
Kapitel 1: Kraif
Die dunkle Straße schien nicht enden zu wollen. Die Sonne war vor einigen Minuten untergegangen und der Himmel hatte ein dunkles, fleckiges Grau-Blau angenommen. Die Luft war kühl und klar und der Weg zur Bushaltestelle nicht mehr weit. Es war Frühling und am Waldrand war der ein oder andere blühende Baum zu sehen. Die weißen Blüten stachen aus der dunklen Atmosphäre hervor wie Sterne an einem klaren Nachthimmel.
Nur das Tapsen von vier kleinen Pfoten und das Knirschen von ausgelatschten Sneakers waren zu hören.
Kyara war schon eine Weile so gelaufen und hatte versucht, einen Gedanken auszublenden, der in ihrem Kopf nun immer klarer wurde. Sie hatte keine besondere Lust darauf, wieder nach Hause zu kommen, eigentlich gar keine. Aber hier draußen konnte sie auch nicht viel länger bleiben, das wusste sie. Die Nächte waren noch bitterkalt und sie würde unfassbaren Ärger bekommen. Eigentlich war sie ja nur hier, um nachzudenken. Sie hatte sich ihren Hund geschnappt und war spazieren gegangen, sehr lange. So lange, dass sie jetzt den Bus nehmen musste, um nach Hause zu kommen, bevor es endgültig dunkel war.
Aber es hatte so viele Dinge gegeben, über die sie hatte nachdenken müssen...und sie drückte sich auch schon seit Stunden davor, wieder nach Hause zurück zu gehen. In der beinahe vollkommenen Stille stellten sich ihr immer wieder die gleichen Fragen.
Wie sie ihrer Ex-besten-Freundin Claire am besten aus dem Weg gehen konnte, warum ihr Vater ihr schon wieder das Reiten verboten hatte, wann sie wohl endlich aus diesem grässlichen Haus ausziehen und ihr eigenes Leben führen konnte, weit weg von Claire und allem, was sie zu Hause bedrückte.
Wie erwartet waren ihre Überlegungen, was ihre pubertären Probleme anging, wenig hilfreich gewesen, aber sie hatte einen klaren Kopf bekommen und das war auch schonmal was. In Kyaras normalerweise recht trostlosen Alltag war es notwendig, einen klaren Kopf zu behalten. Sie musste sich stets daran erinnern, was wirklich wichtig war.
Der wahrscheinlich größte Hoffnungsschimmer in Kyaras Leben war ihr bester Freund Gene. Er war genau die Person, die am besten an sie heran kam, ganz egal wie verschlossen sie auch war. Er war da, wenn sie ihn brauchte, versuchte zu helfen und hatte die wundersame Eigenschaft, sie allein mit seiner Anwesenheit zu beruhigen. Er gab sich alle Mühe mit ihr und sie versuchte seit eh und je ihm zu zeigen, wie dankbar sie ihm dafür war. Leider war sie nicht besonders gut darin.
Kyara wurde von einem kurzen Aufleuchten im Wald aus ihren Gedanken gerissen. Angestrengt kniff sie die Augen zusammen und versuchte durch die Brille zu erkennen, woher es kam. Sie bemerkte aber nur ein schwaches Leuchten zwischen den Bäumen. Kurz sah sie auf ihr Handy. Sie hatte noch genug Zeit. Als sie vorsichtig in Richtung des Leuchtens ging, fing Mailo an zu jaulen. Hätte sie auf die Intuition ihres Hundes gehört und wäre zurück gegangen, dann wäre vielleicht alles ganz anders gekommen. Aber sie war entschlossen, ihre Ankunft zu Hause so weit wie möglich hinauszuzögern.
Während sie also zwischen den Bäumen umherstolperte und der Himmel rasch immer dunkler wurde, fragte sie sich, wer oder was denn um diese Uhrzeit noch im Wald aufzufinden war. Mailo gefiel ihr waghalsiges Manöver überhaupt nicht, weshalb er sich, äußerst erfolgreich, dagegen zur Wehr setzte. Schließlich sah sich Kyara dazu gezwungen, seine Leine an einem dünnen Stamm festzuknoten und alleine weiter zu gehen.
Obwohl sie langsam ging stolperte Kyara, was sie nicht einmal mehr wunderte, und fiel unter einem Aufschrei einen kleinen Abhang hinunter.
Sofort hatte sie jegliche Orientierung verloren. In diesem Teil des Waldes war sie noch nie gewesen, er kam ihr überhaupt nicht bekannt vor, auch wenn sie früher häufiger hier gewesen war. Sie erkannte unter viel Moos und Gestrüpp gerade noch so einen steinernen Torbogen. Er war filigran und aufwendig mit Teufels- und Engelsköpfen verziert und sah unglaublich alt aus. Das Leuchten war inzwischen nur noch ein Schimmern und es war schwer überhaupt etwas zu erkennen, trotzdem verschlug es ihr den Atem.
