Kapitel 83: Staub - Teil 2
»Schon als die Erzwächter der Ghan-Gilde und der Dul-Gilde so dreist waren, uns im Herbst, nicht lange vor dem Wintereinbruch anzugreifen, hätten wir wissen müssen, dass wir keine Chance hatten.« Rin Naremas Blick war starr auf den Tisch gerichtet, verloren in Gedanken und Erinnerungen. »Baleron hat zwar unseren verbündeten Gilden befohlen, sich auf einen Angriff vorzubereiten, aber als der dann kam, gab es zu wenig Waffen, zu wenig Fallen. Wir konnten nur hoffen, dass sie die feindlichen Truppen lange genug aufhalten konnten, damit wir wenigstens den Phönix-Hof etwas absichern konnten. Von der Mahr-Gilde haben wir uns keine Hilfe erhofft. Es war Mahr Hefay gewesen, der erst im Frühling mit einem Angriff gerechnet hatte.
All unsere schnell zusammengeworfenen Verteidigungspläne brachten nichts. Doch selbst als die feindlichen Erzwächter vor dem Phönix-Hof waren, wollte Baleron nicht aufgeben. Er hat nie aufgegeben. Er war zu stolz, musste unbedingt bis zum Schluss bleiben! Baleron hat Raelin und mich weg geschickt. Ich hätte mich geweigert, wenn Raelin nicht gewesen wäre. Und was hat Raelin gemacht?« Wut glomm in ihren Augen. »Er hat sich einfach von mir losgerissen und ist seinem Vater zur Hilfe geeilt!« Rin Narema hob den Kopf und starrte Rin Verran mit unverblümtem Hass an. »Wenn du ihn nicht so oft dazu aufgemuntert hättest, die Regeln zu brechen, hätte er das nicht getan!«
»Was kann ich denn dafür, dass er das getan hat?«, presste Rin Verran hervor, mindestens genauso wütend. »Er wollte seinen Vater retten. Er hat es mir selbst gesagt! Schieb die Schuld jetzt nicht auf mich! Wenn ich an seiner Stelle gewesen wäre...« Er stockte.
»Hättest du das auch getan?«, hakte Rin Narema nach. »Bist du dir da sicher? Du weißt, dass du an seiner Stelle hättest sein können? Wenn du dich daran erinnert hättest, dass Blut dicker als Wasser ist?«
Rin Verran wich ihrem Blick aus. »Wie bist du entkommen?«
»Bao Jenko, dieser Nichtsnutz, hat mich bewusstlos geschlagen und in den Wasserspeicher gezerrt, damit man mich nicht findet. Und damit ich Raelin nicht folge.«
»Bao Jenko?«
»Dein elender Freund aus der Gämsen-Pagode«, zischte Rin Narema. »Baleron hätte ihn nie in den Phönix-Hof lassen sollen!«
»Bao Jenko hat dich gerettet? Er lebt?«
»Gerettet?«, brauste sie auf. »Zu einem Leben auf der Straße hat er mich verdammt! Zu einem Leben, das nicht mehr lebenswert ist! Als alles vorbei war, als der Sonnen-Palast, die Flammen-Halle und alle anderen Gebäude nur noch Asche waren, verließen wir den Wasserspeicher. Ich war immer noch bewusstlos, aber Bao Jenko trug mich. Ich kam in irgendeinem wilden Gebüsch wieder zu mir. Das einzige, was ich bei mir hatte, war meine durchnässte Kleidung und mein Herzstück Silberstrahl. Und das Wissen, dass alle Anhänger der Rin-Gilde tot waren.«
»Raelin hat überlebt. Er wurde nur gefangen genommen.«
»Das habe ich erst Monate später erfahren. Weißt du, wie das ist? Monatelang zu denken, dass dein Sohn tot ist, niedergemetzelt von den Erzwächtern einer anderen Gilde? Und der Schuldige war direkt vor mir. Ich habe Bao Jenko gesagt, dass er abhauen soll, bevor ich ihn töte.«
Rin Verran wäre beinahe zusammengezuckt. Wo ist er jetzt? Die Frage pochte in seinem Kopf, aber er wagte es nicht, sie zu stellen. Genauso wenig konnte er fragen, ob Bao Jenko möglicherweise derjenige gewesen war, der ihm damals den seltsamen Brief geschickt hatte. Dass er versuchen würde ›sie‹ zu retten, aber nichts versprechen konnte. Waren mit ›sie‹ seine Eltern und Rin Raelin gemeint?
