Kapitel 77: Verzweiflung - Teil 3
Ghan Edhor schüttelte seine schmerzenden Hände aus, als er mit leicht keuchendem Atem im Zimmer seines Bruders ankam. Wenigstens hatte er es nicht abgeschlossen. Noch nicht. Alle Vorhänge waren zugezogen und nur eine einzige Kerze brannte auf dem Tisch. Ihr flackernder Lichtstein spiegelte sich in Ghan Shedors Augen, der nicht mal den Kopf wandte, um zu sehen, wer herein gekommen war. Vielleicht wusste er auch, dass es jetzt nur noch eine Person gab, die das ohne anzuklopfen tun konnte.
»Shedor«, sprach Ghan Edhor seinen Bruder vorsichtig an. »Was ist in der Versammlungshalle passiert? Warum sind Minue, Mahr Xero und Zao Linn tot? Warum hast du Verran losgeschickt, obwohl...«
»Rin Verran«, unterbrach Ghan Shedor ihn mit zusammengebissenen Zähnen, »hat nichts anderes verdient.«
»Du schickst ihn in den Tod?«
»Ist das so offensichtlich?«
Ghan Edhor zögerte.
»Für dich ist es wahrscheinlich sogar offensichtlich«, fügte Ghan Shedor hinzu. »Schließlich weißt du, dass wir zurzeit nicht die Möglichkeit haben, die Gämsen-Pagode erfolgreich zurückzuerobern. Aber meine Erzwächter denken das. Und mit den Schriften, die Idos uns gebracht hat, wird Vaters Traum von den Kriegsmaschinen ohnehin bald in Erfüllung gehen.«
»›Bald‹ ist etwas übertrieben«, entgegnete Ghan Edhor und runzelte die Stirn. »Es ist noch nichts ausgereift. Ich weiß, wovon ich rede. Aber darum geht es gar nicht. Du musst mir sagen, womit Verran den Tod verdient hat. Er ist mein Freund.«
»Er war dein Freund«, sagte Ghan Shedor kalt. »Ich habe ihn damals nur hergeholt, weil Onkel dachte, er wäre ein guter Leibwächter für mich. Rin Verran müsste uns beiden dankbar dafür sein. Aber stattdessen nennt er Onkel einen Lügner und Verräter und mir dreht er ebenfalls den Rücken zu. Behauptet, die Drachenklauen wären noch nicht ausgelöscht und der Krieg wäre von ihnen provoziert worden. Als würde ich auf solche Lügen reinfallen!«
Ghan Edhors Augen weiteten sich vor Überraschung, die Finger zuckten kurz. Als hätte sein Bruder diese Reaktion bemerkt, drehte er sich nun doch zu ihm um. In seinem Blick lag eine Schärfe, bei der Ghan Edhor nicht anders konnte, als auf seinem Rollstuhl unauffällig ein Stück zurückzuweichen. Der Boden knarrte.
»Stimmt etwas nicht?«, fragte Ghan Shedor.
»Nein, nein, alles gut.« Ghan Edhor lächelte etwas unbeholfen. »Es überrascht mich nur, dass Verran auf einmal solche Lügen erzählt. Ich frage mich, wer ihn auf diese Idee gebracht hat.« Nervös leckte er sich über die Lippen, die ihm mit einem Mal viel zu trocken vorkamen.
