Kapitel 97: Drache - Teil 3
Ein Jahr später im Drachen-Heim der Mehn-Gilde.
Arm in Arm mit Mehn Zairda betrat Mehn Wudu die Halle, in der sich bereits die meisten Gilden-Anführer und ihre Anhänger versammelt hatten. Seine Eltern saßen, wie immer, am Tisch oberhalb der Treppe, während Mehn Shia, von Se Rafal und Se Laf flankiert, vor einem jungen Mann aus der Rin-Gilde stand und sich mit ihm unterhielt. Mehn Wudu erkannte in ihm Rin Baleron, den Sohn von Gilden-Anführerin Rin, die sich gerade ihrerseits mit einigen anderen Gästen unterhielt. Er bemerkte auch eine andere junge Frau in der schwarzen Kleidung der Rin-Gilde, die sich durch die Menge zu Rin Baleron und Mehn Shia vorarbeitete.
In den letzten Monaten hatten die Nachfragen nach den drei Schätzen der Mehn-Gilde sich gehäuft. Mahr Chir und Mahr Bagata bestanden immer noch darauf, den Schleier des Vergessens zu bekommen, obwohl sie die Räuber schon lange vertrieben hatten. Gilden-Anführer Ghan, Ghan Ruhn, wollte unbedingt den Atem des Drachen bekommen, um einen Teil des Silbermistel-Waldes niederzubrennen und dort neue Felder zu errichten. Zusätzlich interessierte er sich aus irgendeinem Grund ebenfalls für den Schleier des Vergessens. Sogar die Anführer der Dul-Gilde, die sich normalerweise immer mit Forderungen zurückhielten, und Rin Fjoona, hatten nach den Schätzen gefragt. Die einzige Gilde, die kein offenkundiges Interesse zeigte, war die Val-Gilde, was nicht weiter verwunderlich war. Sie hatte einen Großteil ihrer Schriftrollen und ihres Wissens über die Medizin und den menschlichen Körper der Mehn-Gilde zu verdanken. Warum sollte sie also einen Streit anfangen?
Dennoch hatte Mehn Klepos auch der Val-Gilde einen schwarzen Falken mit der Einladung zu einem Festmahl geschickt, auf dem er sich bei allen für seine Sturheit bezüglich der Schätze entschuldigen wollte. So hatten sich also die fünf mächtigsten Gilden und einige ihrer Verbündeten im kleinen Drachen-Heim versammelt. Mehn Wudu hatte die Halle und die Flure des Khamtar-Hauses noch nie so voll gesehen.
Er führte Mehn Zairda an einigen Gästen aus der Ghan-Gilde vorbei, als sich ihm auf einmal jemand in den Weg stellte. Verwundert blickte er dem Mann ins Gesicht und erkannte Meister Nan, dessen Schüler er vor vier Jahren geworden war. Auf Empfehlung seiner Schwester, die ihn ebenfalls als Meister gehabt hatte.
»Mein lieber Mehn Wudu, es freut mich, dich endlich wieder zu treffen!«, rief Meister Nan und legte ihm eine faltige Hand auf die Schulter. Sein Lächeln wirkte nie gekünstelt und er scheute nicht davor, seine schiefen Zähne zu zeigen. Der alte Mann wandte sich auch Mehn Zairda zu. »Ich habe gehört, man darf euch beglückwünschen?«
Mehn Zairda strahlte und strich sich mit der Hand über den Bauch, der sich bereits leicht unter dem roten Stoff ihres Kleides wölbte. »Ich danke Euch, Meister Nan.«
»Wann wird es denn so weit sein?«
»Fünf Monate noch«, sagte Mehn Zairda und lehnte sich an Mehn Wudu. »Ich kann es kaum erwarten, unseren kleinen Schatz in den Armen zu halten.«
Meister Nan lächelte erneut, schnippte Mehn Wudu dann jedoch mit einem Finger gegen die Stirn. »Ich hoffe, du passt auf, dass sie keinen Alkohol trinkt! Du musst sie eigentlich auf beiden Armen tragen!«
»Wirklich?«
Mehn Zairda kicherte vergnügt, als er Anstalten machte, sie tatsächlich hochzuheben. Dabei beließ er es jedoch auch. Er wusste, dass sie es nicht mochte, wenn er sie behandelte, als könnte sie nichts mehr machen, nur, weil sie schwanger war.
»Ihr seid ein gutes Paar«, meinte Meister Nan und nickte bedächtig mit dem Kopf. »Ich freue mich für euch.« Er drohte Mehn Zairda spielerisch mit dem Finger. »Wenn es dir zu viel wird, scheue nicht davor, es deinem Ehemann zu sagen! Dann soll er dich gefälligst aufs Zimmer bringen. Sonst bekommt er Ärger von mir.« Er zwinkerte Mehn Wudu zu. »Ich lasse euch mal alleine und suche deine Schwester.«
»Du scheinst dich ja richtig gut mit ihm zu verstehen«, sagte Mehn Zairda, als Meister Nan in der Menge verschwunden war.