»Er floh wie ein Feigling«, zischte Rin Narema. »Ein wahrer Mann hätte seinem Tod ins Auge geblickt und ihn als Strafe mit erhobenem Haupt empfangen. Hätte er mich nicht bewusstlos geschlagen, hätte ich Baleron und Raelin beistehen können!«
»Und wärst mit ihnen gestorben.«
»Na und? Dann wäre ich das halt! Alles wäre besser!«
Rin Verran sah besorgt zu dem Kellner hinüber, der bei Rin Naremas zunehmend lauter werdender Stimme immer wieder in ihre Richtung blickte. Aber er schien höflich genug zu sein, um nicht zu lauschen, und entfernte sich, als er Rin Verrans Blick bemerkte.
»Ich irrte eine ganze Weile durch die Gegend«, fuhr Rin Narema fort, diesmal etwas leiser. »Überall waren Erzwächter der Ghan-Gilde und der Dul-Gilde. Du hast keine Ahnung, was sie getan haben. Den Kodex gab es anscheinend nicht mehr. Sie haben sich genommen, was sie wollten. Und ich? Ich konnte mich nicht zu erkennen geben. Sie würden mich töten. Also versteckte ich mich in der Wildnis und jagte, um nicht zu hungern. Dann fing ich an, umher zu wandern. Auf der Suche nach irgendeiner Möglichkeit, Rache zu nehmen.
Irgendwo an der nördlichen Grenze unseres Territoriums traf ich auf eine Gruppe Krieger aus Ubria. Diese Menschen sind Barbaren. Aber wenigstens verstehen sie nichts von Gilden und konnten so auch nicht wissen, wer ich war. Ich bot ihnen Geld an, viel Geld, wenn sie für mich einen Krieg entfesseln, der die Ghan-Gilde vollständig vernichtet.«
Rin Verran sah sie entsetzt an, aber sie war zu sehr in ihren eigenen Erinnerungen versunken, um das zu bemerken.
»Natürlich hatte ich kein Geld, aber wenn wir erst gesiegt hätten, würde ich genug davon haben. Und natürlich glaubten diese Krieger mir nicht. In Ubria gibt es keine Frauen, die kämpfen. Ich musste ihnen beweisen, was ich konnte, indem ich gegen einen von ihnen antrat. Sein Name war Chevelam, was auf deren Sprache wohl so etwas wie ›aufgehende Sonne‹ bedeutet. Für mich war es eher die hereinbrechende Dunkelheit. Er besiegte mich als wäre ich ein Kind, das noch nie ein Schwert in der Hand gehalten hat.«
Ein Ausdruck von Schmerz legte sich über ihr Gesicht. »Statt mich einfach weg zu schicken, brachen sie mir die Beine und hielten mich gefangen. Silberstrahl nahmen sie mir weg. Ich... war drei Jahre dort.« Sie presste ihre Lippen so fest zusammen, dass sie nur noch ein schmaler Strich waren.
Rin Verran schwieg. Geschockt. Und gleichzeitig hatte er Mitleid. Aber er wusste, dass Rin Narema sein Mitleid nicht annehmen würde. Und dass sie ihm nicht mehr über ihre Zeit bei diesen Kriegern erzählen würde.
»Schließlich konnte ich fliehen.« Ihre Stimme war kaum hörbar. Ein leises Flüstern. »Und jetzt bin ich eine gesichtslose Bettlerin auf der Straße.« Langsam, ganz langsam wanderte ihr Blick wieder zu Rin Verran und bohrte sich in ihn hinein. »Wahrscheinlich denkst du jetzt, dass ich es verdient habe. Du konntest mich noch nie ausstehen.«
Rin Verrans Gesicht verfinsterte sich. »Du bist es, die mich immer ausgeschimpft und abgewiesen hat.«
Rin Narema wandte ihren Blick nicht ab, begegnete seinem mit nichts als Wut. »Warum hätte ich dich genauso behandeln sollen wie Raelin? Du bist nicht mein Sohn!«
»Aber ich hatte nie eine Mutter«, presste Rin Verran mit einiger Mühe hervor. »Nur ein freundliches Wort von dir hätte gereicht!«
»Ein freundliches Wort?« Ihre Stimme überschlug sich fast. »Wie oft habe ich schon freundliche Worte ausgesprochen, die am Ende absolut gar nichts gebracht haben! Wie oft habe ich mein Bestes gegeben, um anderen zu helfen, und dafür nicht mal einen Dank bekommen! Wie oft...« Sie unterbrach sich, starrte einige Sekunden vor sich hin. »Ich habe deinem Vater oft gesagt, dass er die Finger von Mehn Shia lassen soll. Ich habe ihn angefleht! Aber er wollte nicht hören. Und jetzt sieh, was am Ende dabei rausgekommen ist! Ein Bastard, der nicht mal zu seiner Familie steht! Du bist Schuld daran, dass es die Rin-Gilde nicht mehr gibt. Und versuch nicht, es abzustreiten!«
Rin Verran senkte den Blick.
»Ja, ich sehe die Schuld in deinen Augen«, zischte Rin Narema. »Was hat dein Vater dir erzählt, nachdem du von deinem dritten Jahr zurückgekehrt bist? Dass deine Mutter bei deiner Geburt gestorben ist?« Sie lachte auf. »Wenn es so wäre, denkst du, Baleron hätte dich am Leben gelassen? Du wärst Schuld am Tod der einzigen Frau, die ihm je etwas bedeutet hat.«
»Was meinst du damit?«, fragte Rin Verran eisig.
»Mehn Shia ist nicht bei deiner Geburt gestorben. Es war eher so, dass sie direkt nach der Geburt versucht hat, dich umzubringen, und deswegen getötet wurde.«
Rin Verrans Hände verkrampften sich und er presste die Kiefer zusammen. »Was?« Seine Stimme war nur ein heiseres Krächzen.
»Die Wahrheit tut weh, nicht wahr?« Rin Naremas Augen blitzten. »Sie ist mit einem Messer auf dich losgegangen und hat es dir in die Seite gestoßen. Was denkst du denn, woher du die Narbe hast?«
Unwillkürlich tastete er über seine linke Seite. Er hatte diese Narbe seit seiner Geburt. Er dachte, er wäre mit ihr geboren worden, auch wenn alle das offenbar für Schwachsinn hielten. Sogar Dul Arcalla hatte gesagt, dass das unmöglich war.
»Deine Mutter hat dich nicht geliebt. Sie wollte dich so schnell wie möglich loswerden. Aber bevor sie das tun konnte, wurde sie selbst von mehreren Schwertern durchbohrt. Wie eine Wilde hat sie deinen Namen geschrien, bevor ihr Herz endgültig aufhörte zu schlagen. Und du hast überlebt. Deine Wunde war zum Glück nicht tödlich, musste aber trotzdem zugenäht werden. Baleron hat dich nicht aus dem Auge gelassen. Du warst das einzige, was ihm von Mehn Shia geblieben war.«
Ihre Stimme klang bitter. »Ich habe sie so sehr gehasst wie er sie geliebt hat. Er hat für sie sogar sein Herzstück aufgegeben. Nach ihrem Tod stieß er seinen Dolch Schattenkuss in einen Baum und ließ ihn mit ihm verwachsen. Und Mehn Shia wurde zwischen seinen Wurzeln begraben. Ich hätte den Fuchsbaum schon lange abreißen lassen müssen. Oder wenigstens aus Versehen abfackeln. Aber das haben deine Freunde ja jetzt für mich gemacht.«
»Meine Mutter hätte das nie getan«, grollte Rin Verran. »Du lügst. Du hast sie gehasst und versuchst jetzt, mich mit solchen Lügen zu verletzen.«
»Ob du es glaubst oder nicht, ist unwichtig«, zischte Rin Narema. »Wichtig ist nur, dass ich weiß, dass es so war. Mehn Shia hat dich nie geliebt. Sie hat versucht, dich umzubringen, und ist gescheitert. Leider.«
Rin Verran kämpfte gegen den Drang an, die Frau gegenüber von sich am Kragen zu packen und sie gegen die nächste Wand zu schleudern. »Du wünscht dir, ich wäre tot.« Es war keine Frage, sondern eine Feststellung. »Oder dass es mich nie gegeben hätte.«
Rin Naremas Augenbrauen zogen sich zusammen, eine steile Falte bildete sich auf ihrer Stirn, aber sie antwortete nicht.