Die Kreatur, die vor dem Torbogen lauerte, sah aus als wäre sie einem Horrorfilm entlaufen. Sie stand etwa zehn Meter von Kyara entfernt und starrte aus beängstigenden pupillenlosen Augen in ihre Richtung. Sie war schwarz, mit ledriger Haut und fledermausartigen Flügeln. Sie sah ein bisschen aus wie ein zu klein geratener Drache, oder eine riesige Echse mit Flügeln. Der leuchtende Teil war ein Art glühende Kugel auf dessen Stirn, die aussah wie bei einem Angler Fisch.
Die Kreatur hatte spitze Zähne, was deutlich zu sehen war als sie ihr Maul öffnete -aus dem eine widerwärtige Substanz tropfte- und einige zischende Laute von sich gab. „Muss dich Patrick bringen...Hunger...will...fressen!" Die Laute hallten nur in ihrem Kopf wieder, als würde sie sich nur einbilden, dass das Monster sprach. Aber es stand wirklich vor ihr, echt und bedrohlich.
„W-was?"
Kyara stolperte benommen einige Schritte nach hinten, unfähig irgendetwas zu tun. Im Kopf ging sie die Dinge durch, die sie heute gegessen hatte. Sie fand nichts, was ihres Wissens nach Halluzinationen hervorrufen könnte. Sie könnte irgendwie hingefallen sein. Vielleicht war sie über eine Wurzel gestolpert und hatte sich den Kopf angeschlagen. Vielleicht lag sie gerade irgendwo auf dem Waldboden und verblutete. Der Gedanke daran, erschien ihr auf eine seltsame Weise beruhigend.
Sie hörte Mailo aus der Ferne aufheulen. Was hier gerade passierte fühlte sich weder an wie ein Traum noch wie eine Halluzination. Allerdings bekam sie langsam Angst, trotzdem bald nicht mehr aufzuwachen.
Hektisch sah sie sich um. Ihr Puls begann zu rasen und ihr Atem ging ungleichmäßig. Sie konnte nicht weg rennen und Mailo hier lassen. Das würde sie sich nie verzeihen. Sie hatte aber nicht mehr die Zeit, ihn los zu machen. In der Zeit würde das Vieh sicher schon angreifen. Also musste sie sich irgendwie verteidigen. Hätte sie etwas länger darüber nachgedacht, dann wäre ihr vielleicht aufgefallen, dass ihr Plan einige winzige Lücken aufwies. Aber zumindest konnte sie sich aus ihrer Starre lösen und zu rennen, bis sie auf dem Boden einen spitzen Ast fand.
Ich hab nicht den Hauch einer Chance, dachte sie. Mit dem notdürftigen Speer bewaffnet versuchte sie das Monster zu bekämpfen. Als es auf Kyara zu kam, wich sie ungelenk aus und versuchte, ihm den Ast zwischen die Rippen zu stoßen. Es sah aber mehr so aus als hätte sie das Monster nur gepiekst und verärgert. Es war ungefähr zwei Köpfe größer als Kyara und schien geradezu hämisch zu grinsen. Dann schoss es blitzartig auf sie zu. Kyara versuchte auszuweichen, aber das Monster war viel zu schnell. Es warf sie zu Boden und biss fest in ihre Schulter.
Ein Schrei tönte durch die Nacht. Ein brennender Schmerz zog sich durch Kyaras Schulter, er war kaum auszuhalten. Sie rappelte sich mühsam auf und sah sich um. Allerdings hatte sie dabei ihre Brille verloren, weshalb sie reichlich wenig erkennen konnte. Um genau zu sein gar nichts. Im Knien tastete sie den Waldboden nach ihr ab und verfiel in Panik. Als Kyara sie endlich gefunden hatte, setzte sie sie hastig wieder auf. Der Schmerz war beinahe unerträglich und sie begann zu verzweifeln. Es war als würde sich etwas durch ihren Körper fressen.
Ein weiteres Quietschen ertönte. Der Hund hatte sich losgerissen und rannte auf sie zu.
„Nein! Renn weg, Mailo!", schrie sie verzweifelt. Das konnte er doch nicht tun! Der Schmerz breitete sich schnell von ihrer Schulter über ihren Oberkörper aus. Kyara sah ihr Ende kommen. Noch ein Mal versuchte sie mit letzter Kraft zuzustechen. Allerdings verpasste sie es, dabei den Stock fest zu halten. Er rutschte aus ihrer Hand, leuchtete kurz blau auf und gewann plötzlich rapide an Geschwindigkeit. Der improvisierte Speer spießte ihren Angreifer regelrecht auf. Das Monster ging mit einem gurgelnden, zischenden Geräusch zu Boden. Einfach so. Im Stillen dankte Kyara ihrer Unsportlichkeit und sank kurz darauf benommen zu Boden.
Ihr war schwindelig und schlecht und sie merkte, dass sie langsam aber sicher das Bewusstsein verlor. Vor ihren Augen verschwamm die Realität und sie musste sich anstrengen, um klar sehen zu können. Mailo jaulte auf und rannte panisch um sie herum. Was auch immer das war, niemand würde es ihr glauben. Aber das machte jetzt auch keinen Unterschied mehr, schließlich würde sie sowieso sterben.
