Kapitel 6
Leise schloss sich die massive Holztür hinter mir. Ich befand mich in einem großen, weitläufigen Saal, der genauso teuer aussah wie der Rest vom Schloss, den ich bisher zu Gesicht bekommen habe. Ich dreht meinen Kopf ein Stück zur Seite, um meine Umgebung genauer zu inspizieren und mir stockte der Atem.
Die Tapeten an den Wänden waren mit feinen Verzierungen geschmückt, die sich durch den gesamten Raum erstreckten. Jede Verschnörkelung schien eine eigene Geschichte zu erzählen. Zu meiner rechten Seite waren einige hohe Fenster, die einen fantastischen Ausblick auf das darunterliegende Tal ermöglichten.
Auch die Decke war mit denselben filigranen Verschnörkelungen geziert. Mit Überraschung stellte ich fest, dass es dieselben Verzierungen waren, die auch an meinem Schrank zu finden waren.
Am anderen Ende des Saals befand sich ein erhöhtes Podest. Einige Stufen führten hinauf zum prächtigen Thron, welcher ebenfalls mit den goldenen Schnörkeln verziert war. Darauf saß eine hübsche junge Frau, eindeutig die Königin.
Ihr leuchtend rotes Haar fiel ihr sanft auf die Schultern. Eine kleine, goldene Krone zierte ihr Haupt und demonstrierte ihre Machtposition. Ein rotes, edles Gewand mit goldenen Stickereien umhüllte sie.
Ich senkte instinktiv den Blick, als die Frau ihre durchdringenden grünen Augen auf mich richtete. Sie strahlte eine Autorität aus, die mich nicht daran zweifeln ließ, dass sie die Königin dieses Reiches war.
„Wie heißt du?", fragte sie mich. Sie sprach in einem freundlichen Tonfall, dennoch hatte ihre Stimme etwas Strenges, etwas Befehlendes, der mich davor warnte, ihr nicht zu antworten.
„Silvia Smith", antwortete ich mit leicht zitternder Stimme.
„Wie bist du in das königliche Schloss gelangt?"
Sag' ihr die Wahrheit, schossen mir Auroras Wörter von vorhin durch den Kopf.
Also tat ich das. Erneut erzählte ich die Geschichte, wie ich hergekommen bin, angefangen bei der mysteriösen Stimme aus meinem Schrank bis zu dem hellen, umherwirbelnde Licht.
Die Königin schwieg während meiner gesamten Erzählung und auch auf ihrem Gesicht zeigte sich keinerlei Regung. Ich wertete das als gutes Zeichen.
Als ich fertig war, bedachte mich die Königin mit einem langen, nachdenklichen Blick.
Nach einer kurzen Zeit, in der sich für mich jedoch die Stille wie ein Kaugummi in die Länge zog, fragte sie: „Du hast also eine Stimme gehört. Hast du sie, nachdem du hier angekommen bist, erneut vernommen?"
Ich schüttelte den Kopf.
Ich glaubte, für einen Moment etwas im Blick der Königin aufblitzen zu sehen. So, als würde sie einen seltenen, wertvollen Edelstein betrachten, der noch in ihrer Sammlung gefehlt hat. Im nächsten Augenblick war dieser Ausdruck allerdings wieder verschwunden und ich fragte mich, ob ich ihn mir nur eingebildet habe.
„Für das Erste wirst du hier bleiben müssen", erklärte sie, „Ich denke nicht, dass du etwas Böses im Schilde führst, dennoch werde ich dich weiterhin im Auge behalten lassen. Du darfst dich im westlichen Teil des Schlosses frei bewegen und für die nächste Zeit in deinem jetzigen Zimmer wohnen"
Bei diesen Worten habe ich für einen Moment das Gefühl, als würde mir der Fußboden unter mir auf einmal schwanken. Die ganze Zeit habe ich mich bisher nahezu verzweifelt an die Hoffnung geklammert, dass alles wäre nur ein Traum, oder ich wäre in wenigen Stunden wieder zu Hause.
Die Worte der Königin, der wichtigsten und wahrscheinlich mächtigsten Person im ganzen Land, zerschlugen meine Hoffnungen in Bruchstücke, die mich realisieren lassen, dass dies kein Traum war.
