Kapitel 98: Drache - Teil 4
Mehn Wudu entging dem Dolchstoß nur, weil gleichzeitig jemand Wrun Zimeng anstieß, der dann nicht mehr richtig zielen konnte. Ohne weiter nachzudenken rannte Mehn Wudu an seinem Angreifer vorbei, um zu seinen Eltern zu kommen.
Mahr Chir hatte mittlerweile sein Schwert gezogen und ging die letzten Stufen zu den Gilden-Anführern hoch. Ihm folgten Ghan Ruhn und der Anführer der Dul-Gilde, Dul Mogat. Mehn Klepos hatte seine Ehefrau auf die Beine gezogen und sie hinter sich geschoben, um sie zu schützen. In seinen Augen stand eine tiefe Enttäuschung, aber keine wirkliche Wut.
Wo sind unsere Erzwächter? Warum machen sie nichts?
Aber Mehn Wudu wusste, warum niemand ihnen zu Hilfe kam. Die Männer und Frauen, die zuvor noch mit ihnen gefeiert hatten, stachen nun blindlings nach allen Menschen, die die rote Kleidung der Mehn-Gilde trugen. Weiter hinten hatte Mehn Shia sich mit Dia Nemesis in einer Ecke verschanzt. Beide Frauen hatten ihre klobigen Schwerter gezogen und wehrten die Hiebe von Erzwächtern der Ghan-Gilde ab. Die Schreie drangen in Mehn Wudus Ohren und trieben fast Tränen in seine Augen.
Nein! Das darf nicht sein! Was passiert hier? Warum töten sie uns? Warum...?
Im selben Moment stellte sich ihm ein Mann in der dunkelgrauen Kleidung der Ghan-Gilde in den Weg. Ghan Kedron. Sein scharfes Schwert hielt er in der linken Hand und zögerte nicht, damit nach Mehn Wudu zu schlagen. Die Klinge zischte über seinen Kopf hinweg, als er sich duckte. Er stolperte zurück, stieß gegen jemanden, der ihn an den Schultern festhielt und nicht losließ.
»Verabschiede dich von der Welt, Herr Mehn«, sagte Ghan Kedron vor ihm und holte zu einem neuen Schlag aus. Doch im selben Moment wurde sein Handgelenk von einem anderen Mann gepackt.
»Kedron! Was tust du da!« Die Stimme war voller Entsetzen, gehörte Ghan Leddan, dem zweiten Sohn von Gilden-Anführer Ghan. Er sah seinen Bruder ungläubig an. »Wusstest du davon?«
Ghan Kedron schüttelte seinen Bruder unwillig ab. »Natürlich wusste ich davon!«, fuhr er ihn an und holte erneut aus.
Es gab ein Handgemenge und dann einen Schrei. Mehn Wudu erwartete, einen brennenden Schmerz in seiner Brust oder an seiner Kehle zu spüren, aber da war nichts. Er öffnete die Augen, die er aus Reflex geschlossen hatte, und sah Ghan Leddans breitschultrige Gestalt vor sich, der sich zwischen ihn und Ghan Kedron geschoben hatte.
Mehn Wudu verlor keine Zeit. Er entwand sich dem Griff des Erzwächters, der sich vor Schreck ein Stück gelockert hatte. Sein Blick ruckte hoch zu seinen Eltern und ein herzzerreißender Schrei entkam seiner Kehle. Sie lagen auf dem Boden. Um sie herum eine rote Blutpfütze, die Augen leer. Mehn Wudu hatte das Gefühl, dass sein Vater ihn direkt anstarrte. Verzweifelt fiel er auf die Knie, raufte sich die Haare und schrie.
Warum passiert das alles! Vater! Mutter!
