Kapitel Sechzehn: erster Abschied
Vor zehn Jahren
Mit einem mulmigen Gefühl sehe ich mein Zimmer an und seufze laut auf. Jedes Foto, das auf meiner Zimmerwand hängt, lässt mein Herz schwer werden und meine Augen schließen. Noch nie war ein Abschied so bedrückend wie dieses Mal. Sonst war es ein leichtes mein zu Hause zu verlassen, ins College zu fahren, um mich meinem Studium zu widmen. Denn ich weiß doch, dass ich in ein paar Wochen wieder hier sein werde. Aber dieses Mal habe ich einen ganz bestimmten Grund, weshalb mein Herz einen schmerzlichen Stich von sich gibt und mir die Luft zum Atmen nimmt.
Hunter James.
Mein Hunter James. Es fühlt sich falsch an, diesen besonderen Jungen zu verlassen, auch wenn ich weiß, dass wir uns in ein paar Wochen wiedersehen. Jedoch fällt es mir extrem schwer dieses Mal loszulassen. Mit einem kleinen Schrei lasse ich mich auf mein Bett fallen, ignoriere dabei meine Reisetasche und vergrabe meinen Kopf unter dem Kissen. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass wenn ich mich verstecke und mir nichts als Dunkelheit vor die Augen kommt, es besser wird und ich nirgendwohin gehen muss. Es wäre einfach hier zu bleiben, mit ihm zusammen und das Studium zu schmeißen.
Aber sobald ich diesen Gedanken zu Ende denke, kommt Wut in mir auf. Wut auf mich selbst, weil ich mich vor dieser Herausforderung drücken möchte und etwas abbreche, auf das ich mein ganzes Leben hingearbeitet habe.
Das wäre vielleicht meine Schwester, aber nicht ich. Ich war immer Stolz auf meinen Ehrgeiz, der mich in allen Bereichen begleitet und meine Leistungen in die Höhe katapultiert. Deshalb verstehe ich nicht, wieso sich auf einmal solche Gedanken in meinen Kopf schleichen.
Völlig überfordert nehme ich mein Kissen in die Hand und umarme es, als würde ich somit ein wenig Trost bekommen. Ein leises Klopfen bekommt meine Aufmerksamkeit und müde wende ich meinen Kopf zur Tür. Meine Mutter steht im Türrahmen, hat ein schwaches Lächeln auf den Lippen und kommt auf mich zu, um auf der Bettkante Platz zu nehmen.
„Was ist los, Schätzchen?"
Stumm schüttle ich meinen Kopf, um somit meinen Blick von ihrem abzuwenden, damit ich das Traurige darin nicht sehen muss. Sie weiß genau, weshalb ich mich so schlecht fühle. Krampfhaft versuche ich meine Tränen zu unterdrücken, die mir jeden Moment runter kullern möchten.
Leise seufzt meine Mutter auf und streichelt mir durch meine Haare. Ein bekanntes Gefühl strömt durch mich hindurch und versetzt mich in meine Kindheit zurück, als meine Mutter mir jedes Mal vor dem Schlafen gehen, meine Haare liebkoste und ich somit in den Schlaf abdriftete.
„Es ist doch kein Abschied für immer. Ihr könnt euch doch an den Wochenenden besuchen und es gibt doch auch diese Videoanrufe."
Der Versuch meiner Mutter mich aufzuheitern, zaubert mir ein Lächeln ins Gesicht. Ihr Unwissen über Smartphones bringt mich jedes Mal zum Schmunzeln und das weiß sie genau, weshalb sie es auch erwähnt.
„Das wollte ich sehen, Schätzchen. Lass dich nicht unterkriegen und versucht das Beste daraus zu machen. Manchmal ist es schöner sich eine Zeit nicht zu sehen, weshalb das Wiedersehen umso besonders wird."
Ihre Augen funkeln belustigt auf, während sie mit ihren Augenbrauen wackelt und ich aufkreische.
„Mom, so genau wollte ich das nicht wissen."
Die Bilder in meinem Kopf wollen nicht verschwinden, weshalb ich mein Gesicht angewidert verziehe und versuche meine Gedanken auf etwas anderes zu lenken. Laut lacht sie los und steht auf. Langsam verlässt sie mein Zimmer, als sie nochmals innehält und mir zu zwinkert.
„Bevor ich es vergesse, ein junger Mann sitzt unten bei deinem Vater und wartet auf dich."
Erschrocken weiten sich meine Augen, sodass ich so schnell wie möglich versuche aus meinem Bett zu kommen und ich fast auf den Boden falle.
„Wieso hast du das nicht gleich gesagt?"
Schulterzuckend lässt sie mich sprachlos zurück. Schnell schnappe ich mir meine Jeans und wechsle sie mit der Jogginghose aus, die ich im Moment anhabe und fliege regelrecht aus dem Zimmer. Nur mithilfe meiner kleinen Schwester, die gerade zur selben Zeit ihr Zimmer verlässt, mache ich keine Bekanntschaft mit dem Fußboden.
„Nicht so schnell", tadelt sie mich.
„Sorry, aber Hunter sitzt mit Dad im Wohnzimmer und ich möchte nicht, dass er irgendetwas Peinliches über mich erzählt."
Laut lacht sie los und wedelt mit ihrer Hand. Ein Zeichen für mich, dass ich verschwinden kann.
„Na dann würde ich aber schnell nach unten. Ich habe bereits etwas Verdächtiges gehört."
Ohne ihr einen weiteren Blick zu würdigen, flitze ich die Treppen runter, um so schnell wie möglich bei ihnen anzukommen und einen Kollateralschaden zu vermeiden. Außer Atem springe ich um die Ecke, nur um erstarrt stehen zu bleiben. Meine Augen weiten sich geschockt, als mein Verstand die Situation registriert und ich verlegen rot werde.
„Hier ist ja unsere Prinzessin." Mein Vater sieht mich aus sanften Augen an, nicht wissend, dass ich am liebsten in einem Loch verschwinden will. Denn in diesem Augenblick hat er mein Album in den Händen und zeigt meinem Freund die peinlichsten Kinderfotos, die es von mir gibt.
„Erinnerst du dich noch daran?"
Er zeigt mir ein Foto, an meinem ersten Tag in der Schule. Das wäre eigentlich gar nicht so schlimm, wenn ich kein Prinzessinenkleid anhätte, meine Haare mit Korkenzieherlocken frisiert sind und ich mit einem Riesen Lächeln in die Kamera blicke und somit mein Schneidezahn zum Vorschein kommt, der in der Mitte abgebrochen ist. Denn einen Tag davor war ich mit dem Fahrrad gestürzt und habe mir ziemlich üble Verletzungen zugezogen. Unter anderem auch meinen Zahn.
Zum Trost haben sie mir versprochen mein Lieblingskleid anzuziehen, dass wie das Original von Dornröschen aussah. Peinlich berührt nicke ich meinem Dad zu, während Hunter mich belustigt ansieht. Ich kann mir denken, dass es für ihn ein Riesenspaß ist, solche Fotos von mir zu sehen.
„Er hat mir gerade die Geschichte erzählt, weshalb es dazu gekommen ist. Wirklich süß, Hails."
„Haha, sehr witzig Hunter. Komm lass uns gehen. Wir haben noch etwas vor."
Mit schnellen Schritten gehe ich auf ihn zu und packe ihn an der Hand, um ihn aus dem Wohnzimmer zu zerren. „Wir können auch hierbleiben. Dein Vater hat sicher noch andere Geschichten, die er gerne erzählen will."
Mein Todesblick scheint Hunter nicht zu interessieren und mein Dad nickt zustimmend. Er weiß doch, dass ich das nicht zulassen werde. „Nein, können wir nicht. Also wenn du dein schönes Gesicht behalten willst, dann kommt du jetzt mit mir mit."
Laut prusten meine Eltern los, während mein Freund mir belustigt zu zwinkert. Trotzdem nimmt er meine Hand und steht langsam auf. Immerhin ist er zur Besinnung gekommen und verlässt mit mir zusammen das Haus.
„Wir wünschen euch viel Spaß", ruft meine Mum uns hinterher, bevor ich die Haustür hinter mir schließe und tief durchatme.
