kindesalter"
Silvia schüttelte resigniert den Kopf. „Das ist in der Tat merkwürdig. Hoffentlich finden die auch so einen Weg, wie ich wieder nach Hause kann"
Mitleid stieg in mir hoch. Wenn ich plötzlich in eine andere, mir unbekannte Dimension gesogen wäre, ohne eine Möglichkeit zurück nach Hause zu gelangen, wäre ich auch ziemlich verzweifelt.
„Was für eine Fähigkeit hast du denn überhaupt?", fragte Silvia mich urplötzlich. Mit einem Anflug von Neugier blickte sie mich an.
„Macht der Erde und der Pflanzen", teilte ich ihr mit.
„Kannst du mir ... etwas zeigen? Es interessiert mich nur, wie das so funktioniert", fragte sie.
„Klar", meinte ich, „So spektakulär ist es nun auch wieder nicht"
Erwartungsvoll blickte sie mich an. Ich beugte mich ein wenig vor und strich mit meiner rechten Hand sanft über das Gras. Vorsichtig verband ich mich mit der Erde, die mich direkt in eine vertraute, warme Umarmung zog. Gedanklich zupfte ich an den magischen Fäden in mir und konzentrierte mich darauf, die heiße Lebensenergie über meine Hand auf die Wiese zu leiten.
An den Stellen, welche ich berührte, sprossen in rasch viele kleine, lila Blümchen hervor. Sie durchbrachen die Erde und reckten ihre zarten Blütenblätter Richtung Sonne. Beeindruckt blickte Silvia mich an.
„Nicht schlecht", lobte sie erstaunt.
Ich lächelte. „Das war doch nur etwas Kleines. Irgendwann werde ich auch ganze Bäume wachsen lassen können"
Mir entging Silvias faszinierter Blick nicht. „Und wo lernt ihr das alles? Habt ihr auch Schulen?", forschte sie weiter nach.
„Nein, wir haben kleine Gruppen, in denen wir alle ähnliche Gaben haben. Dort werden wir von einer erfahrenen Person unterstützt, unsere Magie zu beherrschen und anzuwenden. Meistens sind wir auch direkt in einem geeignetem Umfeld, wir sind zum Beispiel oft im Wald", fasste ich unser Lernsystem kurz zusammen.
„Das klingt auf jeden Fall lustiger als unsere Schulen", lachte Silvia, „und irgendwie auch lebensnaher"
„Was macht ihr denn?", fragte ich.
„Wir sind meistens in recht großen Gruppen mit Personen im ungefähr selben Alter in einer Klasse. Verschiedene Lehrer bringen uns dann unterschiedliche Sachen bei, unter anderem auch Mathematik, das ist so ein Unterricht über Zahlen"
„Ein ganzer Unterricht nur über Zahlen?", hakte ich verwirrt nach, „das klingt nicht besonders ... unterhaltsam. Braucht man das in eure Welt"
„Lustigerweise überhaupt nicht. Aber wir müssen es trotzdem lernen"
Ich schüttelte verwundert meinen Kopf. „Warum müsst ihr etwas lernen, was ihr nicht braucht?"
„Das stärkt anscheinend unsere Denkfähigkeiten", erklärte Silvia.
„Deine Welt klingt wirklich ganz anders als meine", meinte ich.
„Vielleicht kannst du mich ja irgendwann auch mal dort besuchen", schlug die Braunhaarige scherzhaft vor.
„Klar, warum nicht?", lachte ich. „Ist bestimmt mal eine interessante Erfahrung.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro