Kapitel Einunddreissig: Schokolade
Kennt ihr das Gefühl sich verstecken zu wollen, kurzerhand von der Bildfläche verschwinden, wo dich niemand finden kann, um in Selbstmitleid zu versinken?
Am liebsten würde ich mir ein Flugticket erwerben, ohne das Reiseziel zu kennen und geradezu von hier flüchten. Damit auch niemand weiß, wohin es mich treiben wird. Denn im Moment will ich einfach allein mit mir sein und mich in meiner flauschigen Decke einwickeln, ohne jemandem zu begegnen.
Wie konnte ich nur so dumm sein und mich auf Hunter einlassen? Was hat mich dazu getrieben meinen Gefühlen nachzugeben und mich das erste Mal seit Jahren fallen zu lassen?
Ich weiß, dass Hunter niemand ist, der mich auf den Boden hätte stürzen lassen und doch hat er mir mein Herz herausgerissen, als unser magischer Moment vorüber war. Meine Hand legt sich wie von selbst auf die pochende Stelle. Als würde sie sich vergewissern wollen, ob es überhaupt noch schlägt, da ich mich so elendig fühle und seit Tagen nicht geschlafen habe.
Das einzige das ich tue, ist in der Nacht alles für das Café vorzubereiten und mich danach wieder in mein Schlafzimmer zu verkrümeln. Faith hat eine kurze Nachricht erhalten, dass ich Zeit für mich brauche. Sie hat es hingenommen, mir einige Nachrichten geschickt, die ich noch nicht mal durchgelesen habe und schmeißt den Laden ohne mich.
Sobald es mir besser geht, werde ich ihr eine Reise schenken, die sie sich mehr als verdient hat. In letzter Zeit ist Faith ständig für mich da, stellt keine Fragen, die ich ihr nicht beantworten könnte und wartet ab bis ich mich ihr selbst öffne. Das sind nur einige der Gründe wieso wir beste Freunde sind.
Erschrocken zucke ich zusammen als jemand stark gegen meine Tür hämmert. Ich will niemanden sehen, weswegen ich mich noch mehr unter der Decke verstecke, auch wenn ich weiß, dass das voll bescheuert ist.
„Ich weiß, dass du da bist. Mach schon auf, Haylee.“
Die Stimme von meiner kleinen Schwester dringt zu mir durch, die sich verdammt wütend anhört. Das aggressive Hämmern hört nicht auf und unterstreicht ihre wütende Stimmung umso mehr. Kann sie nicht wieder gehen?
Das Geräusch der öffnenden Türe ist nur leise zu vernehmen, aber nicht das zuschlagen. Innerlich wappne ich mich vor, da ich genau weiß, wie Ella sein kann. Stampfende Schritte nähern sich meinem Zimmer, die Türe wird aufgerissen, sodass sie gegen die Wand schlägt und ich Angst bekomme, dass sie nicht aus der Angel fällt.
„Was machst du da?“
Die kalte Luft in meinem Zimmer umhüllt meinen Körper, da mir die Wärme der kuscheligen Decke entrissen worden ist. Ella sieht mich aus zusammengekniffenen Augen an und hebt ihre Augenbraue in die Höhe.
„Du wirst jetzt aufstehen und unter die Dusche steigen. Ein nein werde ich nicht akzeptieren, also los!“
Mit einem Schubser falle ich aus dem Bett und stöhne laut auf, als ich den harten Boden unter mir spüre.
„Sag mal, bist du noch ganz dicht?“, fahre ich sie wütend an und reibe mir dabei die Hüfte, da sie am meisten von dem Sturz abbekommen hat.
Ella sieht mich noch immer mit dem gleichen Blick an. Sie ist sich keiner Schuld bewusst, was ich an ihren Augen erkennen kann.
„Steh auf oder ich schleif dich persönlich dorthin.“
Was ist nur in sie gefahren? Ein solches Verhalten kenne ich nicht von ihr und das macht mir Angst. Widerwillig stehe ich auf, marschiere beleidigt ins Badezimmer und schließe die Tür ab. Wieso kann sie mich nicht in Ruhe lassen? Ist das zu viel verlangt?
„Du hast zehn Minuten, Schwesterherz, und dann reden wir“, ruft sie mir noch zu und durch die leise werdenden Schritte kann ich erkennen, wie sie in Richtung Küche marschiert.
Wie soll ich das nur durchstehen?
Frisch geduscht tappe ich in meinem Bademantel in die Küche. Ella sitzt schon am Tisch, vor ihr eine Tasse Kaffee und sieht gedankenverloren aus dem Fenster. Ihre Gesichtszüge haben einen traurigen Ausdruck angenommen, der mich kurz innehalten lässt. Wo ist ihre Wut hin, die ich vorher zu spüren bekommen habe? Unsicher bleibe ich stehen, beobachte meine kleine Schwester dabei, wie sie unwillkürliche Kreise auf der Tasse malt und mich nicht wahrnimmt. Das dachte ich zumindest, bis sie sich umdreht und mich direkt ansieht.
„Setz dich, Haylee.“
Ohne etwas zu sagen, komme ich ihrer Forderung nach. Ich versuche mich ganz kleinzumachen, vermeide dabei ihren Blick absichtlich und schaue konzentriert auf den Tisch. Seufzend steht sie kurz auf, sucht etwas in meinem Süßigkeitenschrank und kommt wieder zurück.
„Vielleicht wird uns das bei diesem Gespräch helfen“, sagt sie versöhnlich und schiebt mir die Schweizer Schokolade zu.
Langsam und vorsichtig öffne ich die Packung, froh darüber endlich eine Aufgabe zu haben. Ich weiß, dass Ella nicht aufgeben wird und doch keimt eine kleine Hoffnung in mir auf, die sie mir sofort wieder wegnimmt.
