Kapitel Vierzig: Tiefpunkt
Vor 5 Jahren
Weitere zwei Wochen vergehen, in denen ich nichts von ihm gehört oder gesehen habe. Mein anfängliches Verdrängen hat sich in Luft aufgelöst, weshalb mir wieder jeder ansehen kann, wie es mir wirklich geht. Einige Tage hat diese Maske gut funktioniert, nur ist es schwer sie aufzubehalten, wenn ich bei jeder Kleinigkeit an ihn erinnert werde.
Mitch habe ich seitdem nicht mehr gesehen, dafür hat sich Rick immer mal wieder bei mir gemeldet. Ich bin mir nicht sicher, aber könnte es sein, dass auch er einen solchen Brief erhalten hat? Immerhin sind viele davon im Umlauf und ich könnte es Hunter zutrauen, dass er sich von ihm verabschieden wollte. Auch, wenn es nur in Briefform ist.
Auch das Geflüster hat wieder seinen Lauf genommen, die meine Familie in der unteren Etage betreibt. Nur haben sie anscheinend nie das Prinzip verstanden, da ich sie bis hierher hören kann. Es ist ein leichtes, das auszublenden, denn wenn ich in diesen Wochen eines gelernt habe, ist, dass man Dinge einfach ignorieren kann.
Kraftlos hieve ich mich aus dem Bett, ziehe mir eine Jacke über und öffne das Fenster. Bisher bin ich immer unten zur Tür raus, aber heute habe ich keine Lust auf ihre ständige Fragerei. Aus diesem Grund steige ich aus dem Fenster, halte mich an dem Ast fest und klettere vorsichtig rüber zum Baum. Früher hab ich diesen Baum verflucht, weil keine Sonnenstrahlen in mein Zimmer gelangen konnten. Heute bin ich froh über ihn, da er meinem verschwinden hilft.
Langsam bewege ich mich vorwärts, setze ein Schritt nach dem anderen und hole erleichtert Luft, als ich endlich drüben bin. Jetzt ist es ein leichtes von dem Baum herunterzuklettern und schon bin ich weg, ohne das es jemanden mitbekommen hat.
Ohne ein Ziel laufe ich die Straßen runter, biege beim Park rechts ab und gehe weiter. Ich bin viel zu tief in meinen Gedanken vertieft, sodass ich nicht bemerke, wohin mich mein Unterbewusstsein führt.
Ist es normal, dass ich mich nach dieser Zeit noch immer frage, wieso er weg ist? Was ihn genau dazu getrieben hat? Denn wenn er mich nicht angelogen hat – was ich auch nicht denke, da er immer ehrlich war – dann müsste seine Liebe zu mir fast genauso groß sein wie meine. Das heißt für mich, dass es einen triftigen Grund geben muss für sein verschwinden.
Meine Umgebung nehme ich erst wahr, als ich das eingeritzte Herz im Baumstamm sehe. Ich bin – ohne es zu wollen – zu unserem Lieblingsort gelaufen, von dem niemand etwas weiß. Tränen bilden sich, bannen sich einen Weg über meine Wangen, nachdem ich meine Hand auf genau dieses Herz lege. Ein Druck baut sich in meiner Brust auf, meine Lungen kriegen keine Luft und das Bedürfnis alles rauszuschreien wird immer größer.
Ohne darüber nachzudenken, brülle ich laut los. Ich schreie den ganzen Schmerz aus mir heraus. Die Wut, Verzweiflung und die Trauer hört man in meinem Schrei, der sich herzzerreißend anhört. Meine Stimme bricht und völlig entkräftet breche ich auf dem Boden zusammen und überlasse den Tränen und meinem Schluchzen die Überhand. Mein ganzer Körper schüttelt sich, lässt es geschehen und immer wieder wimmere ich auf.
Wieso? Wieso muss uns so etwas passieren? Konnte unsere harmonische Beziehung, die so perfekt für mich war, nicht einfach weitergehen? Wieso hat er mich nicht eingeweiht, mich um Rat gefragt? Bin ich ihm völlig egal?
Ich sollte ihn hassen, verfluchen und zum Teufel jagen und doch lässt mein Herz das nicht zu. Egal, wie tief ich gefallen bin, er muss seine Gründe haben, die ich nicht kenne und hat deswegen diesen Hass nicht verdient.
