Kapitel 79: Fluss - Teil 1
Schmerz.
Schmerz in seinen Armen und Beinen und an seinem Rücken. An seinem Kopf. Bedeutete Schmerz, dass er lebte? Seine Lungen schmerzten, brannten. Aus einem Impuls heraus hustete Rin Verran, spürte, wie Wasser zurück in seine Kehle rann und drehte sich zur Seite. Hustete erneut. Hustete so lange, bis er heiser war, aber es war eine Erleichterung, wieder frische Luft in seinen Lungen zu spüren. Er schnappte nach ihr. Dann wurde ihm schwindelig und sein Kopf sank hinab in den Schlamm.
Als er das nächste Mal zu sich kam, war ihm kalt. Und es war Nacht. Er konnte, wollte sich nicht bewegen. Jede Bewegung schien ihm mit Schmerz verbunden zu sein. Warum fühlte sein Körper sich so schwer an? Richtig, die Rüstung. Seine Finger zuckten, aber er hatte nicht die Kraft, sich jetzt damit auseinanderzusetzen. Der Schlamm, in dem er lag, schmeckte scheußlich. Er stöhnte benommen.
Irgendwann erschien der erste Schimmer des nächsten Morgens am Horizont. Es wurde immer heller und heller. Warme Sonnenstrahlen wanderten über seinen zerschundenen Körper, aber ihm war immer noch kalt. Er war sich ziemlich sicher, dass er sterben würde, wenn er noch länger hier liegen blieb. Es war nicht gut, im Schlamm am Ufer eines Flusses zu liegen. Jedenfalls glaubte er, dass er das zurzeit tat.
Rin Verran bewegte sich vorsichtig. Erst die Finger, dann die Hände, die Arme. Stechender Schmerz an seinem linken Oberarm. Seine Augen bewegten sich dorthin. Versuchten, zu verstehen, was er sah. Eine verbogene Metallplatte, die von etwas Scharfem in der Mitte aufgerissen worden war. Die Kanten bohrten sich schmerzhaft in sein Fleisch. Blut sickerte hervor. Er musste die Rüstung loswerden.
Mit zitternden Fingern ließ Rin Verran die Schnallen der Armstücke aufschnappen, biss die Zähne zusammen, um nicht aufzuschreien, als er das Metall entfernte. Noch mehr Blut strömte heraus, aber wenigstens war die Ursache für den größten Schmerz weg. Der Rest war auszuhalten. Stück für Stück entledigte Rin Verran sich seiner Rüstung, bis er inmitten eines blutigen Metallhaufens saß, der langsam im Schlamm versank. Sein Körper war übel zugerichtet. Am schlimmsten hatte es seine Beine erwischt. Mit dem über die ganze Länge aufgeschlitzten rechten Unterschenkel würde er keinen Schritt gehen können.
Das erste Mal schaute Rin Verran sich um. Der Knochenbrecher hatte ihn an ein Ufer nördlich des Windlilien-Hangs gespült. Er hatte keine Ahnung, wie er das überlebt hatte. Wahrscheinlich hatte die Rüstung ihm aber das Leben gerettet. Das Wasser war hier so flach, dass man wie ein heruntergefallenes Eichenblatt einfach über die scharfen Felsen und Steine gezogen wurde, die einem den Rücken oder Bauch langsam und qualvoll aufschlitzten. Jeder andere wäre wahrscheinlich verblutet, aber auch jetzt war diese Gefahr noch nicht gebannt.
Die Kiefer fest zusammengepresst, ließ Rin Verran sich zurück in den Schlamm fallen und fing an, langsam vom Flussufer weg zu kriechen. Er wusste nicht, wie viele Entzündungen er sich schon geholt hatte oder wie viel Blut er verloren hatte. Sein Überlebensinstinkt sagte ihm, dass er schnell jemanden finden musste, der ihm half. Gleichzeitig sagte sein Verstand ihm, dass er das nicht tun durfte. Für die ganze Welt war er gestern gestorben, hatte Selbstmord begangen. Er umklammerte Habichtfeder. Er musste sie loswerden.
Keuchend kam er bei der Böschung an, die ein natürliches Hindernis zwischen dem Schlamm und der Grasfläche darüber darstellte. Wahrscheinlich wurde die schlammige Fläche regelmäßig vom Knochenbrecher überflutet. Rin Verran tastete mit einer Hand über die feuchte Erde der Böschung, bis er das fand, wonach er gesucht hatte. Ein Tunnel, den eine Wasserratte gegraben hatte. Natürlich gab es sie hier. Er löste Habichtfeder von seinem Gürtel und stieß sie in das schwarze Erdloch hinein. Niemand würde sie finden außer vielleicht die Wasserratten. Das einzige Risiko bestand darin, dass die Tunnel irgendwann überflutet wurden. Die Klinge würde anfangen zu rosten.