»War Meister Val nicht so?«
»Nein.« Mehn Zairda ließ ihren Blick über die versammelten Gäste schweifen, bis er an Meister Val hängen blieb. Der Anführer der Val-Gilde wurde von seinem älteren Sohn Val Zirro begleitet, der nachdenklich irgendwo in die Ferne starrte. Bei genauerem Hinsehen stellte Mehn Wudu fest, dass er ein wenig nervös wirkte, fast schon angespannt. Immer wieder rieb er über den Verband, den er sich um die rechte Hand gewickelt hatte.
»Meister Val hat mich nicht mal begrüßt«, brachte Mehn Zairda ihren Gedanken zu Ende und zog ihn weiter, um sich an ihren gemeinsamen Tisch zu setzen. Auf dem Weg dorthin stolperte sie fast über einen Stoffball, den jemand auf dem Boden liegen gelassen hatte. Mehn Wudu sah sich verwundert um und entdeckte gleich darauf eine Frau in einem weiß-roten Kleid, die einen Jungen auf dem Arm trug. Sie sah sich suchend und leicht verzweifelt um, den Blick zu Boden gerichtet. Als sie den Ball zwischen den Beinen der Gäste hindurch sah, eilte sie sofort dorthin. Erst dann fiel Mehn Wudu auf, dass es die Tänzerin war, die hier vor einem Jahr ihr gebrochenes Bein hatte versorgen lassen. Zwar war es jetzt geheilt, aber Mehn Klepos hatte ihr mitteilen müssen, dass sie wahrscheinlich nie wieder so gut tanzen können würde wie früher.
Was macht sie hier?
»Entschuldigung, tut mir leid«, sagte die Tänzerin gehetzt in Mehn Zairdas und Mehn Wudus Richtung, während sie sich mit dem Jungen im Arm runter beugte, um den Ball aufzuheben. Gleich darauf verschwand sie wieder und tauchte zwischen den Anhängern der Mahr-Gilde auf, wo sie sich suchend nach jemandem umsah.
»Komm, setz dich«, forderte Mehn Wudu seine Ehefrau auf und schob ihren Stuhl erst zurück und dann wieder ran. Fürsorglich legte er ihr mehrere Stücke Fleisch und Gemüse auf den Teller, bis sie lachend seine Hand festhielt.
»So viel schaffe ich gar nicht!«
»Aber du musst viel essen«, beharrte er und drückte ihr einen flüchtigen Kuss auf die Stirn. »Ich mache mir doch nur Sorgen.«
Während Mehn Zairda das aß, was er ihr aufgetischt hatte, beobachtete Mehn Wudu die versammelten Gäste. Irgendwas kam ihm seltsam vor, aber er konnte nicht wirklich mit dem Finger darauf zeigen. Äußerlich schienen alle Spaß zu haben und Mehn Klepos Entschuldigung auch zu akzeptieren. Aber was ging wirklich in diesen Köpfen vor? Waren sie immer noch unzufrieden damit, dass sie die Schätze nicht bekommen würden?
»Worüber denkst du nach?«, fragte Mehn Zairda.
Er wandte sich ihr zu und lächelte beruhigend. »Nichts. Alles gut.«
»Würde es dir etwas ausmachen, wenn ich jetzt schon gehe?«
Mehn Wudu sah sie überrascht an.
»Es sind mir irgendwie zu viele Menschen. Ich kann es auch nicht erklären.«
»Natürlich! Soll ich dich aufs Zimmer begleiten?«
Mehn Zairda stieß ihm den Ellenbogen in die Seite. »Das schaffe ich schon.«
Und so half er ihr nur beim Aufstehen und blickte ihr nach, bis der Saum ihres roten Kleides mit den orangenen Flammenmustern aus der Halle verschwand. Da seine ganzen Freunde aus der Gämsen-Pagode nur kleineren Gilden angehört hatten – oder sogar einfachen Familien ohne Erzwächtern – hatte er keinen, mit dem er sich wirklich unterhalten konnte. Auch Meister Nan war in ein tiefes Gespräch mit dem Anführer der Zen-Gilde vertieft, der als einer der wenigen Vertreter kleinerer Gilden gekommen war. Also blieb ihm nichts anderes übrig als an seinem Tisch sitzen zu bleiben und so zu tun, als hätte er Spaß. Davon schien Mehn Shia jede Menge zu haben.
Seine Schwester hatte sich wieder von Se Rafal und Se Laf getrennt, weil sie ihre alte Freundin Dia Nemesis getroffen hatte. Jetzt standen die zwei Frauen in einer Ecke der Halle und hatten die Köpfe dicht zusammen gesteckt. Mehn Shia lachte ab und zu.
Der Tag neigte sich allmählich dem Abend zu, aber immer noch machte keiner der Gäste Anstalten, die Halle zu verlassen. Mehn Wudu hatte auch das Gefühl, dass eine seltsame Bedrohung in der Luft lag. Er machte sich Sorgen um Mehn Zairda. So unauffällig wie möglich stand er auf und bewegte sich langsam in Richtung Ausgang. Es gehörte sich zwar nicht, dass der Sohn der Gilden-Anführer ein Fest vorzeitig verließ, aber er musste wirklich nach seiner Ehefrau schauen.