»Aber du konntest mich nicht töten, weil du damit die Wut meines Vaters auf dich geladen hättest, habe ich recht?«
»Du!« Rin Narema stieß das Wort aus wie einen Fluch, deutete mit dem ausgestreckten Zeigefinger direkt auf seine Brust. »Du!«, wiederholte sie, brachte aber nichts weiter heraus. In ihrem Inneren herrschte pures Chaos. ›Du bist der Grund dafür, dass Raelin so verdorben ist!‹, wollte sie sagen. ›Du hättest an seiner Stelle gefangen genommen werden sollen! Ich wünschte, deine Rolle und die von Raelin wäre vertauscht! Ich wünschte, du wärst mein Sohn und nicht er!‹ Aber wie konnte sie das sagen? Das Gefühl in ihrer Brust wurde immer beklemmender, immer enger und enger, bis sie das Gefühl hatte, keine Luft mehr zu bekommen. »Du bist nur ein Bastard«, brachte sie schließlich mit einer dünnen Stimme heraus, der jede Kraft fehlte.
»Das bin ich wohl«, erwiderte Rin Verran grimmig. »Und gleichzeitig die einzige Person, die dich von der Straße holen kann ohne dass du deinen Tod fürchten musst.«
»Tu nicht so, als würde mein Schicksal dich kümmern.«
Rin Verran sah sie voller Ernst an, stand dann auf und zog sie hinter sich her aus dem Gasthaus hinaus. Sie wehrte sich nicht, stolperte nur alle zwei Schritte und zog sich die Kapuze wieder über den Kopf, sobald sie draußen waren. Vor dem Wagen blieb Rin Narema jedoch wie angewurzelt stehen.
»Wohin fährst du mich?«, fragte sie.
»Dorthin, wo du vorerst in Sicherheit bist«, antwortete er und wusste selbst nicht, warum er ihr auf den Wagen half. Es wäre eine Leichtigkeit, sie einfach auf der Straße zurückzulassen, wo sie vorher auch schon gewesen war. Er hatte keine Ahnung, wie es mit ihr weitergehen sollte. He Baltabek und He Kenje konnten nicht noch eine Person durchfüttern, zumal He Baltabek krank und Rin Narema nicht in einem Zustand war, in dem sie arbeiten könnte. Es schien, als wären die Beine, die die Krieger aus dem Norden ihr damals gebrochen hatten, nicht ganz richtig zusammengewachsen und bereiteten ihr jetzt immer noch Schmerzen. Sie konnte kaum stehen und seufzte erleichtert, als sie sich mit dem Rücken gegen die Holzwand des Wagens lehnen konnte. Rin Verran schwang sich ebenfalls hoch, nahm die Zügel auf und trieb das Pferd an. Hufe klapperten über den Pflasterstein, während sie sich langsam in Bewegung setzten.
»Jetzt schuldest du mir auch noch deine Geschichte«, bemerkte Rin Narema, als sie Dreme durch das Stadttor verlassen hatten. Es war schon später Abend und am Himmel funkelten die Sterne wie zersplitterte Diamanten.
Rin Verran nickte und begann, ihr alles zu erzählen. Sie hörte schweigend zu.
Etwa zur selben Zeit stieg eine dunkle Gestalt auf ihr eigenes gesatteltes Pferd und trabte in einigem Abstand hinter ihnen her. Es war ein Mann, ganz in schwarz gekleidet und mit einem Kapuzenumhang, der sein Gesicht in Schatten legte. An seinem Gürtel hingen ein rotes Band und ein Schwert.
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Oh shit, oh shiiiiiiiiiiit O.o
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