Kapitel Vierundzwanzig: Familie James
Vor 7 Jahren
Mein Blick gleitet über mein Zimmer, sieht sich alles genau an bis er bei meinem Spiegelbild stehen bleibt. Kritisch mustere ich mein Erscheinungsbild ganz genau. Ein dunkelroter Rock mit gepunkteten Strumpfhosen umschmeicheln meine Beine, dazu habe ich eine schwarze Bluse kombiniert und meine Haare in großen Locken frisiert.
Meine Augenbrauen sind skeptisch zusammengezogen, während ich nicht weiß, was ich mit meinen Händen tun soll. Bin ich richtig gekleidet oder ist das zu viel? Völlig überfordert weiten sich meine Augen, weswegen ich ruckartig mein Zimmer verlasse und auf das von Ella zu steuere. Sie kann mir bei diesem Dilemma sicherlich weiterhelfen.
Ohne vorher anzuklopfen, platze ich rein und entdecke meine Schwester an ihrem Schreibtisch über ihre Lernbücher gebeugt sitzen. Dieser Anblick ist in meinem jetzigen Gemütszustand mehr als verwirrend, weshalb ich erschrocken stehen bleibe und sie nur wie ein anderes Wesen ansehen kann.
Seit wann lernt meine kleine Schwester? Ich hab noch nie gesehen das sie irgendwas für die Schule tut.
Durch mein plötzliches Auftreten zuckt Ella zusammen und dreht sich zu mir um, die Hand auf ihrer Brust platziert.
„Sag mal gehts noch? Du kannst mich doch nicht so erschrecken, Hails", donnert sie gleich los, nachdem sie sich wieder erholt hat.
Ihre Augen funkeln mich wütend an, als hätte ich sie bei etwas ertappt. Damit ich sie nicht noch mehr in Verlegenheit bringe, ignoriere ich ihre Reaktion und konzentriere mich wieder auf mein eigenes Problem.
„Tut mir leid, Ella. Aber ich brauche deine Hilfe. Ich hab das Gefühl, ich drehe hier noch durch", gebe ich verzweifelt zurück.
Ihr Blick wird weicher, die Augen nehmen eine sanfte Farbe an und ihre ganze Haltung wirkt offener als zuvor. In dem Moment als die bemerkt, dass ich ihre Hilfe brauche, hat sich alles an ihr verändert. So wie schon immer. Auf meine kleine Schwester war und ist immer Verlass, denn sie hat mich noch nie im Stich gelassen.
„Worin brauchst du meine Hilfe?", erkundigt sie sich und steht langsam auf.
„Wie bin ich angezogen? Ist das richtig so? Ich meine, ich kenne Mitch mein Leben lang, aber nicht seine ganze Familie. Wie soll das denn gehen?"
Während ich meine ganze Aufregung kund getan habe, bin ich die ganze Zeit hin und her gelaufen, bis sich Ella mir in den Weg gestellt hat. Ihre Hände finden den Weg zu meinen Schultern und leicht drückt sie zu.
„Atme tief ein, Hails."
Wie in einer Übung macht sie es mir vor und ich nach. Meine Lunge füllt sich mit Luft, klärt meinen Verstand und doch will diese blöde Aufregung nicht verschwinden.
„Es klappt nicht", beschwere ich mich und reiße mich von ihr los. „Was, wenn sie mich nicht mögen? Es muss doch einen Grund haben, wieso ich sie erst nach zwei Jahren Beziehung kennenlerne."
Meine Gedanken überschlagen sich. Die Loopings drehen sich und bescheren mir Kopfschmerzen, sodass ich mein Gesicht verziehe und meine Schläfen massiere.
Auf einmal beginnt meine Wange fürchterlich anzubrennen, weshalb ich stehe bleibe und Ella mit großen Augen ansehe, da ihre Hand noch in der Luft ist.
„Hast du mir gerade eine Ohrfeige verpasst?", hake ich fassungslos nach.
Gelassen zuckt sie mit den Schultern und zeigt mit dem Finger auf mich.
„Du hättest mir ein Loch in den Boden getreten, also bedanke dich, große Schwester."
Entsetzt und schockiert streichle ich meine Wange, die noch immer kribbelt und schüttel dabei meinen Kopf. Ich kann nicht fassen, dass Ella mich tatsächlich geschlagen hat.
„Du bist doof", murmle ich eingeschnappt und seufze laut auf.
„Aber es hat geholfen. Du atmest wieder normal und deine Aufregung ist verschwunden", gibt sie trocken zurück und setzt sich auf ihr Bett.
„Also nochmal, wo genau brauchst du meine Hilfe? Du siehst süß aus in diesen Klamotten. Etwas anderes solltest du nicht anziehen und deine Frisur ist perfekt."
Noch immer starre ich Ella an, während mein Verstand ihr gesagtes verarbeitet. Aber sie hat recht. Meine Atmung hat sich normalisiert und auch meine komischen Zuckungen sind weg. Dankbar kreische ich auf und stürze mich auf sie, sodass wir zusammen auf ihr Bett fallen. Lachend schubst sie mich von sich, weshalb wir jetzt nebeneinander liegen und uns in die Augen sehen.
„Danke, kleine Schwester. Genau das hab ich gebraucht."
„Ich weiß. Und keine Angst, du wirst sie alle vom Hocker hauen, wie uns alle auch."