Als er gerade durch die Tür hinaus gehen wollte, legte sich ihm jedoch auf einmal eine schwere Hand auf die Schulter. Er drehte sich um und fand sich einem jungen Mann gegenüber, dem er noch nie begegnet war. Seine Kleidung war gelb und hatte an den Säumen weiße Streifen.
»Kennen wir uns?«, fragte Mehn Wudu verwundert.
»Leider nicht, aber es ist mir eine Ehre, Euch kennenzulernen«, sagte der Mann und hielt ihm seine Hand hin. »Wrun Zimeng. Ich habe erst vor Kurzem die Erlaubnis bekommen, meine eigene Gilde auf dem Territorium der Ghan-Gilde zu gründen.«
»Dazu gratuliere ich Euch«, sagte Mehn Wudu und schüttelte höflich die Hand. »Allerdings muss ich jetzt wirklich gehen.«
»Das kann doch bestimmt warten!«, rief Wrun Zimeng lachend und weigerte sich einfach, den Griff um Mehn Wudus Hand zu lösen. »Wir sind gerade erst Freunde geworden! Da hat man sich doch bestimmt viel zu erzählen! Kommt, kommt, ich habe einen guten Tisch ganz in der Nähe von Ghan Kedron und seinem Bruder erwischt!«
Mehn Wudu dachte fieberhaft darüber nach, wie er diesen Mann schnellstmöglich loswerden konnte. Wrun Zimeng hatte offensichtlich zu viel getrunken – auch wenn er keinen Alkohol roch –, aber anders konnte er sich diese übertriebene Freundlichkeit nicht erklären. Aus dem Augenwinkel sah er, wie Mahr Hefay sich an ihm vorbei aus der Halle raus drängte. Gerade wollte Mehn Wudu sagen, dass er ein dringendes Gespräch mit ihm hatte und deswegen jetzt los musste, als sich die Stimme seines Vaters über die Menge erhob.
»Es freut mich, dass ihr alle so zahlreich erschienen seid, meine Gäste! Aber leider neigt sich der Tag dem Ende zu und die Speisen ebenfalls! Wenn es euch also nichts ausmacht, würde ich das Festmahl gerne beenden!«
Mehn Wudu atmete erleichtert aus. Dann bin ich wenigstens nicht der einzige, der möchte, dass das Fest endlich endet. Er lächelte Wrun Zimeng entschuldigend an und wollte gehen, aber der Mann hielt weiterhin seine Hand fest. Ungewöhnlich stark.
»Es wäre nett, wenn Ihr mich los lasst«, flüsterte er, um keine unnötige Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.
»Dachtet Ihr wirklich, wir wären gekommen, um mit Euch das Versagen der Mehn-Gilde zu feiern?«, ertönte plötzlich die Stimme von Mahr Chir. In der gesamten Halle wurde es still, während der Anführer der Mahr-Gilde nach vorne schritt. Die Menge machte ihm Platz und er stieg ungehindert die ersten paar Stufen zu Mehn Klepos und Mehn Isa hoch.
»Wie soll ich das verstehen?«, fragte Mehn Klepos und zog die Augenbrauen zusammen.
»Fast zwei Jahre lang habt Ihr Euch geweigert, die Schätze für alle zugänglich zu machen. Dabei haben Euch alle darum gebeten!«, antwortete Mahr Chir und breitete die Arme aus.
Mehn Wudu gefiel das nicht. Ihm gefiel das ganz und gar nicht. Sein ganzer Körper signalisierte ihm Gefahr und trotzdem war er wie erstarrt.
»Ich gebe Euch nun eine letzte Chance«, sagte Mahr Chir mit einem bedrohlichen Unterton. »Stimmt zu, uns Eure Schätze zu geben, wenn wir sie brauchen, oder Ihr werdet es bereuen.«
Mehn Klepos stand auf und starrte auf den Gilden-Anführer hinab. »Ich werde dem nicht zustimmen und ich dachte, Ihr hättet das akzeptiert.«
Mahr Chir schüttelte den Kopf. »Nein. Gilden-Anführer Mehn, wir haben Euch die Wahl gegeben. Wir haben Euch viele Male um Eure Hilfe gebeten und Ihr habt jedes Mal abgelehnt, obwohl es Eure Pflicht als Heiler ist, uns zu helfen! Wir haben genug gewartet!«
Plötzlich hatten alle Erzwächter und Anhänger in der Halle Waffen in den Händen. Mehn Wudu schaute ungläubig auf den Dolch, den Wrun Zimeng gezückt hatte. Seine zuvor freundlichen Gesichtszüge hatten sich in etwas Abscheuliches verwandelt. Wut und Gier.
Was geht hier vor?, dachte Mehn Wudu, bevor in der Halle das pure Chaos ausbrach.
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Ernst gemeinte Trigger-Warnung fürs nächste Kapitel.
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