»Steh auf!«
Jemand ergriff ihn am Kragen seines Hemdes und zog ihn hoch. Er blinzelte die Tränen weg und sah in das ebenfalls tränenüberströmte Gesicht seiner Schwester. Nur brannte in ihren Augen auch eine unbändige Wut. Mehn Shia schüttelte ihn am Kragen, während Dia Nemesis hinter ihr einen Erzwächter der Dul-Gilde abwehrte.
»Du musst gehen!«, schrie Mehn Shia ihn an. »Jetzt!«
»Aber Mutter und Vater...«
»Sind tot!« Ihre Stimme zitterte. »Sie wurden verraten! Wir alle wurden verraten! Sie werden uns auch töten, wenn wir nicht fliehen! Geh jetzt! Ich schicke Dia Nemesis mit dir!»
»Nein!«, protestierte Mehn Wudu. »Was ist mit dir?«
»Ich komme klar!« Sie deutete auf Nekato in ihrer Hand. Das Blut, das von seiner Klinge tropfte, war fast so leuchtend wie das rote Leder, das um den Griff des Schwertes gewickelt war. »Wir müssen dafür sorgen, dass unsere Schätze vernichtet werden, bevor die anderen Gilden sie in die Finger bekommen! Ich habe Se Rafal und Se Laf schon losgeschickt! Um das Wasser der Wahrheit kümmere ich mich selbst! Bringe du dich und Zairda in Sicherheit!»
Mit diesen Worten stieß Mehn Shia ihn von sich und übernahm den Gegner von Dia Nemesis. Metall klirrte gegen Metall, als Nekato gegen das Schwert des anderen Erzwächters krachte.
Mehn Wudu wusste nicht, wie er aus der Halle gekommen war. Wahrscheinlich hatte Dia Nemesis ihn einfach hinaus gezogen. Das Gesicht der Frau war immer noch eine Maske, vollkommen gefühllos, aber die Maske bekam allmählich Risse. Ihre dunkelgrauen Augen schimmerten verräterisch.
Zairda!
Der Name flammte wie ein helles Feuer in seinem Kopf auf. Er stolperte den Flur entlang, achtete nicht darauf, ob Dia Nemesis ihm folgte oder nicht. Mit jedem Schritt wuchs seine Angst davor, dass etwas Schreckliches passiert war. Der Kampf wütete mittlerweile nicht mehr nur in der Halle. Erzwächter der Mehn-Gilde, die den Tumult aus einem der anderen Gebäude oder von draußen gehört hatten, waren zur Hilfe geeilt. Aus beinahe jedem Gang drangen Schrie und das Klirren von Waffen.
Als Mehn Wudu um die Ecke in den Flur bog, in der sein Zimmer lag, sah er sofort die offen stehende Tür. Seine Brust zog sich schmerzhaft zusammen, während er hin stürmte. Von drinnen erklang ein leises Wimmern. Ein schrecklicher Geruch schlug ihm entgegen. Blut.
»Zairda!« Sein Schrei hallte von den Wänden wieder. Und da sah er sie. Auf dem Boden. Umgeben von einer Blutlache. Sie weinte, während sie sich mit den Händen auf den Bauch und zwischen die Beine fasste. Ihr Kleid war zerrissen und wo es nicht zerrissen war, war es blutgetränkt. Eine rote Spur zog sich quer durch das Zimmer vom Bett bis hin zu ihr. Auf halbem Weg lag etwas Blutiges, Unförmiges.
Mehn Wudu musste sich am Türrahmen festhalten, um nicht zu Boden zu sinken. Er wollte schreien, aber er konnte nicht. Die Tränen nahmen ihm die Sicht. Trotzdem stolperte er zu Mehn Zairda. Als er die Arme jedoch ausstreckte, um sie hochzuheben und fest an sich zu drücken, schrie sie auf und schlug seine Hand weg. Panik stand in ihren Augen und sie kroch wimmernd ein Stück von ihm weg.
»Zairda...« Seine Stimme zitterte vor Schmerz. »Ich bin es. Wudu. Bitte...«
Er versuchte es nochmal, aber wieder schrie Mehn Zairda auf und krümmte sich dieses Mal zusammen.