°°○°°
Tief atme ich ein und sehe mir das kleine Haus an, in dem mein Freund mit seinem Vater wohnt. Dadurch dass mein Fenster offen ist, kann ich Stimmen hören, die sich im Garten befinden. Hunter wollte mich eigentlich abholen, aber das wollte ich nicht. Wenn seine Familie schon mal in der Stadt ist, sollte er mit ihnen so viel Zeit wie möglich verbringen und sich nicht um mich kümmern.
Sollte ich sie wirklich bei diesem Treffen stören? Ich gehöre doch nicht zu ihrer Familie.
Mein Smartphone leuchtet auf, weswegen ich es in die Hand nehme und mir ein Schmunzeln nicht verkneifen kann
′Wie lange willst du noch im Auto bleiben? Kneifen gilt nicht, Zimtschnecke.′
Kopfschüttelnd lache ich laut los. Hat er mich vom Fenster aus beobachtet? Da mein Fluchtplan nicht aufgeht, öffne ich die Türe und steige aus. Die Schokolade und den Wein habe ich fest in den Händen und zögerlich nähere ich mich der Eingangstür.
Bevor ich überhaupt nachdenken muss wie genau ich jetzt klingeln soll, wird die Tür bereits geöffnet und ein grinsender Hunter kommt zum Vorschein.
„Na Hails, hast du es auch mal aus dem Auto geschafft?"
Meine Wangen färben sich vor Verlegenheit rot, auch wenn ich meine Augen angriffslustig zusammenkneife.
„Siehst du ja, Kuschelbär. Wo ist Mitch? Ich hab hier was für ihn."
Ich will gar nicht auf seine Provokation eingehen, da wir nur wieder stundenlang diskutieren würden, so wie es bei zwei Sturköpfe der Fall ist. Deshalb suchen meine Augen nach seinem Vater, der eigentlich genauso aussieht wie Hunter nur ein wenig älter und kleiner.
„Er ist im Garten. Komm, ich bring dich zu ihm, auch wenn ich lieber mit dir hier bleiben würde, wo wir alleine sind."
Skeptisch runzle ich meine Stirn. Wenn ich es bis hierhin geschafft habe, will ich jetzt nicht kneifen. So viel Stolz besitze ich noch und dieses Mal lasse ich mich nicht um den Fingern wickeln.
„Keine Chance, Badboy. Ich lerne heute deine Familie kennen."
Entschlossen trete ich ein und steuere gezielt den Garten an. Ich will endlich meine Hände wieder freihaben und Mitch aufsuchen. Er ist, außer Hunter natürlich, der einzige den ich auf dieser Gartenfeier kenne. Viele Menschen stellen sich mir in den Weg, lächeln mich an oder ziehen verwirrt die Augenbrauen zusammen, da sie mich nicht kennen.
Aber keiner von ihnen sieht mich verärgert oder missachtend an. Wenigstens ist mir dieses Glück gegönnt und dieser Abend könnte ich als einen Erfolg verbuchen.
Hinter dem Grill sehe ich zwei Männer mittleren Alters, die zusammen lachen und ein Bier trinken. Den einen kenne ich nicht, jedoch kann ich den anderen als Mitch James identifizieren. Glücklich über meinen Fund stolziere ich schnurstracks zu ihnen.
Kurz vor meinem Ziel sieht Mitch in meine Richtung und lächelt mich an. „Haylee, schön dich zu sehen", begrüßt er mich und streckt mir seine Hand entgegen.
„Hi Mitch, danke für die Einladung." Ich drücke ihm die Schokolade und den Wein in die Hand und lächle ihn zuckersüß an, da ich erleichtert bin endlich wieder freie Hände zu haben.
„Das ist für dich. Ich hätte dir gerne die Hand gegeben, aber mit vollen Händen ist das leider nicht möglich."
Lachend stellt er die Sachen auf den Tisch, bevor er den zweiten Versuch wagt. „Alles gut, Haylee. Darf ich dir meinen Bruder vorstellen? Das ist Rick James, der älteste von uns."
Lächelnd begrüße ich auch ihn.
„Wo hast du denn Hunter gelassen? Sonst klebt er doch immer an deiner Seite?", fragt Mitch und sieht sich suchend um. Erst jetzt fällt mir auf, dass er nirgendwo zu sehen ist.
„Ich bin hier, du alter Mann." Zwei Arme schlingen sich um meine Taille. Sein Geruch steigt mir in die Nase, während Rick sich umdreht und das Fleisch auf dem Grill wendet.
„Hast du Hunger?", erkundigt sich der Grillmeister, bevor er mir einen Teller in die Hand drückt, ohne meine Antwort abzuwarten und mir zuzwinkert.
„Natürlich hat sie das. Du kannst dir nicht vorstellen, wie viel Essen sie in sich stopft. Das habe ich noch nie gesehen, Onkel Rick", mischt sich Hunter ein und bringt uns alle zum Lachen.
Dieser Idiot.
Plötzlich dreht sich Hunter der Menge zu.
„Leute, das ist meine Freundin Haylee. Seid nett zu ihr, sonst bekommt ihr nichts zu essen, verstanden?"
Alle nicken uns zu und lachen lauthals los. Diese Familie wirkt auf den ersten Blick verrückt. Aber aus diesem Grund fühle ich mich wohl bei ihnen.
Denn diese Familie gefällt mir jetzt schon.
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