Irgendwann sehe ich, wie dunkel es bereits ist. Ich hab gar nicht bemerkt, wie schnell die Zeit um ist und was mich dazu noch verwundert, ist, dass niemand nach mir sucht. Schnell suche ich nach meinem Handy, durchwühle alle Taschen und stelle fest, dass es noch zu Hause liegt.
Verdammt.
Meine Familie macht sich bestimmt Sorgen um mich und hat sicher einen Suchtrupp nach mir geschickt. Schnell rapple ich mich auf, verlasse diesen Platz und werfe noch schnell einen Blick nach hinten. Es wird das letzte Mal sein, dass ich hier aufkreuze, denn ohne ihn ist dieser Ort nur trist und dunkel, als hätte die Sonne entschieden hier kein Licht mehr zu spenden. Denn ohne ihn ist es nicht das Gleiche.
Eine kühle Luft lässt mein Körper zittern, weshalb ich meine Arme überkreuze, damit mir wärmer ist. Da ich in diesem Moment keine Lust auf eine Predigt von meinen Eltern habe, ändere ich die Richtung und stehe fünf Minuten später vor dem Haus meiner besten Freundin. Gerade als ich anklopfen will, wird die Tür hektisch aufgerissen und einen Moment später spüre ich zierliche Arme um mich.
„Gott sei Dank. Es geht dir gut“, höre ich Faith erleichtert rufen. Fest drückt sie mich an sich, dreht ihren Kopf nach hinten, wo ihre Mutter steht. „Informierst du bitte Will und Paula, dass Haylee bei uns ist und es ihr gut geht?“
Ihre Mutter Samantha nickt, wirft mir noch einen mitfühlenden Blick zu und verschwindet wieder im Haus. Diesen Moment nutzt Faith, um mir ins Gesicht zu sehen und mich durchzuschütteln. Ihre Augen haben sich zu schmalen Schlitzen geformt
„Bist du von allen guten Geistern verlassen worden? Du kannst doch nicht, ohne dein Handy einfach verschwinden und niemanden sagen, wohin du gehst. Weißt du, was wir uns für Sorgen um dich gemacht haben? Dein Vater hat einige Leute angerufen, die dich Suche gegangen sind. Wo warst du bloß?“
Ihr Gesicht wird ganz rot. Ich kann ihre Wut sehen, die sich mit Erleichterung und Besorgnis mischt, aber ich kann nichts darauf antworten. Dieser Ort war schon immer unser Geheimnis und auch wenn es kein uns mehr gibt, werde ich ihn nicht veraten. Meine Arme schlingen sich um ihre Taille und ohne dass ich es aufhalten kann, breche ich wieder in Tränen aus.
„Es tut mir leid, aber ich musste raus. Dieses ganze Gerede kann ich nicht mehr hören, sonst werde ich noch durchdrehen. Mehr als jetzt schon.“
„Hey, beruhige dich. Es wird alles gut“, redet Faith auf mich ein. Doch egal wie sehr ich es auch versuche, die Tränen hören nicht auf und da wird mir klar, dass ich kurz vor einem Nervenzusammenbruch stehe.
Ich werde Hilfe brauchen, denn alleine schaffe ich das nicht.
Hallo, beste Freundin
Auch wenn ich es nie zugegen habe, weißt du, dass du ebenfalls meine beste Freundin bist. Wir haben so viele Sachen erlebt, die ich nie in meinem Leben missen will. Das, was ich dir bis heute nie vergessen werde, ist, als du mir eine reingehauen hast.
Aber dieses Missgeschick zeigt mir, dass Haylee bei dir in guten Händen ist. Achte weiter auf sie, weil ich leider nicht mehr da sein werde. Bring sie auf andere Gedanken, versuche sie abzulenken und lass sie mich vergessen, auch wenn ich das nie könnte. Denn dieses Mädchen ist die Liebe meines Lebens.
Bedauerlicherweise muss ich fort und sie und mein Herz hier lassen. Sei für sie da, dafür wäre ich dir sehr verbunden.
PS: der Deal mit dem Café steht noch, nur gibt es eine kleine Planänderung. Sie wird niemals erfahren, dass ich dafür verantwortlich bin. Du musst mir versprechen, diese Information für dich zu behalten.
Alles Liebe
Hunter James
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