Aber ist das überhaupt noch wichtig?, fragte Rin Verran sich. Ich bin tot. Der Grüne Habicht ist tot. Ich werde nie wieder ein Schwert in die Hand nehmen. Das bringt nur ein Unglück nach dem anderen. Aber was würde er dann tun? Die Zukunft eröffnete sich vor ihm wie ein alles verschlingendes, schwarzes Loch.
Rin Verran krallte sich am oberen Rand der Böschung fest und zog sich hoch. Ein Schmerzensblitz nach dem anderen schoss durch seinen Körper, aber er gab nicht auf. Er mochte es nicht, aufzugeben. Auf halbem Weg nach oben knickte sein rechtes Bein weg. Er fluchte, versuchte es nochmal. Nach dem vierten Versuch wuchtete er sich endlich über die Kante, blieb auf dem Rücken liegen und starrte hinauf in den blauen Himmel. Ein verzweifeltes Lachen entkam seiner Kehle.
Was mache ich hier eigentlich?
Die Wolken zogen so friedlich vorbei als wüssten sie nicht, was gestern geschehen war. Und die Sonne schien fröhlich wie immer. Der ganze Himmel lachte ihn an und er lachte zurück. Sein ganzer Körper kribbelte. Lag es am Blutverlust?
Ich muss weiter.
Mit erheblichem Kraftaufwand drehte er sich auf den Bauch. In einigem Abstand verlief ein Pfad durch das Gras. An seinem Rand lag ein Stock. Den könnte er als Stütze benutzen, um wenigstens ein Stück weiter zu laufen. Rin Verran fixierte den Stock mit seinem Blick und begriff erst nach einer halben Stunde, das er sich kein Stück nach vorne bewegt hatte. Seine Arme und Beine gehorchten ihm nicht mehr. Er bemerkte, wie sein Sichtfeld langsam schrumpfte, bis alles seltsam schwarz war. Und so ruhig.
»Ach du Scheiße!«
Der entsetzte Ruf ließ seine Sinne wieder erwachen. Rin Verran blinzelte mit den Augen, verbrauchte dabei fast alle seine Kräfte. Jemand beugte sich über ihn, drehte ihn zurück auf den Rücken.
»Ach du Scheiße!«, hörte er die Stimme wieder. Sie gehörte einem Mann, ja, eindeutig einem Mann. Einem älteren Mann. Er packte Rin Verran an den Schultern und wollte ihn offenbar über das Gras irgendwo hin ziehen, bis ihm der aufgeschlitzte Unterschenkel auffiel. Kurzerhand änderte er seine Taktik und warf sich Rin Verran über die Schulter. Vor Anstrengung keuchend trug er ihn zu irgendwas. Wahrscheinlich zu einem Wagen. Ein Pferd schnaubte leise und scharrte mit den Hufen.
»Haltet durch, junger Mann.«
Rin Verran konnte nicht mehr antworten. Er hatte wieder das Bewusstsein verloren.
Als er zu sich kam, befand er sich in einem kleinen Raum auf einem Bett. Die Decke und die Wände waren aus Holz. Irgendwo gab es ein Fenster, durch das Licht in die Hütte herein schien. Von draußen ertönte das Schnauben eines Pferdes und das ferne Muhen einer Kuh. Rin Verran versuchte, sich zu bewegen und stellte fest, dass er das sogar ein Stück weit konnte ohne von Schmerzen heimgesucht zu werden. Jemand hatte seine Wunden verbunden. Ein kalter, feuchter Lappen lag auf seiner Stirn, den er unwillig wegschob.
Wo bin ich?
Er spielte mit dem Gedanken aufzustehen, verstand aber, dass das wohl keine so gute Idee war. Also blieb er liegen. Nach einer Weile hörte er Schritte vor der Tür, die sich gleich darauf öffnete. Herein kam eine untersetzte Frau, die etwa sechzig Jahre alt musste. Einige Falten zogen sich durch ihre sonnengebräunte Haut. Die Haare hatte sie mit einem bunten Tuch abgedeckt, um sie vor Staub und anderem Schmutz zu schützen. Sie war offensichtlich eine Bäuerin. Viele Frauen, die auf den Feldern der Feuerkorn-Steppe arbeiteten, trugen solche Tücher. In den Händen hielt sie ein hölzernes Tablett, auf dem ein Teller mit dampfendem Essen und ein Glas Milch stand. Als sie sah, dass Rin Verran die Augen geöffnet hatte und sie ansah, lächelte sie freundlich.
