Rayono-Kapitel: Taens Herz
"...Also ich bin schon echt gespannt auf das Turnier in Marea!" Tori versuchte, ein neues Thema anzusprechen."Ihr?",
"Es wird lustig", meinte Lane. "Besonders, weil wir alle mitmachen.",
"Wir sind fast die Hälfte der Teilnehmer. Mehr vielleicht", warf Lucian ein. "Ich male mir selbst noch keine hohen Chancen aus.",
"So solltest du nicht rangehen!" tadelte Aella. "Wo wir gerade vom Kämpfen reden... Taen, machst du mit beim Turnier?",
"Nein." Der Gildenleiter schüttelte den Kopf.
"Du machst nicht mit?" fragte Elma erstaunt.
"Nein. Ich bin offiziell kein Trainer, wisst ihr... ich habe keinen Trainer-Pass. Ich kann Pokémon trainieren, aber nicht an Turnieren teilnehmen.",
"Also hast du auch keine Orden", erkannte Makoto. "Warum fängst du nicht an und sammelst welche?",
"Warum?",
"Um ein normaler Trainer zu sein. Nicht mehr im Schatten zu stehen.",
"Ich weiß nicht. Mein Level ist schon zu hoch, als dass es eine echte Herausforderung wäre. Außerdem will ich euch da echt nicht den Spaß verderben.",
"Spaß verderben? Wieso?" fragte Lucian.
"Vermutlich, weil er uns alle in Grund und Boden stampfen würde", dachte Aella. "Ich habe ihn zwar noch nicht kämpfen sehen, aber er hat ein Gengar... Alle deine Pokémon sind schon voll entwickelt, oder?",
"Ja." Taen nickte. "Einige von ihnen habe ich schon zwei Jahre oder länger.",
"Okay... Das ergibt dann Sinn.",
"Warum machst du das eigentlich?" fragte Lucian. Taen sah ihn an. "Was?",
"Das mit dem Klingen.",
"Weil ich mich nie selbst verteidigen konnte. Deshalb. Ich habe es satt, wehrlos zu sein.",
"Aber du hast jetzt uns." Tori schüttelte den Kopf. "Du bist nicht mehr alleine. Sei kein Akira und grenz dich ab für etwas, für das du nichts konntest.",
"Wer hat denn was davon gesagt?" Er schüttelte den Kopf. "Damit hat das rein gar nichts zu tun. Die Pokémon können zwar kämpfen, aber wenn auf einen selbst gezielt wird, anstatt auf die Pokémon, dann steht man da.",
"Aber du kannst dich auch dabei selber verletzen!",
"Und? Dann ist es halt so. Ich hab Schlimmeres überlebt. Besser man kann sich wehren, als am Ende am Boden kauern zu müssen und alles einzustecken, was kommt. Ich habe genug davon, auf dem Boden zu liegen und ständig verprügelt zu werden; geschweige denn dabei zusehen zu müssen, wie andere wegen mir verletzt werden. Genug ist genug.",
"Und ich habe genug davon, dich verletzt zu sehen! Egal, ob von anderen oder wegen dir selbst, weil du dich in den Kampf stürzt!",
"Versuche nur, mich aufzuhalten, Lucian."
Aella sah zwischen den beiden hin und her, als beide wieder schwiegen. Lucian biss die Zähne zusammen und lehnte sich zurück. Stille breitete sich zwischen den Cousins aus. Taen schien nicht zu wissen, wie er darauf reagieren sollte, bis Aella ihn anstupste. "...?" Er starrte sie düster an und seufzte dann, als er seinen imaginären 'Wie-verhalten-sich-normale-Menschen-Katalog' durchblätterte. "... T... Tut... mir Leid."
Lucian nickte bedrückt. Seine Augen waren trüb geworden. "Mir auch..."
Nach dem Essen stand Taen als erster auf und ging davon, nachdem er den Tisch abgeräumt hatte. Lucian blickte ihm hinterher und folgte ihm daraufhin. In seinem Zimmer nahm Taen einen bisher ungeöffneten Brief der Polizei in die Hand und musterte das Schreiben, bevor er es widerwillig öffnete.
"Kann ich rein?" Lucian stand vor dem Zimmer
"Mhm..." murmelte Taen und überflog den Brief. Mit einem kleinen Lächeln betrat Lucian den Raum und schloss die Tür hinter sich. "Was steht drin?",
"Mist über die Betragseinkürzung. Nur noch 10.000 Pokédollar pro Monat, das soll wohl ein Witz sein...",
"Wenn wir uns clever anstellen, könnte das sehr gut hinkommen.",
"Die ganzen Heiz-, Strom- und Wasserkosten allein belaufen sich allein schon auf über 7000 pro Monat, da bleiben 4000 für andere Sachen übrig. Einkauf, zum Beispiel. Oder die Miete des Gebäudes.",
"Also müssen wir sparen. Bis jetzt hat keiner wirklich den Pool benutzt, also können wir den abstellen...",
"Zumindest, solange es noch Frühling ist. Der wird wohl eher im Hochsommer gebraucht.",
"Auch alles andere, das wir nicht brauchen, sollten wir vorerst sein lassen.",
"Die haben echt einen Knall...",
"Das ist eine Prüfung, Taen. Die Polizei will wissen, ob es wirklich unser einziges Ziel ist, anderen zu helfen. Viele sind gerade wegen der Orden unterwegs oder werden das bald sein.",
"Für die Heizkosten müssen wir im Sommer ja nicht aufkommen, Arceus sei Dank. Und ich denke, Stromkosten lassen sich einfach reduzieren.",
"Genau." Lucian nickte bedächtig.