„Hast du dich die ganze Zeit hier eingesperrt?“
Den Vorwurf kann ich in ihrer Stimme raushören, weswegen ich mich doch umentscheide und die Schokoladenpackung aufreiße. Schnell beiße ich ein Stück ab und verschaffe mir so ein wenig Zeit, um mir meine Antwort gut zu überlegen.
„Ich sehe doch, dass es dir nicht gut geht. Sag mir endlich was los ist und rede mit mir. Verschließ dich nicht vor mir, wie das letzte Mal. Das würde ich nicht verkraften.“
Die Sorge ist nicht zu überhören und der traurige Blick versetzt mich in die Vergangenheit, die ich tief in mir vergraben habe. Diese Schublade wollte ich nicht mehr öffnen und doch schafft es Ella mit einem einzigen Blick.
„Hör auf“, kommt es brüchig von mir.
„Erinnerst du dich daran, dass ich dich so vor fünf Jahren vorgefunden habe? Eingeschlossen und in der Dunkelheit. Ich will das nicht nochmal erleben.“
„Hör auf, Ella“, wiederhole ich mich, während meine Lunge keinen Sauerstoff bekommt und ich immer wieder versuche nach Luft zu schnappen.
„Weißt du, wie schwer die Zeit für uns alle war? Du warst von einem Tag auf den anderen in ein tiefes Loch gefallen. Hast nicht mehr geredet, nicht mehr gegessen und dich von allen Menschen die dich lieben verschlossen. Du hast mich von dir gestoßen, Haylee.“
Ihre Worte fühlen sich wie der verschwundene Schlüssel an, den ich tief in mir vergraben habe. Ihr gesagtes öffnet ohne Vorwarnung die Schublade mit den ganzen Erinnerungen. Bringen mich und meine Emotionen in ein reges Durcheinander und ohne es verhindern zu können, prasselt alles wieder auf mich ein.
„Hör auf!“, schreie ich sie an und breche anschließend in Tränen aus.
Laute Schluchzer dringen aus meinem Mund, finden kein Ende und die Tränen kullern meine Wangen hinab. Völlig aufgelöst sitze ich am Tisch, habe den Kopf auf meinen Armen gebettet und lasse alles raus. Zierliche Arme schließen sich um mich und wiegen mich in einem sanften Takt vor und zurück. Auch Ella weint, denn ihr Körper bebt und reißt meinen gleich mit.
„Lass es raus“, flüstert sie mir leise ins Ohr. „Lass alles raus, Hails. Ich bin da und lass dich nicht los.“
Fest umklammere ich ihre Taille, drücke mich fest an sie und vergrabe mein Gesicht in ihrer Halsbeuge. Ihre sanften Berührungen geben mir den Halt, den ich im Moment brauche. Ich weiß genau, dass es ihre Absicht war mich in die Tiefe stürzen zu lassen und mich meinen Emotionen zu stellen. Sie weiß genau, dass ich nur so endlich loslassen kann und ich mich von all den trüben Gedanken für einen Moment befreien kann.
Wie lange wir hier so zusammen sitzen, weiß ich nicht. Aber irgendwann beruhige ich mich wieder, meine Schluchzer werden leiser bis sie ganz verschwinden.
„Gehts wieder?“, hakt Ella leise nach und entfernt sich von mir, um mir ins Gesicht sehen zu können.
Leicht nicke ich ihr zu, bevor ich tief durchatme und mich versuche zu sammeln.
„Tut mir leid, Hails. Aber ich konnte nicht zulassen, dass du wieder alles in dich reinfrisst. Das war für uns alle eine schwere Zeit und wenn du jetzt reden willst, dann bin ich für dich da.“
Das Geräusch der schließenden Tür lässt mich aufsehen, als ich Faith bereits im Türrahmen erkennen kann.
„Wir sind alle für dich da, vergiss das nicht.“
Meine Augen weiten sich, als die Erkenntnis mich überflutet. Anklagend hebe ich meinen Finger als Faith schon ihre Hände abwehrend in die Höhe hält.
„Ich konnte den Pitbull nicht aufhalten. Aber wenn ich dich jetzt so ansehe, hat es dir gutgetan. Also sei nicht böse auf uns und erzähl endlich, was los ist.“
Völlig erledigt lehne ich mich zurück. Durch meinen Tränenausbruch fühle ich mich besser und doch bin ich viel zu erschöpft, sodass ich mich am liebsten ins Bett legen möchte.
„Das ist eine lange Geschichte“, merke ich leise an.
Faith holt sich eine Tasse Kaffee und setzt sich neben mich. Erwartungsvoll werde ich angestarrt.
„Das macht nichts. Wir haben genug Zeit dafür einkalkuliert. Also hau raus, Schwester.“
Bevor ich jedoch anfange, nehme ich mir nochmals ein Stück dieser wirklich leckeren Schokolade in den Mund und beginne danach ihnen alles zu erzählen. Von unserem Mädelsabend, bis zum Rückzugsort und der Autopanne. Das einzige das ich auslasse, ist der Alptraum und das Würgen danach. Das will ich ihnen nicht erzählen, denn das geht sie nichts an.
Kein einziges Mal unterbrechen sie mich und je mehr ich ihnen offenbare, löst sich die Anspannung von mir. Denn sie hatten recht. Es laut auszusprechen hilft mehr, als sich in seinen eigenen Gedanken zu verschließen. Ich hoffe nur, Hunter wird das auch einsehen und endlich mit jemanden darüber reden können.
Nicht für uns, sondern für ihn selbst, sodass er endlich mit seinen Dämonen fertig werden kann.
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