»Ihr seid wach!« Ihre Stimme war etwas rau. Nicht so wie die Stimme der älteren Frauen, die er bisher gehört hatte. Die Bäuerin durchquerte den Raum, stellte das Tablett auf einem Stuhl ab und legte dann den feuchten Lappen zurück auf seine Stirn. »Ihr habt Glück, dass mein Ehemann Euch gefunden und mit nach Hause gebracht hat. Ihr wart kurz vor dem Verbluten. Jetzt esst. Esst und ruht Euch aus.«
Rin Verran sah hinüber zu dem Tablett. Sie hat sich die Mühe gemacht, etwas für mich zu kochen, obwohl ich ein vollkommen Fremder für sie bin. »Ich danke Euch«, brachte er heraus.
Die Bäuerin lächelte mild, antwortete aber nicht, sondern hob den Teller hoch und hielt ihn ihm hin. Rin Verran nahm ihn dankend an und begann zu essen. Es war zerstampfter Kartoffelbrei. Bestimmt hätte Sun Shimei einen Gefallen daran gefunden. Er fragte sich, was jetzt mit ihm passieren würde. Bei dem Gedanken daran wurde ihm schlecht und er begann zu husten.
»Ai, nicht so hastig«, sagte die Bäuerin und klopfte ihm auf den Rücken. »Lasst Euch Zeit. Ihr seid nicht nur fast verblutet, sondern auch fast ertrunken. Der Kieselsteinfluss hat schwere Spuren bei Euch hinterlassen.«
»Der Kieselsteinfluss?«, fragte Rin Verran überrascht. Nur die Menschen auf dem Territorium der Dul-Gilde nannten den Fluss so. Befand er sich nicht auf dem anderen Ufer? Im Territorium der Rin-Gilde?
»Der Fluss, in den Ihr gefallen seid«, erklärte die Frau. »Vielleicht nennt Ihr ihn anders.« Als Rin Verran nicht antwortete, winkte sie mit der Hand ab. »Ist ja auch egal. Wahrscheinlich habe ich Euch verwirrt. Ihr befindet Euch auf der Ostseite des Flusses auf dem Hof meines Ehemannes. Mein Name ist He Kenje.«
Rin Verran fiel auf die Schnelle nicht ein, wie er sich nennen sollte. Seinen richtigen Namen durfte er auf keinen Fall verwenden. Also schwieg er erneut.
He Kenje lachte etwas verunsichert auf. »Ihr braucht Euch nicht vorzustellen, wenn Ihr nicht wollt. Ruht Euch erstmal aus.«
Er nickte dankbar und seufzte auf, als sie das Zimmer verlassen hatte. Von draußen war das Rufen eines Mannes zu hören. Wahrscheinlich fragte He Kenjes Ehemann, wie es dem Mann ging, den er gerettet hatte. Die Antwort hörte Rin Verran nicht. Er aß den Kartoffelbrei zu Ende auf und trank das Glas Milch aus, bevor er erneut an sich herunter sah. Fast sein ganzer Körper war mit Verbänden umwickelt und dort, wo der Verband nicht gereicht hatte, hatte He Kenje einfach nur weißen Stoff benutzt. An einigen Stellen bildeten sich bereits wieder rote Flecken. Wie lange würde es dauern, bis alle Wunden geheilt waren?
Als He Kenje am Abend zurückkehrte, um nochmal nach ihm zu sehen und ihm eine neue Mahlzeit zu bringen, war das auch seine allererste Frage.
»Ai«, sagte sie. »Das weiß ich nicht. Bestimmt ein paar Wochen. Habt Ihr es denn eilig? Müsst Ihr irgendwo hin? Soll mein Ehemann einen Brief aufsetzen, um Bescheid zu sagen, dass Ihr auf Eurer Reise verletzt wurdet?«
»Nein.« Rin Verran schüttelte den Kopf. »Genau genommen bin ich nirgendwohin unterwegs. Ich...« Er stockte. Offenbar dachte das Ehepaar, dass er ein Erzwächter war, was nicht allzu abwegig war. Drückte er sich zu hochgestochen aus? Oder war es ihm anzusehen? Es würde nicht lange dauern, bis die Nachricht über den Angriff auf die Gämsen-Pagode hier ankam – zusammen mit der Nachricht über seinen Tod – und die Bauern eins und eins zusammenzählten. »Ich bin kein Erzwächter«, sagte er deshalb.