Mehn Wudu schlug sich die Hände vors Gesicht und weinte. Wie konnte er diesen Schmerz ertragen? Es war unmöglich, unmöglich! Er bemerkte kaum, wie Dia Nemesis ins Zimmer trat und ihm einen Schlag gegen den Hinterkopf verpasste. Ihre Lippen bewegten sich, aber er hörte nichts. Hörte nur das Wimmern seiner Rose, die gebrochen nur wenige Schritte von ihm entfernt lag.
Er wurde erst aus seiner Starre gerissen, als Dia Nemesis Mehn Zairda grob packte und hoch hob. Sie schrie in Panik und schlug um sich, traf einige Male sogar, doch die stärkere und größere Frau ließ sie nicht los. Dai Nemesis' Blick legte sich auf Mehn Wudu.
»Wir müssen fliehen«, sagte sie hart und eilte ohne auf eine Antwort zu warten aus dem Zimmer.
Mehn Wudu folgte ihr. Sie nahmen einen Umweg, um den größten Kämpfen zu entgehen, und verließen das Khamtar-Haus. Draußen hatten sich mehrere Gruppen von Erzwächtern versammelt, die sich zerstreuten, um die Nebengebäude zu betreten. Offenbar suchten sie nach den Schätzen, denn aus den Fenstern drang das Krachen von Möbeln, die umgestoßen wurden, und das Klirren von Glas.
Dia Nemesis drückte sich mit Mehn Zairda in den Armen an eine Wand und ließ eine Gruppe aus drei Erzwächtern der Rin-Gilde an ihnen vorbei gehen. Einer von ihnen war Rin Baleron. Mehn Wudu konnte es nicht fassen, dass selbst die Gilde, mit der sie eigentlich verbündet waren, bei diesem Verrat mit machte.
Als Rin Baleron und seine zwei Begleiter außer Sichtweite waren, deutete Dia Nemesis mit einem Nicken auf das Wäldchen. Dort wären sie für eine Weile in Sicherheit. Nur durften sie auf dem Weg dorthin nicht gesehen werden und es durfte auch keiner kommen, um nach ihnen zu suchen.
Auf Dia Nemesis' Zeichen hin rannten sie los. Geduckt, um im Schatten der eingebrochenen Nacht noch leichter übersehen zu werden. Hinter ihnen ertönten Rufe und Schreie. Mehn Wudu wusste nicht, ob es Verfolger waren. Er wusste nur, dass er diesen Waldrand um jeden Preis erreichen musste. In Dia Nemesis' Armen hatte Mehn Zairda mittlerweile das Bewusstsein verloren. Immer noch strömte Blut ihre Beine hinab und tropfte auf das Gras.
Endlich tauchten sie zwischen die Baumstämme ein und hetzten noch ein Stück weiter, bevor Dia Nemesis stehen blieb und Mehn Zairda behutsam auf die Erde legte. Ihr Gesicht war viel zu blass, fast wie das einer Toten. Panik schoss durch Mehn Wudus Körper. Er zwang seine zitternde Hand dazu, nach ihrem Puls zu tasten, und brach fast in Tränen aus, als er doch noch ihren Herzschlag spürte. Schwach, aber er war da. Verzweifelt nahm er sie in die Arme und wiegte sie hin und her.
»Es tut mir leid«, murmelte er in ihre orangenen Locken hinein, die jetzt nach frischem Blut rochen. »Es tut mir leid. Es tut mir so unendlich leid.«
»Ich gehe zurück und hole Mehn Shia«, sagte Dia Nemesis und trat einen Schritt in Richtung des Drachen-Heims, als plötzlich ein ohrenbetäubender Knall ertönte. Ein heftiger Luftstoß fegte die Frau zu Boden. Sie stieß mit dem Kopf gegen den nächsten Baumstamm und blieb bewusstlos liegen. Mehn Wudu beugte sich schützend über Mehn Zairda und schirmte sie vor den umher fliegenden Ästen ab. Er spürte eine brennende Hitze an seinem Rücken und als er sich umdrehte, sah er, dass ein Teil des Wäldchens in Flammen stand.