„Werde ich jetzt nicht mehr ... nach Hause können?", war das einzige, was ich hervorbrach. Meine Stimme klang brüchig.
Ein mitfühlender Ausdruck legte sich über das Gesicht der Königin. „So wie es aussieht, nicht in nächster Zeit. Allerdings sind unsere Magier bereits dabei einen Weg zu finden, wie du durch den Spiegel wieder zurückkehren kannst"
Das war auch nicht viel besser, denn wer wusste schon, wie lange diese Magier brauchen werden. Wahrscheinlich suchten meine Eltern und Elina schon verzweifelt nach mir und haben bereits die Polizei informiert, ohne dass irgendjemand wusste, dass sie mich niemals finden werden.
Ich versuchte, mich an die bestehende Möglichkeit, wieder zurückzukehren zu klammern. Vielleicht arbeiteten diese Magier recht schnell – oder es ist überhaupt nicht schwer, einen Durchgang zur Erde herzustellen.
„Gibt es eine Möglichkeit, mit meinen Eltern Kontakt aufzunehmen?" Diese Frage rutschte mir heraus, bevor ich den Gedanken dahinter in meinem Kopf ausformuliert habe. Wenn ich schon über einen – offensichtlich übernatürlichen – Spiegel hierhergelangt bin, gab es in diesem Königreich vielleicht noch ganz andere Möglichkeiten.
Bedauernd schüttelte die Königin den Kopf. Mein Hoffnungsschimmer erstarb.
„Wir werden daran arbeiten, dass du in naher Zukunft wieder zurückkehren kannst. Wenn du keine weiteren Fragen mehr hast, kannst du jetzt gehen", erklärte sie mir.
Ob ich weitere Fragen hatte? Ich wurde gerade über meinen Kleiderschrank, der seit ich denken kann, in meinem Zimmer stand, in eine andere Welt geschleudert. Natürlich hatte ich weitere Fragen.
Aber da diese Fragen den Rahmen wahrscheinlich sprengen würden, schüttele ich nur den Kopf.
„Ich danke Euch", murmelte ich und wandte mich zur Tür.
Meine Hand lag schon auf der Türklinke, als die Königin noch sagt: „Wenn dir etwas Ungewöhnliches auffällt, fühle dich frei, dich jederzeit an mich zu wenden"
Ungewöhnliches. Meine Vorstellung von ungewöhnlich wurde gerade gesprengt, also ja, mir ist eine Menge Ungewöhnliches aufgefallen.
Ich trat hinaus auf den Flur und schließe die Tür hinter mir. Eine merkwürdige Erschöpfung übermannte mich und ich lehnte mich an die kühle Steinwand.
In den letzten nicht einmal zwölf Stunden war so vieles passiert, welches mein gesamtes Weltbild einmal kurzerhand umgekrempelt hat. Ich schloss kurz die Augen, doch auch dadurch wurden die in meinem Kopf kreisenden Gedanken nicht weniger.
Einerseits war ich recht froh, dass ich nicht wie eine Verbrecherin in einem alten, nassen Kerker vor mich hinmoderte. Andererseits habe ich wirklich gehofft, mein kleiner Ausflug wäre nach dem Gespräch mit der Königin zu Ende.
Nein, so wie es aussah, war ich auf unbekannter Zeit an einem unbekannten Ort gefangen.
Der Gedanke, wie es hier mit der Zeitrechnung ablief, kam mir in den Sinn. Wenn ich Glück hatte, verging sie hier viel schneller, sodass bei meiner Rückkehr nur wenige Minuten auf der Erde vergangen sind.
Wenn ich Pech hatte – und das hatte ich in letzter Zeit offensichtlich reichlich – verging die Zeit hier um einiges langsamer und ich durfte bei meiner Rückkehr meine Eltern als Rentner begrüßen.
Was ich allerdings ganz eindeutig wusste: Bei meiner Rückkehr werde ich alle Möbelstücke in meinem Zimmer, ach was, im ganzen Haus, einmal auseinandernehmen müssen. Und für meinen Kleiderschrank war sowieso schon ein Plätzchen bei unserer nächsten Fahrt zur Deponie gesichert.
Ich seufzte und stieß mich von der Wand ab.
Was ich heute gelernt habe: Höre immer auf deine beste Freundin und gehe auf Partys, egal wie unnötig sie erscheinen mögen.
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