"Naja, dieses Limit wird einfach genug zu umgehen sein." Taen zerknüllte das Schreiben und warf es in den Papierkorb. "So. Wie auch immer. Was wolltest du?",
"Nichts." Lucian hob den Brief aus dem Papierkorb, strich ihn so glatt wie möglich und faltete ihn dann zusammen. "Nur da sein, wie letztes Mal. Soll ich gehen?",
"Ich dachte, du wolltest was Bestimmtes."
Sein Lächeln wurde kurz breiter. "Eigentlich nicht. Ich wollte nur Zeit mit meinem Cousin verbringen.",
"Hast du nicht was zu tun?",
"Rei unterhält sich noch mit Ayuuki. Bis wir gehen, dachte ich, dass ich kurz bei dir vorbeischauen könnte. Die beiden haben sich wohl lange nicht mehr gesehen.",
"Mhmh." Taen seufzte und setzte sich auf den Schreibtischstuhl. "Gut, wie du meinst. Wie geht's deinem Vater? Ich habe lange nichts mehr von ihm gehört.",
"Gut. Hat viel zu tun. Wir haben uns länger nicht mehr geschrieben... Er wollte beim letzten Mal wissen, wie es dir geht. Ich hab gesagt, dass alles in Ordnung ist.",
"Wieso das?",
"Wieso was?",
"Wieso wollte er wissen, wie es mir geht?",
"Weil du für ihn auch Familie bist.",
"Aha..."
"Er hat ständig versucht, dich für einen Moment aus Satoshis Griff zu bekommen. Raus zu finden, was wirklich los war... Weil Satoshi ihn nicht an dich gelassen hat, hat Dad es dann über mich versucht.",
"Verstehe... Tja... Jetzt braucht er sich die Mühe nicht mehr zu machen. Dieser Mensch ist weg. Eingesperrt hinter Gittern, wo ein Monster wie er hingehört.",
"Das stimmt." Lucian nickte. "Und sollte er je wieder rauskommen, bin ich der Erste, der dafür sorgen wird, dass er so schnell wie möglich seine Gefängniszelle wiedersieht... Ich lasse nicht zu, dass er dir noch ein Mal etwas antut... Niemals mehr...",
"... Hm... Das ist auch gut so, denke ich...",
"Die größte Angst in meinem Leben hab ich gespürt, als ich vor Satoshi auf dem Boden lag, nachdem er mich geschlagen hat... Ich hatte Angst um dich. Nicht um mich... Ich dachte, er steigt über mich hinweg und schlägt dich auch... Der Gedanke hat mir tausendmal mehr weh getan als mein zerbrochener Kiefer.",
"Sei nicht albern. Er hat deinen Kiefer in Schrott verwandelt und du erzählst mir, dass du Angst um mich hattest?",
"Glaub mir das oder nicht. Es ist die Wahrheit", murmelte Lucian ernst. Taen fixierte die Narbe an Lucians Kiefer. "..." Ihm war bewusst, dass er Lucian dem schlimmsten Teil der Geschichte noch nicht erzählt hatte, aber das hatte noch Zeit. Er hatte die Vermutung, dass das Lucians Gemüt nicht gut tun würde, zumindest nicht jetzt. "Als er das getan hat... konnte ich nichts tun. Ich war einfach nur da.",
"Du hättest nichts tun können.",
"Ich weiß. Und das ist frustrierend.",
"Dieser Mensch ist weg." Lucian lächelte leicht, als er Taens Worte wiederholte. "Es ist okay. Wir haben Besseres zu tun, als über ihn nachzudenken.",
"Mhm... Soll er doch in seiner Zelle verrotten..." Taen drehte sich zum Fenster. "Es ist seltsam... Noch vor ein paar Wochen hast du dasselbe noch über mich gesagt.",
"Was hab ich über dich gesagt?",
"Dass du mich zurück ins Gefängnis schicken wolltest.",
"Ich wusste bis dahin keinen anderen Weg." Lucian wirkte nicht so, als würde er seinen Gedankengang von damals bereuen. "Als ich einen klareren Blick auf die Lage hatte und deine Zweifel sah... Erst dann wusste ich, dass es auch eine andere Lösung geben musste. Dich im Gefängnis zu sehen war davor das Einzige, was mich angetrieben hat. Ich war bereit, Jairo dafür in Gefahr zu bringen... Es hat mich aufgefressen...",
"Andere für etwas in Gefahr zu bringen, ist etwas, was man mit seinem Gewissen vereinbaren muss." Taen drehte sich wieder zu ihm. "Kannst du das?",
"Ich konnte es damals...",
"Und jetzt?",
"Nein." Seine Antwort kam, ohne davor zu zögern.