Zum Glück ist dieser Zirkus vorbei und es werden keine peinlichen Fotos gezeigt. „Das war doch süß", haucht Hunter an meinem Nacken und legt seine Hände an meine Hüften. Als er bemerkt, dass ich ihm nichts antworte, dreht er mich langsam zu ihm um und nimmt mein Gesicht in seine Hände.
„Das muss dir nicht peinlich sein, Zimtschnecke. Ich habe dir bereits gesagt, dass du das süßeste Wesen auf dieser Welt bist und da werden solche Fotos meine Meinung nicht daran ändern."
Sanft küsst er mich auf die Nasenspitze und legt seine Stirn auf meine. Beruhigt schließe ich meine Augen und lege dabei meine Hände auf seine, damit ich das Gefühl bekomme ihm noch näher zu sein. Ich möchte unseren letzten Abend nicht mit irgendwelchen peinlichen Geschichten von mir verbringen, sondern genauso wie wir es zusammen geplant haben.
„Komm, gehen wir. Unser Lieblingsplatz wartet auf uns." Meine Stimme durchbricht die angenehme Stille des Abends. Unsere Hände lösen sich von meinem Gesicht, damit wir Hand in Hand zu seinem Auto laufen, um endlich den Tag so ausklingen zu lassen, wie wir vorgehabt haben.
An unserem Rückzugsort angekommen stelle ich erstaunt fest, dass er etwas vorbereitet hat.
Überall hängen Lichterketten an den Bäumen und Sträuchern und geben uns eine romantische Atmosphäre. Eine Decke mit einem Picknickkorb steht in der Mitte, weswegen sich meine Beine wie von Selbst bewegen, bis ich dort ankomme.
„Wow", hauche ich. Langsam und behutsam lasse ich mich auf die Decke fallen, als hätte ich Angst etwas kaputtzumachen. Mein Herz schmilzt dahin, weil sich Hunter eine solche Mühe gegeben hat, um uns einen schönen Abend zu organisieren. Ich kann es kaum glauben, weshalb ich meine Augen schließe und lächelnd feststelle, dass noch immer alles da ist, als meine Augen sich wieder öffnen.
„Das hast du für uns organisiert?"
Meine Stimme zittert, sodass man die Freude und den Unglauben sofort darin erkennen kann. „Natürlich Hails. Ich würde alles für dich tun, das weißt du doch."
Seine Arme schlingen sich um mich und ziehen mich an seine Brust, an die ich mich genüsslich anlehne und nochmals alles in Augenschein nehme. Ich wusste schon immer, dass in Hunter ein kleiner Romantiker schlummert. Das hat er mir immer wieder bewiesen und doch überrascht es mich zutiefst.
„Danke."
„Nicht dafür, Zimtschnecke."
Nachdem wir die Sandwiches gegessen und den Apfelwein getrunken haben, den er von seinem Vater mitgenommen hat, liegen wir zusammen hier und betrachten die Sterne über uns.
„Versprich mir, dass alles gut wird zwischen uns", flüstere ich in die Stille und lege meinen Kopf auf die Seite, um ihn zu beobachten.
Je eher der Abschied kommt, umso mehr fürchte ich mich davor. Ich hoffe so sehr, dass wir die Distanz überwinden werden und uns dabei nicht aus den Augen verlieren.
„Natürlich wird alles gut, Hails. Wir sind füreinander geschaffen."
Ruckartig steht er auf, nimmt ein kleines Messer aus dem Korb und geht zu einem Baum rüber. Verwirrt runzle ich meine Stirn, als ich sehe, wie er etwas schnitzt und sich dabei konzentriert.
„So lange das hier steht, werden wir immer zusammen sein. Denn du und ich bedeutet für immer, Hails. Vergiss das nicht."
Mein Blick schweift zum Baum, sodass sich ein warmes Lächeln auf meinem Gesicht bildet. Denn dieser Idiot hat unsere Initialen in ein Herz geschnitzt und darüber ‚für immer' geschrieben.
„Ich liebe dich, Kuschelbär."
„Ich liebe dich auch, Zimtschnecke."
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