Ungläubig starrte er in die Richtung, aus der der Knall gekommen war, während ein unangenehmes Piepen sich in seinen Ohren breit machte. Eine grelle Feuersäule war in den Himmel geschossen und hatte die Nacht für einen kurzen Augenblick zum Tag gemacht. Alle Gebäude des Drachen-Heims, seines Zuhauses, waren von der Explosion zerrissen worden. Trümmer regneten vom Himmel hinab. Steine, Staub, Asche. Die Ruinen, die noch übrig waren, brannten unaufhörlich.
Der Atem des Drachen. Mehn Wudu biss sich auf die Lippen, bis er Blut schmeckte. Das war also seine Zerstörungskraft. Er sah einige Gestalten, die aus dem Wasser des Teiches auftauchten, nur, um von anderen, schnell herbei geeilten Gestalten, niedergestochen zu werden.
Wo ist Shia?
Mehn Wudu ließ Mehn Zairdas Oberkörper vorsichtig zu Boden gleiten und rannte zum Rand des Wäldchens. Er musste seine Schwester retten. Sie hat gesagt, dass sie nachkommen würde! Aber hatte sie das wirklich gesagt?
Das Feuer an den Ästen des Baumes, unter dem er stand, knisterte in seinen Ohren, während er seinen Blick über die Zerstörung schweifen ließ. Unmöglich, dass jemand überlebt hat, dachte er verzweifelt. Vater, Mutter, all meine Freunde, die Patienten... Die ganze Mehn-Gilde, einfach ausgelöscht. Er fiel auf die Knie, fühlte die Funken, die sich durch seine Kleidung bis auf seine Haut fraßen, kaum.
Plötzlich hörte er einen lauten Schrei, bei dem das Blut in seinen Adern gefror.
»Wir haben sie!«, hörte er jemanden rufen und entdeckte einen Anhänger der Rin-Gilde, der eine junge Frau hinter sich her zerrte, die zuvor mit einigen anderen im Teich Schutz gesucht hatte. Mehn Shia.
Mehn Wudu öffnete den Mund, um nach seiner Schwester zu schreien, doch im selben Moment legte sich ihm eine starke Hand auf den Mund.
»Sie hat nicht gekämpft, damit du auch getötet wirst«, zischte Dia Nemesis ihm ins Ohr.
Tatenlos musste Mehn Wudu mit ansehen, wie Rin Fjoona auf seine Schwester zu trat. Die Gilden-Anführerin fragte etwas, doch Mehn Shia spuckte ihr vor die Füße und wand sich im Griff des Erzwächters, der sie festhielt. Das gefiel Rin Fjoona offenbar nicht. Sie zückte einen Dolch und hielt ihn der jungen Frau an die Kehle, fragte erneut. Kurz bevor Mehn Shia wieder mit einem Spucken antworten konnte, stellte sich jedoch jemand vor sie. Mehn Wudu meinte, im Licht des brennenden Feuers Rin Baleron zu erkennen, der seiner Mutter etwas sagte. Daraufhin steckte diese ihren Dolch wieder ein und winkte mit der Hand. Mehn Shia wurde auf die Beine gehoben und weggezerrt.
»Warum tun sie das?« Mehn Wudu erkannte seine eigene Stimme nicht mehr. »Was haben sie mit ihr vor? Warum das alles? Ich verstehe es nicht!«
Dia Nemesis legte ihm nur eine Hand auf die Schulter. Wahrscheinlich hatte sie auch keine Antworten auf seine Fragen.
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Wieder mal eine Trigger-Warnung fürs nächste Kapitel.
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