»Keine Ahnung.« Ghan Shedor fuhr sich durch die schwarzen Haare und stützte sich mit den Ellenbogen auf den Tisch, bevor er sein Gesicht in den Händen vergrub. »Ich weiß nur, dass ich jemanden wie ihn nicht unter meinen Verbündeten haben möchte. Genau genommen habe ich ihm sogar einen Gefallen getan. Für alle anderen wird es aussehen, als wäre er mir bis zum Tod treu gewesen und hätte sein Leben in dem verzweifelten Versuch verloren, die Gämsen-Pagode für mich zurückzuerobern.«
»In der Tat, ein großer Gefallen.« Ghan Edhors Lippen zuckten, aber das Lächeln wirkte keineswegs echt. »Ich habe gehört, dass er dich noch darum gebeten hat, sich um seine Familie zu kümmern.«
»Ja. Seine Ehefrau und sein Kind können weiterhin im Rothirsch-Turm bleiben. Oder wo auch immer sie wohnen wollen. Es ist mir egal.«
»Was ist mit Arcalla und Rin Raelin?«
Ghan Shedor fuhr zu ihm herum. »Was sollte mit ihnen sein? Sie sind dort, wo sie hin gehören: Im Kerker.«
»Sie gehören auch zu seiner Familie«, sagte Ghan Edhor zögerlich. »Müsstest du sie nicht ebenfalls frei lassen?«
Eine Zornesfalte bildete sich auf Ghan Shedors Stirn. »Sie frei lassen? Nie im Leben!«
»Arcalla ist die Heilerin, die Mutter gepflegt hat, als es ihr nicht gut ging«, hob Ghan Edhor erneut an. »Sie wird keinen Schaden anrichten. Sie... könnte sich vielleicht sogar um mich kümmern. Hol sie vom Rothirsch-Turm zurück und stell sie als meine Dienerin ein. Und Rin Raelin...«
Ghan Shedor stand so plötzlich auf, dass der Stuhl krachend umkippte. Mit den Händen auf dem Tisch abgestützt und den Blick starr auf die Kerzenflamme vor sich gerichtet, schrie er: »Nein!«
Ghan Edhors Mund klappte sofort zu. Sein Gesicht wurde bleich. Im nächsten Moment entspannte Ghan Shedor sich jedoch auf einmal und drehte sich zu ihm um, ging auf ihn zu. In seinen Augen stand eine unsagbare Verzweiflung und Traurigkeit. Er legte Ghan Edhor die Hand auf die Schulter und seufzte.
»Verzeih mir, Bruder. Es ist nur... Meinetwegen kannst du Dul Arcalla als Dienerin haben, aber der Rote Phönix bleibt in seiner Zelle. Zwar hat Gilden-Anführerin Han einst behauptet, wir könnten ihn auf unsere Seite ziehen, aber sie hat sich offenbar geirrt. Wenn wir ihn jetzt frei lassen, wird er keine Sekunde damit warten, die ganze Welt um sich herum in Brand zu setzten. Er brennt auf Rache.«
»Ich verstehe«, sagte Ghan Edhor zögerlich.
»Jetzt lass mich bitte alleine.« Ghan Shedor wandte sich wieder von ihm ab und ging hinüber zum Tisch, stellte den Stuhl auf, setzte sich aber nicht.
Obwohl sein Gesicht abgewandt war, konnte Ghan Edhor erahnen, dass sein Bruder gerade mit den Tränen kämpfte. Und er mochte es nicht, wenn man ihn weinen sah. Ohne ein weiteres Wort rollte Ghan Edhor aus dem Zimmer raus und hörte gleich darauf, wie der Schlüssel im Schloss umgedreht wurde. Wahrscheinlich würde Ghan Shedor sich bis zur Beerdigung von Ghan Minue nicht mehr blicken lassen. Würde alleine in seinem Zimmer trauen, bei geschlossenen Türen und Fenstern, ungestört.
Ghan Edhor selbst beeilte sich, zu seinem Studierzimmer zu kommen. Auf dem Weg dorthin kreuzte er den Pfad mehrerer Erzwächter, die die Bahren mit den Toten davon trugen. Unter einem der Leichentücher hing Ghan Minues Halstuch heraus. Blutdurchtränkt.
»Junger Herr Ghan!«, rief einer der Männer ihm zu und rannte zu ihm.
Gezwungenermaßen hielt Ghan Edhor an. Der Erzwächter, der bei ihm ankam, war Fah Zaromo. Er kannte ihn nur flüchtig, wusste aber, dass er sehr aufmerksam war und auch einen Sinn für Gerechtigkeit hatte. In den Händen hielt er ein Schwert und etwas, das wie ein verbrannter Klumpen aussah.
»Euer Bruder hat nicht gesagt, was mit Mahr Xeros Herzstück geschehen soll«, sagte Fah Zaromo.