"Hm..." Taen nickte, ohne groß etwas dazu zu sagen. Auch, wenn die Antwort ehrlich klang, wusste er doch, dass Lucian gelogen hatte. Aber er beschloss, es ihm nicht vorzuhalten.
"Monatelang hab ich Ugoya beobachtet... Jedes bisschen Information verarbeitet, das ich bekommen konnte... Ich war besessen. Ich konnte nicht durchatmen oder richtig essen oder schlafen.",
"Deine Prioritäten können scheinbar schnell wechseln.",
"Du warst immer meine Priorität. Nur der Weg, um dich zu retten, hat sich verändert.",
"Hätte nicht gedacht, dass ich dir so wichtig bin. In welcher Weise auch immer.",
"Wir sind Familie. Das ist Grund genug.",
"Diesen Satz höre ich verdächtig häufig..." Er verschränkte die Arme und überkreuzte die Beine. "Weißt du, was dieser Mensch mal zu mir gesagt hat... 'Man muss für seine Freude manchmal etwas opfern'. Ich wusste nie so ganz, was das bedeutet... nur, dass er mit diesem Opfer anscheinend mich gemeint hat.",
"Anscheinend... Aber jetzt noch darüber nachzudenken, ist nicht logisch. Das alles liegt in der Vergangenheit.",
"Seine Worte haben mich mehr geprägt, als du denkst. Ich muss das erst wieder loswerden...",
"Ich weiß. Deswegen... will ich gerne da sein. Als die Familie, die du nicht hattest.",
"Ah, schon wieder diese Art von Satz." Taen schloss die Augen. "Belaste dich nicht damit.",
"Damit, für meinen Cousin da zu sein? Taen, bitte." Lucian lächelte ausweichend. "Das ergibt nicht mal Sinn, nach allem, was passiert ist.",
"Du bist mir nichts schuldig. Also... belaste dich nicht damit.",
"Familie kümmert sich nicht um sowas. Ich bin da. Egal, was kommt. Ob du irgendwann richtig glücklich bist oder traurig oder wütend. Cousins hören einander zu. ...Sind manchmal schon sowas wie Brüder.",
"Brüder, huh...",
"Du schuldest mir nichts und ich verlange nichts von dir. Ich will nur da sein. Denk darüber nach, okay?"
Er nickte nur stumm, bevor er das Thema wechselte. "Taro kommt dich bestimmt irgendwann mal besuchen.",
"Wenn er die Zeit findet, bestimmt.",
"Viel Zeit scheint er ja nie zu haben, aber naja. Ich frage mich, was er jetzt von mir hält. Nach alldem... Seine Familie brüderlicherseits hat echt einen Dachschaden.",
"Gut, dass es immer Ausnahmen gibt." Er lächelte Taen zu.
"Welche Ausnahmen?",
"Dich?",
"Aha. Du findest also, ich hab keinen Dachschaden?",
"Nein.",
"Heh..." Etwas huschte blitzschnell, für wenige Sekunden, über sein Gesicht. Ein Lächeln von zwei Sekunden Lebenszeit.
"...Hey. Kannst du das nochmal machen?",
"Was?",
"Das eben. Du hast gelächelt." Lucian grinste.
"Ich habe gelächelt?",
"Hast du. Versuch es nochmal.",
"..." Taen blinzelte ein paar mal. Dann zog er widerwillig die Mundwinkel nach oben und zeigte ein... mehr oder weniger emotionsloses Lächeln. "So?",
"Ja... Fast." Lucian musste sich ein Lachen verkneifen und verschränkte die Arme. "Trotzdem. Es sah gut aus. Du hast es versucht."
Seine Mundwinkel rutschten an ihre gewohnte Position zurück. "Ja, immerhin. War wohl wenig überzeugend?",
"Am Ausdruck musst du noch feilen.",
"Hört sich machbar an." Er sah auf seinen Viso-Caster. "Du solltest gehen. Sie sind sicher fertig mit plaudern. Du hast immerhin einen Job zu erledigen, nicht wahr?",
"Mhm. Wir werden Hikari dazu kriegen, wieder sie selbst zu sein" versprach Lucian und lächelte fragend. "Kann ich dich zum Abschied umarmen?",
"Macht man das unter normalen Leuten?",
"Ja. Oft, wenn man sich verabschiedet."
"... o...kay."
"Darf ich?",
"... Ja."
Mit einem erleichterten Lächeln schloss Lucian seinen Cousin in eine kurze Umarmung, klopft ihm dann auf die Schulter und wandte sich dann ab. "Bis dann!",
"Man sieht sich. Viel Erfolg."
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