Ein weiteres Mal leuchtete etwas auf. Es war der Torbogen. Plötzlich stand jemand dort. Kyara konnte ihn oder sie nicht erkennen, weil es inzwischen Nacht geworden war, aber die Person lief auf sie zu. Sie versuchte sich aufzurichten, aber der Schmerz, der inzwischen ihren gesamten Körper zum beben brachte, hinderte sie daran. Gequält stöhnte sie auf und ließ sich vorsichtig wieder zurück auf den kalten Boden sinken.
„Na, wie liegt es sich so? Ist es gemütlich?", fragte dieser Jemand. Eindeutig männlich. Sie konnte sein hämisches Grinsen förmlich spüren. „Wer bist du? Weißt du was das war?", fragte sie, deutete in Richtung Kreatur und versuchte angestrengt so zu klingen als hätte sie nicht die absolut höllischsten Schmerzen ihres Lebens. Sie dachte nicht darüber nach, dass er gerade erst gekommen war und möglicherweise auch keine Ahnung von Drachen hatte.
Er kam näher und plötzlich war da ein grelles Licht. Es schien von seiner rechten Hand auszugehen. „Das ist jetzt nicht wichtig. Ich muss dich in die Zentrale bringen, der Biss eines Kraifs ist tödlich. Ich hoffe das weißt du! Was machst du hier eigentlich alleine?" Auf einmal schien er ziemlich schockiert zu sein. Er kniete sich über sie und wedelte mit der Hand vor ihrem Gesicht herum, um zu testen, ob sie noch bei vollem Bewusstsein war. Sie blinzelte ein paar Mal. „In die was bringen?", fragte sie verwirrt.
Er sah sie nachdenklich an. Sie spürte, wie das Gift langsam ihre Sinne benebelte. Sie wollte nur noch aus diesem bizarren Traum aufwachen. Der Junge war bei genauerer Betrachtung etwa in ihrem Alter, großgewachsen und dunkelhaarig. Mehr konnte sie nicht erkennen.
„In die Zentrale, du weißt schon, da wo alle Lichten in unserer Umgebung hin kommen." Er machte eine kurze Pause. Ob er wohl daran dachte, dass sie keine Ahnung hatte wovon er sprach?
„Du hast den Kraif doch getötet, oder?" Sie drehte den Kopf zu Seite und erkannte die Leiche des Monsters, dass sie angegriffen hatte. Sie schien zu verblassen, so als wäre sie niemals real gewesen. Dann nickte Kyara. Er holte etwas Spitzes aus seiner Tasche und kam ihr damit entschieden zu nahe. „Was ist das?!", fragte sie panischer als sie beabsichtigt hatte. Kyaras Schulter drückte gegen eine Wurzel und sie zuckte vor Schmerz zusammen. Etwas, das sie eigentlich hatte verhindern wollen. Er half ihr wortlos auf, so, dass er sie über dem Boden hielt. „Ich werd' jetzt deine Schmerzen abstellen, keine Sorge es tut nur kurz weh."
„Wie bitte? Was..." zu mehr kam sie nicht. Sie merkte nur noch wie er ihren Arm nahm und ihn mit der Spitze von was auch immer es war -es war eine Art bläulich glänzender Zauberstab- aufschnitt und dabei etwas in einer fremden Sprache murmelte. Es tat kurz weh, wie ein brennen unter der Haut. Dann wurde sie ohnmächtig...
„Verdammte Scheiße!" Schon wieder antwortete Gene nur die Mailbox. Er raufte sich verzweifelt durch die Haare. „Kitz, wenn du das hörst, dann melde dich bitte! Ich versuche schon seit Stunden, dich zu erreichen und du gehst einfach nicht an dein Handy! Ich mache mir langsam echt Sorgen, okay? Ruf endlich zurück, sonst komm ich dich suchen! Du kannst auch bei uns bleiben, wenn du nicht nach Hause willst und du weißt, dass du mit mir über Claire reden kannst. Du kennst meine Meinung über sie...bitte. Ich weiß, dass du ihr viel erzählt hast, aber niemand macht dir Vorwürfe. Am allerletzten ich. Bitte ruf zurück und tu ja nichts Unüberlegtes!" Er konnte die Verzweiflung in seiner Stimme nicht unterdrücken.
Sie war weg. Keine Nachricht, kein Anruf, keine Information. Nichts. Das war nicht normal, nicht einmal für Kyara. Sie konnte doch wenigstens mit ihm sprechen!
Sie zeigte nicht gerne ihre Gefühle. Nur ihm und vor einiger Zeit auch Claire, aber das war jetzt vorbei. Zur Zeit machte Kyara ihm Angst. Ihre Augen waren noch leerer als sonst, sie war immer angespannt und nervös, sie sprach und aß kaum noch. Er hatte Angst, dass sie vielleicht doch nicht so stark war wie sie immer tat. Sie würde es sich nicht eingestehen, aber es ging ihr miserabel.
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