»Gebt es mir.« Ghan Edhor nahm das schwere Schwert entgegen und deutete dann auf den Klumpen. »Was ist das?«
»Es war in einer der Feuerschalen. Wahrscheinlich ein Buch«, erklärte der Erzwächter. »Jemand muss es während des Vorfalls oder danach dort rein geworfen haben. Ich weiß allerdings nicht, wem es gehört und die Seiten sind fast alle vollständig verbrannt. Nichts davon ist mehr lesbar. Wollt Ihr es ebenfalls haben?«
»Ja«, sagte Ghan Edhor ohne zu zögern und nahm den schwarzen Klumpen vorsichtig entgegen. Schwarze Asche rieselte auf die Wolldecke, die seine Beine bedeckte, aber er kümmerte sich nicht darum. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass das Schwert fest in der Halterung an der Seite des Rollstuhls befestigt war, setzte er sich wieder ins Rollen.
Im Studierzimmer angekommen, lehnte er die Waffe gegen die nächste Wand und bahnte sich dann vorsichtig einen Weg hinüber zu dem Tisch in der Mitte. Mit weiträumigen Bewegungen schaufelte er die ganzen Zettel, Dokumente und Skizzen von seltsamen Gegenständen zur Seite, um etwas Platz zu schaffen. Dann nahm er vorsichtig das verbrannte Buch in die Hände und legte es auf der Tischplatte ab. Eine Weile betrachtete er es ohne es zu berühren und fuhr schließlich von einer Ecke des Zimmers in die andere. Nach und nach sammelten sich mehrere Glasfläschchen und Phiolen mit Flüssigkeiten neben dem Buch. Daneben mehrere leere Blätter Papier, Pinsel und Schalen. Das letzte, was Ghan Edhor holte, war eine helle Lampe, in der drei Kerzen gleichzeitig brannten.
»Dann wollen wir mal«, murmelte er.
Er krempelte die Ärmel hoch, nahm sich mehrere Phiolen und schüttete eine gewisse Menge verschiedener Flüssigkeiten in die Schale. Dann mischte er alles mit dem Pinsel durch, bevor er mit einer Pinzette langsam anfing, ein Stück verbranntes Papier vom Ledereinband zu trennen, mit dem es offenbar verschmolzen war. Die Seite war vollkommen schwarz und als er sie mit dem Pinsel berührte, fiel sie in sich zusammen. Ghan Edhor seufzte enttäuscht.
»Nicht den Mut verlieren.«
Vorsichtig blätterte er mit der Pinzette die nächste Seite um. Auf der Suche nach einer, die durch das Feuer noch nicht vollständig zu Asche verbrannt worden war. Schließlich fand er eine. Mit einem zufriedenen Nicken verteilte er etwas der zusammengemischten Flüssigkeit auf dem verkohlten Papier und presste dann schnell ein leeres Blatt Papier drauf. Als er es vorsichtig ablöste, waren schwach einige Buchstaben auf der Rückseite zu erkennen. Spiegelverkehrt zwar, aber mit etwas Mühe lesbar. Ghan Edhor runzelte verwirrt die Stirn, legte das Blatt zur Seite und fuhr fort, nach weiteren Buchseiten zu finden, die er auf diese Art wieder lesbar machen konnte.
Stunden vergingen. Draußen war es schon lange Nacht geworden, aber Ghan Edhor blätterte immer noch unermüdlich durch das verkohlte Buch und fertigte Abdrücke an. Nach jeder mehr oder weniger wiederhergestellten Seite in Spiegelschrift, wurde sein Ausdruck düsterer. Es war nicht möglich, das ganze Buch zu retten, aber von dem, was er sich stückweise zusammengereimt hatte...
Mit einem leisen Stöhnen lehnte er sich in seinem Rollstuhl zurück und massierte sich die Schläfen. Sein Blick fiel auf die ausgebreitete Karte am hintersten Tisch, wo immer noch Nadeln mit verschiedenfarbigen Fäden steckten. Dann auf die Broschüre, deren eine Ecke unter dem Haufen an Zetteln herausragte. Vorsichtig zog er sie heraus, blätterte nachdenklich durch die Seiten. Schließlich legte er sie weg, holte tief Luft und fing an, alle Papierblätter, die den gespiegelten Inhalt des verkohlten Buches enthielten, in das brennende Feuer des Kamins zu werfen. Zuletzt folgte das Buch selbst.
Um etwa drei Uhr nachts verließ Ghan Edhor sein Studierzimmer und rollte durch die Gänge und Flure des Krähen-Palastes. Die wachhabenden Erzwächter dachten sich nichts dabei, nickten ihm sogar höflich zu. Es kam oft vor, dass der jüngere Bruder des Gilden-Anführers nachts unterwegs war. Besonders in letzter Zeit verließ er sogar alleine den Krähen-Palast und verschwand in Richtung des westlichen Teils des Silbermistel-Walds. Jetzt war Ghan Edhor jedoch zu einem ganz bestimmten Zimmer unterwegs, das allerdings im dritten Stock lag.
Keuchend kam Ghan Edhor auf der Plattform an, die neben dem Treppenaufgang lag. Er streckte sich nach den Seilen aus, die ihn wie bei einem Flaschenzug nach oben brachten, und zog daran. Normalerweise tat das jemand anderes für ihn, aber seine Arme waren stark genug, um das auch selber hinzubekommen. Oben angekommen band er das Seil an dem dafür vorgesehenen Pfosten fest und holte mehrmals tief Luft, bevor er die Plattform runter und den Flur entlang zu einer bestimmten Tür rollte. Er öffnete sie ohne anzuklopfen und fuhr hinein.
»Amon!«, zischte er in die Dunkelheit hinein.
»Bergkaninchen...«, murmelte jemand im Schlaf, bevor er von einem heftigen Rütteln an der Schulter ganz aufgeweckt wurde. Der Mann setzte sich erschrocken in seinem Bett auf. »Wer da?«
»Ich bin es«, sagte Ghan Edhor, tastete nach den Streichhölzern, die irgendwo auf dem Nachttisch liegen mussten, und zündete damit schließlich die Kerze an. Das Licht fiel auf einen Mann mit sonnengebräunter Haut, der bei der plötzlichen Helligkeit die Augen zusammenkniff und unwillig stöhnte.
»Es ist mitten in der Nacht«, murrte er.
»Es ist wichtig!« Ghan Edhor holte eine Broschüre heraus. Der Titel ›Gesuchte Verdächtige‹ war in großen Buchstaben vorne drauf geschrieben. »Du musst dafür sorgen, dass dieses Büchlein vervielfältigt und dann an alle Dörfer und Städte verteilt wird.«
Lew Amon schien sich allmählich daran zu erinnern, wer eigentlich vor ihm war und nickte eifrig. »Natürlich, natürlich.« Er nahm die Broschüre entgegen und schlug beiläufig die erste Seite auf. Fast hätte er erschrocken aufgeschrien. »Die Drachenklauen?«
»Niemand darf wissen, wer dir den Auftrag dazu gegeben hat«, sagte Ghan Edhor. »Verstehst du? Alles muss geheim bleiben.«
»Aber... Aber...«, stotterte der Künstler. »Habt Ihr nicht mal gesagt, dass niemand wissen darf, dass die Drachenklauen noch nicht ausgelöscht sind? Warum wollt Ihr jetzt auf einmal...«
»Es ist für einen Freund«, erklärte Ghan Edhor. »Wirst du es machen?«
»Ich kann mich Eurem Befehl ja schlecht widersetzen.«
»Es ist kein Befehl«, sagte Ghan Edhor. »Es ist eine Bitte.«
Lew Amon zögerte, kratzte sich nachdenklich an der Nase. Schließlich nickte er aber. »Ich werde mein Bestes geben. In spätestens einem Monat werden die ersten Broschüren in den Dörfern und Städten auftauchen.«
Ghan Edhor nickte ihm dankbar zu. »Auf dich ist Verlass, Amon, danke.«
Er drehte sich um und wollte das Zimmer gerade wieder verlassen, als der Künstler doch nochmal die Stimme erhob: »Wie wird Euer Bruder reagieren?«
Ghan Edhor hielt inne. »Wahrscheinlich wird er denken, dass jemand sich einen Scherz erlaubt hat. Denk daran, dass niemand erfahren darf, woher die Broschüren kommen.«
»Ja, ja, ich denk dran, ich denk dran«, bestätigte Lew Amon und stand sofort auf, um die Broschüre an irgendeinem sicheren Ort in seinem Zimmer zu verstecken. Seltsam, dachte er währenddessen. So blass habe ich den Jungen Herr Ghan noch nie gesehen.
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Ausdrückliche Trigger-Warnung fürs nächste Kapitel.
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