He Kenje blinzelte überrascht, lächelte aber. »Dann habe ich mich wohl geirrt. Wer seid Ihr dann?«
»Ein Schmied«, nannte Rin Verran den ersten Beruf, der seinen muskulösen Körperbau erklären könnte. Gleich danach fielen ihm die ganzen Narben ein und er fügte hinzu: »Früher war ich ein Krieger, aber das ist jetzt vorbei.«
Die Bäuerin nickte. »Ihr erinnert mich an meinen Sohn. Er wollte auch immer Krieger werden.«
»Bestimmt seid Ihr stolz auf ihn.«
Ein trauriger Schleier legte sich über He Kenjes Augen. »Ja. Ja, das war ich.«
Rin Verran brauchte einen Moment, um ihre Worte zu verstehen. »Das... tut mir leid.«
Sie nickte wieder und schwieg eine Weile. »Ein Fieber hat ihn dahingerafft, als er siebzehn Jahre alt war«, sagte sie schließlich und deutete mit zitternden Fingern durch das Fenster nach draußen. »Wir haben ihn dort draußen auf dem Hügel begraben. Unter der Eiche. Er mochte es, auf ihr herumzuklettern.«
Rin Verran schaute hinaus und sah einen Grabstein, der sich von der Rinde des Baumes auf dem Hügel abhob. Ein schmerzhafter Knoten bildete sich in seiner Brust. Er wollte sich gar nicht vorstellen, wie diese Frau sich fühlen musste. Wissend, dass sie nichts hätte tun können, um ihrem Sohn zu helfen. Bauern hatten normalerweise nicht genug Geld, um sich einen guten Heiler zu leisten, versuchten es mit den Mitteln, die ihre Eltern einst bei ihnen angewandt hatten. Kräuter und Anrufungen an Geister. Kahna, dachte er. Es tut mir leid, dass ich dich zurückgelassen habe, meine Kleine.
»Es muss schwer sein, sich alleine um den Hof zu kümmern«, sagte Rin Verran. »Ich könnte Euch meine Hilfe anbieten. Als Dank dafür, dass Ihr mir geholfen habt.«
He Kenje beugte sich vor und ergriff eine seiner Hände. Diese Handlung war ungewohnt für ihn, fühlte sich aber gleichzeitig so natürlich an. Taten Mütter das? Rin Narema hatte das nie gemacht, wenn er krank war. Nur Jadna ist bei mir gewesen, dachte er. Sie hat sich um mich gekümmert. Und Raelin. Noch ein Dorn in seinem Herzen.
»Dafür sind mein Ehemann und ich Euch sehr dankbar«, sagte He Kenje und drückte seine Hand. »Unsere alten Knochen sind für schwere Arbeit nicht mehr zu gebrauchen. Aber zuerst kümmern wir uns um Euer eigenes Wohlergehen. Hoffentlich entzünden Eure Wunden sich nicht.« Sie stand auf und deckte ihn zu. »Schlaft.«
»Nehme ich Euch nicht das Bett weg?«, fragte Rin Verran besorgt. »Ich möchte Euch keine Umstände bereiten.«
»Mein Ehemann und ich werden die nächsten paar Tage in der Scheune schlafen«, erklärte die Bäuerin.
Ein schlechtes Gewissen nagte an Rin Verran. »Das kommt nicht in Frage. Ich kann auch in der Scheune übernachten.«
He Kenje schüttelte scheinbar belustigt den Kopf. »Ai, junger Mann. Mit Euren Wunden dürft Ihr nicht in staubigem und kratzigem Stroh liegen. Unsere alten Knochen halten das die ersten paar Tage schon aus. Danach könnt Ihr umziehen.«
»In Ordnung«, gab er nach. »Ich weiß nicht, wie ich mich noch für Eure Hilfe bedanken kann.«
»Wir hätten es für jeden getan, den wir verletzt aufgefunden hätten«, entgegnete He Kenje, nahm das Tablett mit und schloss die Tür hinter sich.
Seid Ihr Euch sicher?, dachte Rin Verran. Wenn He Kenje erfuhr, dass er in Wirklichkeit der Grüne Habicht war, würde sie ihn dann immer noch versorgen? Er hatte nichts getan, als der Phönix-Hof erobert wurde. Und der darauf folgende Raubzug der Erzwächter durch die Feuerkorn-Steppe... Er wollte gar nicht wissen, wie viel dieses Paar dabei verloren hatte. Wie viele Felder gebrannt und wie viel Ernte sie in jenem Jahr verloren hatten.
Seufzend schloss er die Augen und bereitete sich darauf vor, den schlimmsten Albtraum seines Lebens zu träumen. Überall waren Wasser und spitze Steine. Sie schrammten über seine Haut, schlitzten sie auf, bohrten sich hinein, durchschnitten sie. Er konnte nicht atmen. Nach Luft schnappend fuhr er hoch. Es war mitten in der Nacht.
..............................................................................................................................................................................
Wer hoch steigt, der wird tief fallen. Oder aber: An der Spitze des Berges ist es einsam, doch wer hinunterfällt findet Trost in den Armen der anderen Gefallenen.
Willkommen im zweiten Buch :)
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro